Besser denken: Wie Laufen dem Kopf auf die Sprünge hilft
Schesaplana. So hieß der Berg in den Alpen, auf den ich voriges Jahr gewandert bin. Doch im Gespräch mit Freunden fällt mir der Name nicht mehr ein. Als ich kurz darauf meine Lieblingsrunde jogge, ist der Name plötzlich wieder in meinem Kopf. Zufall? Oder hat das Laufen meinem Gehirn auf die Sprünge geholfen? Eine Reihe von Studien legt dies nahe. So zeigten junge, gesunde Probanden bereits nach sechs Wochen Lauftraining deutliche Verbesserungen in ihrem räumlichen Vorstellungsvermögen. Auch in Tests, die die so genannten exekutiven Funktionen abfragen, schnitten sie besser ab. Das bedeutet: Sie konnten sich besser konzentrieren und ihr Verhalten besser steuern. Der Sportwissenschaftler Ralf K. Reinhardt, der die Studie im Rahmen seiner Doktorarbeit an der Universität Karlsruhe durchführte, erklärte das unter anderem mit Veränderungen im Dopaminstoffwechsel.
Dopamin ist ein wichtiger Botenstoff. Er wird von bestimmten Nervenzellen im Vorderhirn gebildet und sorgt dafür, dass Signale weitergeleitet werden. Der Neurotransmitter ist sowohl an motorischen wie an geistigen und emotionalen Reaktionen beteiligt. Schütten wir viel davon aus, fühlen wir uns gut und setzen eine bestimmte Aktivität eher fort, zum Beispiel Sport oder Lernen. Dopamin wird daher auch als Glücks- oder Motivationshormon bezeichnet. Abgebaut wird der Botenstoff unter anderem durch das Enzym Catechol-O-Methyltransferase, kurz COMT. Es kommt beim Menschen in zwei Versionen vor: Die eine baut Dopamin etwas schneller, die andere etwas langsamer ab. Hat man das Glück, mit der langsamen Isoform ausgestattet zu sein, kann das ausgeschüttete Dopamin länger wirken. Bei bestimmten kognitiven Tests haben solche Personen daher wohl einen Vorteil.
Laufen als Botenstoff-Booster
Unter dem Slogan »Laufen macht schlau!« hat Reinhardt gemeinsam mit dem Psychiater Manfred Spitzer und der Psychologin Sanna Stroth vom Universitätsklinikum Ulm zwei Studien durchgeführt, die ergaben, dass Lauftraining möglicherweise einen genetisch bedingten Nachteil im Dopaminabbau ausgleichen kann. Den Personen mit der schnell abbauenden Enzymvariante stand nach dem Training offenbar mehr Dopamin zur Verfügung, so dass sie in den Tests besser abschnitten als zuvor. Bei Probandinnen und Probanden mit der langsamen Variante fielen die Verbesserungen deutlich bescheidener aus. »Wahrscheinlich arbeiten sie bereits bei optimaler Dopaminkonzentration«, vermutet Reinhardt.
Falls Sie nun überlegen, einen Gentest zu machen, um herauszufinden, ob sich der Trainingsaufwand für Sie lohnen würde: Dopamin ist offenbar nicht der einzige Botenstoff, auf den das Laufen Einfluss nimmt. Zahlreiche Studien stellten fest: Ausdauersport erhöht den Spiegel bestimmter Wachstumsfaktoren, zum Beispiel von BDNF (englisch: brain-derived neurotrophic factor). Dieser sorgt dafür, dass Nervenzellen nachwachsen beziehungsweise am Leben bleiben und neue Verbindungen im Gehirn geknüpft werden. Das Protein wird vor allem im Hippocampus gebildet und spielt eine wichtige Rolle für das Langzeitgedächtnis und das abstrakte Denken.
Vielleicht lässt sich also die Denkfähigkeit durch das Laufen verbessern? Eine Metaanalyse von 55 Studien ergab jedenfalls: Schon nach einer einzigen Sporteinheit stieg die BDNF-Konzentration im Blut um etwa 60 Prozent. Je länger die Einheit, desto stärker fiel der Anstieg aus. Marathonläuferinnen und -läufer müssten also bombastische BDNF-Konzentrationen haben, dachte sich ein deutsch-schweizerisches Forscherteam und nahm rund 50 von ihnen unter die Lupe. Das Ergebnis war ernüchternd: Das BDNF-Level der Langstreckenläufer und -läuferinnen stieg nach dem Rennen nicht wesentlich an, sondern sank sogar. Seinen Tiefpunkt erreichte es nach 72 Stunden. Ist ein Marathon also schon zu viel des Guten, so dass sich das Gehirn danach erst einmal erholen muss? Oder wirkt sich Laufen – womöglich sogar Sport allgemein – gar nicht so positiv auf das Gehirn aus, wie man bisher dachte?
