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Haut: Jucken. Kratzen. Jucken.

Er kann Menschen in den Wahnsinn treiben: chronischer Juckreiz. Was löst diese quälende Empfindung aus, und wie kann man sie lindern?
Eine Frau kratzt sich am Rücken. Sie trägt ein graues Top und blickt vom Betrachter weg..
Sobald man an einer juckenden Hautstelle kratzt, beginnt oft ein Teufelskreis: Nach kurzzeitiger Linderung kehrt der Juckreiz meist noch intensiver zurück.

Simone Herzinger kann sich noch genau an den Anfang ihres Leidenswegs erinnern. Es war an einem Julimorgen 2019, als plötzlich zwei oder drei kleine Stellen an ihrem rechten Oberarm intensiv zu jucken begannen. »Das war schlimmer als bei einem Mückenstich«, sagt sie. »Ich war gerade mit meinem Mann im Urlaub in Griechenland gewesen, daher dachte ich erst einmal, ich hätte mir dort vielleicht einen Pilz eingefangen.«

In den folgenden zwei oder drei Wochen dehnte sich das Jucken immer weiter aus. Schließlich waren beide Arme sowie der obere Rücken- und Brustbereich betroffen. »Ich war dann bei verschiedenen Hautärzten und sogar in der Uniklinik«, erinnert sich die Niederbayerin. »Dort hat man alles Mögliche probiert: Kortison, Tabletten, Chilisalbe, bestimmt fünf oder sechs Lichttherapien. Aber gebracht hat das alles nichts.«

Die 49-Jährige hatte sich inzwischen komplett wund gekratzt. Im Bett trug sie Handschuhe, um ihre Haut nicht weiter zu malträtieren. »Es hat 24 Stunden am Tag gejuckt, monatelang«, erzählt sie. »Irgendwann kam mir sogar der Gedanke, meinem Leben ein Ende zu setzen, wenn mir nicht bald jemand helfen würde.«

Kalte Dusche um Mitternacht

Juckreiz kann spontan auftreten und dann rasch wieder abklingen, etwa nach einem Mückenstich. Er kann jedoch auch lange anhalten, manchmal über Jahre. Besteht der Pruritus (so der medizinische Fachbegriff) länger als sechs Wochen fort, wird er als chronisch bezeichnet. Studien zufolge sind mehr als 20 Prozent aller Menschen in Deutschland zumindest einmal in ihrem Leben von dieser lang anhaltenden Form betroffen.

Viele von ihnen empfinden das ständige Jucken als äußerst quälend. Häufig plagt es sie gerade nachts am stärksten und erschwert das Einschlafen; tagsüber sind sie dann ständig müde. Auch Herzinger habe ihre Tätigkeit als selbstständige Friseurin aufgeben müssen, so erschöpft sei sie gewesen. »Ich habe nachts unter der kalten Dusche gestanden, um meine Haut zu beruhigen«, sagt sie.

»Selbst in ihrem engsten Umfeld treffen Betroffene mitunter auf wenig Verständnis«Sonja Ständer, Dermatologin am Universitätsklinikum Münster

Viele Betroffene entwickeln langfristig weitere Beschwerden wie etwa Depressionssymptome. Und noch etwas erhöht den Leidensdruck: Häufig werden Menschen mit Hautkrankheiten von ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt. »Selbst in ihrem engsten Umfeld treffen sie mitunter auf wenig Verständnis«, erklärt die Dermatologin Sonja Ständer vom Universitätsklinikum Münster. »Im Gegenteil: Der Partner oder die Partnerin fühlt sich durch das ständige Kratzen eher gestört.«

Juckreiz als Stigma

Menschen mit Juckreiz treffen häufig auf wenig Mitgefühl, im Gegenteil: Oft werden sie von ihrem Umfeld stigmatisiert. Sonja Ständer vom Universitätsklinikum Münster macht dafür vor allem Unwissen und falsche Vorstellungen in der Bevölkerung verantwortlich. »Wenn sich jemand dauernd kratzt, denken viele Menschen, dass Läuse, Milben oder Flöhe daran schuld sind«, sagt sie. »Sie haben dann Sorge, sich anzustecken, und bleiben lieber auf Abstand.« Dieselbe Befürchtung gebe es auch für Hauterkrankungen, in der Regel völlig zu Unrecht. Zudem werde Juckreiz häufig mit psychischen Problemen assoziiert, beispielsweise zwanghaften Verhaltensweisen – noch ein Grund, warum die Personen oft gemieden werden.

»Die Stigmatisierung bedeutet für die Betroffenen eine zusätzliche große Belastung«, erklärt Elke Weisshaar, Professorin für Dermatologie am Universitätsklinikum Heidelberg. »Viele von ihnen fühlen sich im Beisein anderer unwohl und befürchten, in ihrer Gegenwart Kratzattacken zu bekommen.« Manche Menschen mit Pruritus entwickeln daher soziale Ängste und ziehen sich komplett zurück.

Bei Schmerzen gibt es ein solches Stigma nicht: Wer sich den Knöchel verstaucht, kann mit Hilfsangeboten und mitfühlenden Bemerkungen rechnen – wer sich ständig kratzt, dagegen nicht. Diese Ungleichbehandlung gibt es möglicherweise schon bei Nagetieren. So helfen Mäuse einem verletzten Artgenossen, indem sie seine Wunde lecken und Kopf und Körper sanft mit ihrer Schnauze berühren, ganz so, als wollten sie ihn beruhigen. Gegenüber einer Maus mit Juckreiz verhalten sie sich hingegen ganz anders, wie der US-Dermatologe Brian Kim kürzlich zeigen konnte: Sie gehen ihr aus dem Weg. Mäuse meiden ihm zufolge sogar Videos von Nagern, die sich kratzen. Allerdings sind Kims Ergebnisse bislang weder veröffentlicht noch wurden sie von anderen Arbeitsgruppen bestätigt. Sollten sie sich bewahrheiten, würde das bedeuten, dass Juckreiz selbst im Tierreich zu Ausgrenzung führt.

Ständer erforscht seit 2018 in einem deutschlandweiten Verbundprojekt, wie solche Hautirritationen entstehen und auf welche Weise sie sich therapieren lassen. Zudem leitet sie am Universitätsklinikum Münster das Kompetenzzentrum chronischer Pruritus, das auf die Behandlung von Patienten und Patientinnen mit lang anhaltendem Juckreiz spezialisiert ist. Dort, fast 800 Autokilometer von ihrem Wohnort entfernt, fand schließlich auch Simone Herzinger Hilfe: 15 Monate nach Auftreten der ersten Symptome erkannten die Münsteraner Ärztinnen und Ärzte, dass sie unter einem Bandscheibenvorfall der Halswirbelsäule leidet.

Ursache des Juckens sind die durch den Vorfall verursachten Nervenschädigungen, daher sprechen Expertinnen und Experten in solchen Fällen von »neuropathischem Juckreiz«. Eine Operation kam für die Niederbayerin auf Grund der damit verbundenen Risiken nicht in Frage. Stattdessen verschrieb man ihr Naltrexon. Das Medikament wird normalerweise zur Behandlung von Entzugserscheinungen bei einer Drogensucht eingesetzt. Es hilft jedoch auch bei bestimmten Formen von chronischem Juckreiz. Dank der Tabletten ist Herzinger inzwischen beschwerdefrei.

»Wir haben immer noch viel zu wenig zugelassene Medikamente gegen chronischen Juckreiz«Sonja Ständer, Dermatologin am Universitätsklinikum Münster

Naltrexon ist für die Pruritus-Therapie eigentlich gar nicht zugelassen. »Wir kennen inzwischen einige Medikamente, die neben ihrem eigentlichen Anwendungsgebiet auch gegen Jucken wirken«, erklärt Sonja Ständer. »Sie wurden für diesen Zweck jedoch nie in Studien getestet. Ich würde mir deutlich mehr klinische Prüfungen mit diesen Wirkstoffen wünschen, da wir immer noch viel zu wenig zugelassene Medikamente gegen chronischen Juckreiz haben.«

In der medizinischen Forschung fristete der Pruritus lange ein Mauerblümchen-Dasein. Möglicherweise liegt das daran, dass selbst Ärzte das Kribbeln, Stechen oder Brennen nicht ernst nahmen. Es galt als zwar lästiges, aber sonst eher zweitrangiges Symptom. So legten frühe Forschungsergebnisse nahe, dass bestimmte Reize bei hoher Intensität als Schmerz, in schwacher Form dagegen als Jucken wahrgenommen werden. Pruritus wäre demzufolge ein leichter Schmerz, nicht mehr.