Macht Sport doch nicht schlau?
Das zumindest legt eine Übersichtsstudie vom Frühjahr 2023 nahe. Eine Forschungsgruppe um Luis Ciria von der Universidad de Granada in Spanien stellte darin fest: Es gibt noch keine handfesten Beweise dafür, dass sich regelmäßige körperliche Betätigung vorteilhaft auf die kognitive Leistung gesunder Menschen auswirkt. Ein kausaler Effekt könne nicht belegt, allerdings auch nicht ausgeschlossen werden. Das Team mahnt daher zur Vorsicht bei Behauptungen und Empfehlungen.
»Dass Sport positive Effekte auf das Gehirn hat, ist eigentlich klar«Gerd Kempermann, Neurowissenschaftler
Der Neurowissenschaftler Gerd Kempermann lässt sich davon nicht verunsichern. Er leitet eine Arbeitsgruppe am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Dresden, die sich mit der adulten Neurogenese beschäftigt, also der Neubildung von Nervenzellen im Erwachsenenalter. »Dass Sport positive Effekte auf das Gehirn hat, ist eigentlich klar«, sagt er. Seine Gruppe forscht vor allem mit Tiermodellen, zum Beispiel Mäusen im Laufrad. Doch Studien mit Sport treibenden Menschen hätten dies ebenfalls »sehr überzeugend gezeigt«. In besagter Übersichtsarbeit habe man »vieles in einen Topf geworfen und die Dinge dadurch zu sehr verdünnt«.
Sich auf einzelne Faktoren wie Dopamin oder BDNF zu konzentrieren, findet der Experte wenig zielführend. »Viele picken sich einen Faktor heraus und versuchen, anhand dessen das große Ganze zu erklären.« BDNF sei ein Klassiker. Weil das Molekül die Blut-Hirn-Schranke passieren kann, lässt es sich im Blut nachweisen. Das ist praktisch – erkläre allein aber nicht viel, sagt Kempermann. »Bei fast nichts, was gut ist für das Gehirn, ist BDNF nicht hochreguliert.« In Wirklichkeit passiere vieles gleichzeitig: »Das ist extrem komplex.« Er versucht, die Mechanismen auf zellulärer Ebene zu verstehen. Am Menschen sei vieles noch nicht erforscht und lasse sich auch schlecht untersuchen, sagt er. Schließlich kann man nicht einfach das Gehirn aufschneiden und nachsehen.
Doch zurück zum Laufen: Gibt es einen Grund, weshalb es vorteilhafter für das Gehirn sein sollte als andere Sportarten? Kempermann argumentiert: »Es ist ein sehr natürlicher Bewegungsablauf, der uns in unserer Evolution geprägt hat.« Als Jäger und Sammler legten unsere Vorfahren große Strecken zu Fuß zurück. Oder wie der tschechische Leichtathlet Emil Zátopek sagte: »Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft.«
Warum Laufen den Kopf frei macht
Reicht das wirklich als Begründung aus? Oder sind andere Sportarten genauso förderlich für das Gehirn? »Es deutet nichts darauf hin, dass es nicht so ist«, gibt Sportwissenschaftler Reinhardt zu. Laufen sei schlicht am einfachsten zu untersuchen. Bei anderen Sportarten kommen viele Parameter hinzu, die die Messungen erschweren oder verfälschen könnten, etwa Spielregeln oder spezielle Fähigkeiten, die man mitbringen muss. Laufen ist einfach, quasi überall durchführbar und man braucht dafür keine spezielle Ausrüstung.
Zudem kann man das Tempo frei wählen, ganz im eigenen Rhythmus laufen. Ein Schritt, ein Atemzug, das ist fast schon meditativ. Ist es vielleicht das, was hilft, den Kopf frei zu bekommen und neue Gedanken zu fassen? Mit dieser Fragestellung haben sich Leonard Braunsmann und Vera Abeln von der Deutschen Sporthochschule Köln beschäftigt.
In der so genannten »ClearMind«-Studie untersuchten sie, welchen Effekt eine 30-minütige Laufeinheit auf die Hirnaktivität hat. Vor und nach dem Laufen legten sie den knapp 30 erfahrenen Freizeitläuferinnen und -läufern Elektroden an, die die elektrische Aktivität im Gehirn aufzeichneten. Die Methode ist als Elektroenzephalografie (EEG) bekannt und wird unter anderem zur Diagnose neurologischer Erkrankungen eingesetzt.