Juckreiz ist keine leichte Form von Schmerz

»Diese so genannte Intensitätstheorie war in unserem Feld über Jahrzehnte populär«, sagt Martin Schmelz, Professor für experimentelle Schmerzforschung an der Universitätsmedizin Mannheim. »Sie ist aber nicht korrekt – dafür gibt es inzwischen zahlreiche Belege.« Klar ist allerdings, dass zumindest manche Arten von Juckreiz durch aktivierte Schmerzrezeptoren ausgelöst werden. Ob wir das als Schmerz oder als Jucken empfinden, entscheidet sich erst später, im Rückenmark und im Gehirn. Doch wovon hängt das ab, wenn nicht von der Reizstärke?

Vermutlich spielen dabei die Aktivierungsmuster der Nervenzellen eine entscheidende Rolle. »Mal angenommen, Sie kommen in Kontakt mit Glaswolle. Die scharfkantigen Fasern reizen sehr viele Rezeptoren in Ihrer Haut, allerdings nur ganz lokal, in Form vieler kleiner Pikser«, erklärt Schmelz. »Dazwischen liegen Rezeptorzellen, die nicht aktiviert werden. Dieses Muster interpretiert das Rückenmark als Jucken.« Anders ist es, wenn wir uns die Knie aufschlagen: Dann kommt es zu einer flächigen Aktivierung sämtlicher Rezeptoren in dem betroffenen Bereich, was wir als Schmerz wahrnehmen.

Die Unterscheidung ist auch sehr sinnvoll: Wenn ein Insekt über unsere Haut krabbelt, dann juckt das und wir kratzen den möglichen Parasiten weg. Bei einer Schürfwunde wäre das aber nicht sinnvoll. Selbst ein Nadelstich führe noch zu vergleichsweise großflächigen Aktivierungsmustern, betont Schmelz. Die Muster- oder Kontrasttheorie erklärt zudem, warum manche Tumoren mit Juckreiz einhergehen können: Einzelne Krebszellen siedeln sich bisweilen in die Haut ab und reizen dort lokal Nervenenden.

Spezialfall Mückenstich

Es gibt allerdings auch Neurone, deren Reizung ausschließlich Juckreiz auslöst. Wenn wir beispielsweise von einer Mücke gestochen werden oder eine Brennnessel berühren, schütten bestimmte Zellen in der Haut Histamin aus. Dieser Entzündungsbotenstoff aktiviert spezifische Nervenenden, die mechano-insensitiven C-Fasern, deren Signale dann über das Rückenmark zum Gehirn gelangen. Man könnte die C-Faser-Neurone demnach auch als Juckzellen bezeichnen. »Wir sprechen von einer ›labelled line‹, also einem eigenen Signalweg für histaminabhängigen Pruritus«, sagt Martin Schmelz.

Das Brennen oder Kribbeln ist in dem Fall Folge einer lokalen Reaktion auf das freigesetzte Histamin. »Die Symptome halten in der Regel ein paar Minuten oder maximal einige Stunden an«, erklärt die Heidelberger Dermatologin Elke Weisshaar. Ausnahme sind Mückenstiche, die auch nach Tagen noch jucken können – warum, weiß man nicht so genau. Vermutlich enthält der Speichel der Insekten Substanzen, die längere Zeit aktiv bleiben und immer wieder die Histaminausschüttung anregen.

Der Juck-Kratz-Zyklus | Juckreiz beginnt in der obersten Hautschicht (Epidermis) und an der Grenze zur darunterliegenden Schicht (Dermis). Der auslösende Reiz wird von speziellen Nervenfasern übertragen, den juckreizsensitiven C-Fasern. Manche von ihnen reagieren auf den Botenstoff Histamin, der etwa bei Insektenstichen freigesetzt wird. Die meisten C-Fasern sind allerdings unempfindlich für den Stoff. Ein komplexes Zusammenspiel von verschiedenen Zellen des Immunsystems (wie T-Zellen, Mastzellen, Neutrophilen und Eosinophilen) mit Haut- und Nervenzellen intensivieren den Juckreiz, insbesondere nach dem Kratzen. Sie kommunizieren miteinander über kleine Moleküle, so genannte Zytokine, Proteasen und Neuropeptide. Die C-Fasern führen ins Rückenmark, von wo das Juckreizsignal über spezielle Bahnen ins Gehirn gelangt. Dort aktiviert es Hirnregionen, in denen die Empfindung emotional bewertet und abgespeichert wird sowie der Impuls zum Kratzen entsteht.

Chronischer Juckreiz wird dagegen praktisch nie auf diesem Weg ausgelöst. So geht die Hauterkrankung Neurodermitis fast immer mit quälendem Jucken einher, das jedoch nicht auf Antihistaminika anspricht. »Das gilt auch für andere Arten von chronischem Pruritus«, sagt Sonja Ständer vom Universitätsklinikum Münster.

Normalerweise verschwindet das Jucken zumindest kurzzeitig, wenn wir uns kratzen. Denn dabei reizen wir in der betreffenden Hautstelle die Rezeptoren großflächig. Dadurch erzeugen wir eine leichte Schmerzempfindung, die den Juckreiz unterdrückt. »Gleichzeitig wird das Belohnungssystem aktiviert – wir empfinden es also als angenehm, wenn das Jucken nachlässt«, erklärt Ständer. Auch deshalb können Patientinnen und Patienten mit chronischem Pruritus kaum davon ablassen, ihre Haut zu malträtieren.

Fataler Teufelskreis

Bei wiederholtem Kratzen kann der Juckreiz langfristig aber sogar noch zunehmen. Es entsteht ein unheilvoller Teufelskreis, der Juck-Kratz-Zyklus. Ständer hat kürzlich zusammen mit Kollegen und Kolleginnen gezeigt, dass sich die Nervenstruktur in den betroffenen Hautpartien verändert: Die Zahl der Nervenfasern nimmt ab, dafür verzweigen sie sich aber deutlich häufiger. Möglicherweise werden sie dadurch für auslösende Reize empfindlicher. »Das hat auch Auswirkungen auf die Weiterverarbeitung im Rückenmark«, sagt die Wissenschaftlerin. Dort ändert sich zum Beispiel die Zahl der Rezeptoren für Juckreiz-Botenstoffe. Ständiges Kratzen setzt folglich komplexe Umbauprozesse in Gang, wodurch sich die Missempfindung gewissermaßen selbst erhält.

Lange Zeit war es ein ungelöstes Rätsel, wie jener chronische Pruritus genau entsteht, der nicht auf Antihistaminika anspricht. Inzwischen weiß man jedoch, dass dabei in vielen Fällen bestimmte Entzündungsbotenstoffe eine zentrale Rolle spielen: die Interleukine. Davon gibt es ganz unterschiedliche Varianten. Bei Neurodermitis etwa sind vor allem Interleukin-4, Interleukin-13 und Interleukin-31 für die quälende Hautirritation verantwortlich.

»Diese Arzneien haben die Behandlung von chronisch-entzündlichen Hauterkrankungen revolutioniert«Martin Schmelz, Professor für experimentelle Schmerzforschung, Universitätsmedizin Mannheim

Antikörper wie Dupilumab, Lebrikizumab oder Nemolizumab blockieren die Wirkung dieser Botenstoffe. In Tablettenform gibt es sie nicht – sie würden die Reise durch den Magen-Darm-Trakt nicht überstehen. Stattdessen werden sie gespritzt und sorgen dann rasch dafür, dass das Jucken nachlässt oder ganz verschwindet. Ähnlich funktionieren die so genannten Januskinase-Inhibitoren; dazu zählt etwa der Arzneistoff Abrocitinib. Die Mittel hemmen ein Enzym, das normalerweise durch Interleukine angeschaltet wird und bei der Auslösung des Juckreizes mitwirkt. Sie unterbrechen zudem den Juck-Kratz-Zyklus und unterbinden damit auch die sekundären Veränderungen, die die Empfindung noch quälender machen. »Diese Arzneien haben die Behandlung von chronisch-entzündlichen Hauterkrankungen revolutioniert«, betont Martin Schmelz.