Neben regelmäßigen Schwingungen, den Oszillationen, gibt es noch so genannte aperiodische oder nicht oszillatorische Signale. »Früher hat man die beim EEG herausgefiltert, weil man dachte, es sei nur ein Rauschen, das die eigentliche Messung stört«, berichtet Braunsmann, der in seiner Doktorarbeit die neurophysiologischen Auswirkungen körperlicher Aktivität erforscht. Mittlerweile weiß man: Das Rauschen selbst ist ein wichtiges Signal. »Es sagt uns, wie gut die Nervenzellen miteinander in Kontakt stehen«, erklärt der Doktorand. Je mehr Rauschen es gibt, desto schlechter ist die Kommunikation – und entsprechend die kognitive Leistungsfähigkeit. Bekannt ist inzwischen auch, dass bei Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) das neuronale Rauschen erhöht ist.
Je selbstbestimmter, desto besser
Das Spannende: Nach dem Laufen hatte das Rauschen bei den Probanden abgenommen. In kognitiven Tests schnitten sie nun besser ab. Die Abnahme des Rauschens könnte also erklären, weshalb viele Menschen das Gefühl haben, beim Laufen den Kopf frei zu bekommen – und sich danach wieder besser konzentrieren zu können. Der Effekt, den Braunsmann und Abeln beobachteten, hielt mindestens 25 Minuten nach dem Laufen an. »Spätere Zeitpunkte haben wir noch nicht untersucht«, sagen sie. Das sei aber geplant, ebenso wie eine Studie mit ADHS-Patienten und -Patientinnen. »Vielleicht kann das Laufen die Symptome lindern und so eine Erleichterung für die Menschen bewirken«, sagt Vera Abeln.
Mit der ersten Studie, deren Ergebnisse bald veröffentlicht werden sollen, wollte das Forschungsteam außerdem herausfinden, welche Rolle die Selbstbestimmung beim Laufen spielt. Deshalb ließen sie die Probandinnen und Probanden zweimal laufen: Beim ersten Mal durften diese das Tempo selbst wählen, beim zweiten Termin vier Wochen später sollten sie genau das Tempo vom vorigen Mal halten.
Vor und nach dem Laufen erhoben Braunsmann und Abeln auch physiologische Parameter wie die Herzfrequenz und bestimmte Blutwerte. Sie waren nach dem ersten und dem zweiten Lauf nahezu identisch. Fragebogen, die das Wohlbefinden der Teilnehmerinnen und Teilnehmer abfragten, ergaben allerdings: Der zweite Lauf hatte sich anstrengender angefühlt. Das neuronale Rauschen hatte zwar nach beiden Läufen abgenommen und die kognitive Leistung war besser als zuvor, aber: »Nach dem selbstbestimmten Laufen waren die Effekte ausgeprägter«, sagt Braunsmann. Was genau es damit auf sich habe, könne man noch nicht sagen.
»Laufen scheint sich anders auf das Gehirn auszuwirken als andere Sportarten«Vera Abeln, Sportwissenschaftlerin
Und was, wenn man Laufen so gar nicht mag? Lässt sich derselbe Effekt auch mit anderen Sportarten erzielen? Das lasse sich bisher nicht beantworten, sagt Braunsmann. Natürlich komme es auf persönliche Präferenzen an. »Wenn man keine Lust zu laufen hat, ist fraglich, ob man dabei den Kopf frei bekommt.« Aber: »Laufen scheint sich schon etwas anders auf das Gehirn auszuwirken als andere Sportarten«, sagt Abeln, die schon viele Jahre auf dem Gebiet forscht. Bei Triathletinnen und -athleten, die sowohl regelmäßig laufen als auch radeln, habe sie bloß nach dem Laufen eine Reduktion des Rauschens festgestellt. Sie mahnt jedoch zur Vorsicht bei der Interpretation: Bislang habe man nur bestimmte Intensitäten und noch keine große Bandbreite an Sportarten verglichen. »Vielleicht hängt es auch mit der jeweiligen Situation und Verfassung einer Person zusammen«, vermutet Abeln. In jedem Fall sind weitere Studien notwendig.
»Vermutlich ist es leichter, den Kopf frei zu bekommen, wenn man schon viel Erfahrung in einer Sportart hat«, sagt Braunsmann. Anfangs sei man sehr mit der Ausführung beschäftigt, beim Laufen sind das Dinge wie: Wie schnell laufe ich? Wie trete ich auf? Passen meine Schuhe? Später könne man besser »loslassen«. Dafür spricht unter anderem eine kleine Studie mit professionellen Handbikern: Bei ihnen konnten Abeln und ihr Team einen ähnlich starken Effekt feststellen wie bei einer laufenden Vergleichsgruppe.