Nemolizumab und Dupilumab wirken sogar gegen die besonders schwer zu therapierende Prurigo nodularis. Bei ihr entwickeln sich in der Haut zahlreiche unerträglich juckende Knötchen. »Wir haben nun mit diesen Wirkstoffen erstmals etwas in der Hand, das das teils jahrzehntelange Leiden vieler Betroffener beendet«, sagt Sonja Ständer. Dupilumab ist inzwischen zur Behandlung verschiedener Erkrankungen zugelassen, die mit Juckreiz einhergehen.

Interleukin-Blocker sind allerdings kein Allheilmittel. Bei neuropathischem Juckreiz, also der Variante, die auf Nervenschädigungen beruht, wirken sie in der Regel nicht. Naltrexon, das Medikament, das Simone Herzinger seit einigen Jahren nimmt, greift stattdessen an einer ganz anderen Stelle an: den μ-Opioidrezeptoren. Diese sitzen auf der Oberfläche von Nervenzellen – in der Haut, im Rückenmark und im Gehirn. Werden sie aktiviert, sorgt das dafür, dass wir Schmerzen nicht mehr so stark wahrnehmen. Gleichzeitig befördert das aber die Entstehung von Juckreiz. Das ist ein Grund, warum etwa eine Schmerzbehandlung mit Morphium zu starkem Jucken führen kann. Naltrexon blockiert die μ-Opioidrezeptoren und mildert so diesen Nebeneffekt.

Ansatzpunkt für neue Juckreiz-Stiller

Außerdem gibt es noch die so genannten κ-Opioidrezeptoren. Sie unterdrücken Juckreiz, wenn sie aktiviert werden, und gelten daher als wichtiger Ansatzpunkt für neue Pruritus-Medikamente. Dazu zählt beispielsweise der bereits zugelassene Wirkstoff Difelikefalin. Er hilft einer Gruppe von Betroffenen, die bislang nur sehr schwer zu therapieren waren: Menschen, die sich auf Grund eines Nierenschadens regelmäßig einer Dialyse unterziehen müssen. Es ist unklar, wieso sie häufig unter chronischem Juckreiz leiden, der oft den gesamten Körper betrifft. Vermutlich spielt dabei eine Fehlregulation des Opioidsystems eine Rolle. So sind bei manchen Dialysepatientinnen und -patienten die μ-Opioidrezeptoren hoch- und die κ-Opioidrezeptoren gleichzeitig herunterreguliert.

»Generell haben wir bei Pruritus zwei Möglichkeiten, therapeutisch einzugreifen«, erklärt Sonja Ständer: »Entweder unterbinden wir je nach Erkrankung spezifisch die Mechanismen, die den Juckreiz hervorrufen. Oder wir hemmen ganz allgemein die Weiterleitung der Jucksignale über das Rückenmark ins Gehirn.« Wirkstoffe, die die κ-Opioidrezeptoren stimulieren, tun Letzteres. Vielleicht eignen sie sich daher auch gegen andere Arten von Pruritus. »Es gibt Formen von Juckreiz, die wir einfach noch zu wenig verstehen«, sagt Ständers Kollege Schmelz. Bei Nieren- oder bestimmten Lebererkrankungen etwa würden nur manche Betroffene über starken Pruritus klagen, andere dagegen nicht. Warum das so ist, sei unklar. Deshalb gebe es hier keine klare Behandlungsstrategie; man müsse ausprobieren, was funktioniert.

Chronischer Juckreiz kann sogar ausschließlich durch psychische Faktoren ausgelöst werden. »Bei den Betroffenen lässt sich gar keine körperliche Ursache feststellen«, erklärt Astrid Stumpf, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Münster. »Wir sprechen in diesem Fall von somatoformem Juckreiz.« In vielen Fällen kann dann eine Psychotherapie helfen. »Darin versuchen wir, die psychischen Hintergründe zu verstehen«, sagt Stumpf. So können sich beispielsweise massive Probleme in der Partnerschaft oder am Arbeitsplatz und die damit verbundene Anspannung in einem psychischen Jucken entladen. »Indem wir gemeinsam mit den Betroffenen solche Ursachen identifizieren, können wir auch mögliche Gegenmaßnahmen finden – etwa Probleme offen anzusprechen, um dadurch Änderungen im privaten oder beruflichen Bereich herbeizuführen.«

Ansteckendes Kribbeln

Wenn wir sehen, wie sich jemand kratzt (oder wir vielleicht auch nur wie hier über Juckreiz lesen), dann kann das dazu führen, dass plötzlich unsere eigene Haut zu kribbeln beginnt. Mit dem Juckreiz ist es also wie mit dem Gähnen: Er ist ansteckend. Das scheint sogar bei Mäusen so zu sein, wie eine US-amerikanische Studie 2017 demonstrierte: Die Nager begannen sich häufig zu kratzen, wenn sie kurz zuvor einen Artgenossen bei dieser Tätigkeit beobachtet hatten. Womöglich ist das eine Präventivstrategie, um Parasitenbefall vorzubeugen.

Unumstritten ist die Beobachtung zwar nicht, aber die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben kürzlich eine weitere Studie dazu nachgelegt. Darin bestätigen sie das Phänomen nicht nur, sondern identifizieren sogar neuronale Schaltkreise im Gehirn, die für die »Ansteckung« verantwortlich sein könnten. Interessanterweise scheint die Großhirnrinde nicht daran beteiligt zu sein. Stattdessen existiert offenbar eine direkte Leitung von speziellen lichtempfindlichen Zellen im Auge zum suprachiasmatischen Kern im Hypothalamus. Diese evolutiv gesehen sehr alte Hirnregion löst dann bei der beobachtenden Maus das Kratzen aus. Eventuell zeigt das, dass sich die vorbeugende Maßnahme gegen Hautschmarotzer bereits sehr früh herausgebildet hat, sogar schon vor der Entwicklung des Großhirns.

Doch selbst wenn eine Störung der Leberfunktion, ein Bandscheibenvorfall oder ein Hautleiden der Auslöser ist, hilft es vielen Betroffenen, wenn sie während der Behandlung psychotherapeutisch begleitet werden. »Ein zentrales Anliegen solcher Angebote ist Psychoedukation«, sagt Stumpf. Die Patienten und Patientinnen erhalten dabei allerlei Informationen über ihren Pruritus: Weshalb juckt es überhaupt? Was kann ich dagegen tun? Warum ist es besser, die Haut zu drücken oder zu kühlen, anstatt sich zu kratzen?

Aufklärung hilft den Betroffenen nicht nur dabei, sich zusammenzureißen und die Haut nicht zusätzlich zu schädigen. Sie lindert auch Ängste. Denn wer besorgt und gestresst ist, neigt dazu, viel mehr in sich hineinzuhorchen. So nimmt man den Juckreiz stärker wahr und kratzt sich mehr. Allein der Gedanke an das Hautkribbeln kann ebendiese Empfindung auslösen. Astrid Stumpf kennt das Phänomen aus eigener Erfahrung: »Ich habe eine Weile an der Hautklinik in Münster Kurse für Menschen mit Pruritus gegeben«, sagt die Privatdozentin. »In dieser Zeit hat es mich auch ständig gejuckt.«

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  • Quellen

Renkhold, L. et al.: Scratching increases epidermal neuronal branching and alters psychophysical testing responses in atopic dermatitis and brachioradial pruritus. Frontiers in Molecular Neuroscience 16, 2023

Schmelz, M.: How do neurons signal itch? Frontiers in Medicine 8, 2021

Ständer, S. et al.: Trial of nemolizumab in moderate-to-severe prurigo nodularis. New England Journal of Medicine 382, 2020

Stumpf, A. et al.: Psychosomatic and psychiatric disorders and psychologic factors in pruritus. Clinics in Dermatology 36, 2018

Weisshaar, E.: Epidemiology of itch. In: Szepietowski, J., Weisshaar, E. (Hg.): Current problems in dermatology. S. Karger AG, 2016, S. 229–235

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