Eine andere Theorie ist: Beim Laufen – oder allgemein beim Sporttreiben – werden bestimmte Bereiche des Gehirns, genauer: im präfrontalen Kortex, gedämpft oder aktiviert, so dass jeweils anderen Arealen mehr Ressourcen zur Verfügung stehen. Das könnte das »Kopf frei«-Gefühl und eine verbesserte kognitive Leistung ebenfalls erklären – allerdings sind die Ergebnisse recht heterogen. Es hängt offenbar stark von Sportart und Intensität ab. Womöglich ist es auch schlicht eine verbesserte Durchblutung des Gehirns, die einem beim Laufen manchmal eine gute Idee beschert und danach konzentrierter arbeiten lässt.
Auch wandern oder spazieren gehen hilft
Wie schnell oder lange muss man überhaupt laufen, um einen Effekt erwarten zu können? Und: Zählt auch spazieren gehen? »Grundsätzlich ist jede Art von körperlicher Aktivität positiv«, sagt Abeln. Wie hoch der Input sein muss, hängt wohl unter anderem davon ab, was man gewohnt ist. »Bei einer sonst inaktiven Person hat Spazierengehen sicherlich einen Benefit.« Bei jemandem, der bereits regelmäßig Sport treibt, bewirkt es vermutlich weniger. »Um eine Anpassungsreaktion zu erzielen, braucht es einen gewissen Trainingsreiz«, erklärt Abeln.
Eine solche Anpassungsreaktion führt unter anderem dazu, dass das Gehirn neurotrophe Faktoren wie BDNF ausschüttet. Eine gewisse Intensität ist also schon notwendig. Die lässt sich – je nach Kondition und Gesundheitszustand – jedoch ebenso mit Walken oder Wandern erreichen. »Wandern ist eine tolle Sportart. Sie verbindet körperliche Aktivität mit einem Erlebnis in der Natur. Häufig ist auch noch eine soziale Komponente dabei. Alles zusammen kann sehr positive Effekte haben«, sagt Neurowissenschaftler Kempermann.
Macht es eigentlich einen Unterschied, ob man draußen oder drinnen, etwa auf dem Laufband, läuft oder geht? Vermutlich schon. Zum einen ist die Bewegung natürlicher. Auf einem Laufband muss man zunächst lernen, sich auszubalancieren. Zum anderen könnten Mittrainierende, unerwünschte Musik und andere Faktoren in einem Fitnessstudio es erschweren, den Kopf frei zu bekommen, sagt Braunsmann. Man fühle sich vielleicht eher fremdbestimmt. »Je natürlicher das Setting, desto besser«, vermutet er. Das sei aber noch durch weitere Untersuchungen zu belegen. Bewiesen ist hingegen bereits: Allein der Aufenthalt in der Natur fördert Wohlbefinden, Kreativität und Denkvermögen.
Unser Gehirn braucht Bewegung
Auch wenn die Mechanismen dahinter sowie ihr Zusammenspiel noch nicht bis ins Detail verstanden sind, steht für Gerd Kempermann fest: Das Gehirn braucht möglichst vielseitigen Input. »Eine rein sitzende Tätigkeit, kombiniert mit reduziertem Input geistiger Art, lässt es sozusagen verkümmern«, sagt er. Fast alle Informationen, die es empfängt und verarbeitet, haben im Prinzip dieselbe Konsequenz. Über so genannte Motoneurone steuert das Gehirn die Muskeln an. Oder in Kempermanns Worten: »Alles, was das Gehirn nach außen geben kann, ist Bewegung.« Aus der (umstrittenen, weil teils etwas überschätzten) Spiegelneuronenforschung weiß man: Selbst wenn wir uns bestimmte Aktivitäten nur vorstellen, sind dieselben Hirnareale aktiv, wie wenn wir uns tatsächlich entsprechend bewegen.
Demnach müsste man die Frage also vielleicht andersherum formulieren. Nicht: Macht Laufen (beziehungsweise Gehen) schlauer? Sondern: Werden wir dümmer, wenn wir es nicht tun? Die Antwort lautet vermutlich: Ja. Dafür sprechen unter anderem große epidemiologische Studien. Unter den Risikofaktoren für Alzheimer, auf die wir selbst Einfluss haben, ist Bewegungsmangel der entscheidendste, zumindest in den USA und Europa. Also, ich gehe jetzt eine Runde laufen.
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