Kachowka-Staudamm: »Wir sehen eine ökologische Katastrophe riesigen Ausmaßes«
Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms sind weite Landstriche in der Südukraine überschwemmt. Hunderte, möglicherweise tausende Häuser wurden überflutet, zehntausenden Menschen droht der Verlust ihrer Heimat. Die Katastrophe, für die sich die Konfliktparteien gegenseitig verantwortlich machen, hat auch weit reichende Folgen für Landwirtschaft und Ökologie im Süden der Ukraine. Regierungsvertreter in Kiew sprechen bereits von einem »Ökozid«, den die russischen Angreifer verübt hätten. Wir sprachen mit Oleg Dudkin. Der Zoologe ist Direktor des ukrainischen Natur- und Vogelschutzverbandes USPB, einer der größten und ältesten ukrainischen Nichtregierungsorganisationen im Umweltbereich.
»Spektrum.de«: Wir erreichen Sie in der Hauptstadt Kiew. Ist alles ruhig bei Ihnen?
Oleg Dudkin: In den vergangenen Nächten hatten wir mehrere Dutzend russische Raketenangriffe, aber alle wurden von unserer Luftverteidigung abgefangen. Jetzt ist es mehr oder weniger ruhig hier in Kiew, und wir versuchen, ein Bild der Lage im Süden zu bekommen.
Was wissen Sie über die Situation in der betroffenen Region?
Die Lage dort ist katastrophal. Die Situation verändert sich von Stunde zu Stunde, aber klar ist jetzt schon, dass ein riesiges Areal zwischen dem Staudamm und dem Mündungsgebiet von Dnepr und Bug an der Schwarzmeerküste überschwemmt ist. Das Wichtigste ist jetzt erst einmal, den vielen betroffenen Menschen zu helfen und sie in Sicherheit zu bringen. Das funktioniert auch ziemlich gut.
Was kann man zum jetzigen Zeitpunkt zu den Folgen der Katastrophe für Umwelt und Landwirtschaft sagen?
Es ist schon jetzt völlig klar, dass wir hier eine ökologische Katastrophe riesigen Ausmaßes sehen. Das wird wahrscheinlich für lange Zeit Folgen sowohl für die Natur wie für die Landwirtschaft und damit die Menschen haben. Sie müssen wissen, dass die betroffene Region beides ist: in Teilen sehr intensiv landwirtschaftlich genutztes Gebiet, zugleich aber auch eine Gegend, die ökologisch von herausragender Bedeutung ist, weit über die Ukraine hinaus.
Können Sie die Folgen näher beschreiben?
Natürlich ist es viel zu früh für eine gründliche Bewertung. Doch nehmen wir das Problem der Überflutung für die Landwirtschaft und die Böden generell. In der Region wird mancherorts seit Langem mit sehr starkem Einsatz von Pestiziden zum Beispiel Reis produziert. Hinzu kommt, dass wir dort wegen der intensiven Bewässerung über viele Jahre hinweg ein großes Problem mit der Versalzung bis in das Grundwasser haben. Pestizide, Salz und die riesigen Mengen an Öl, die durch die Katastrophe in den Dnepr gelangen, vermischen sich mit dem sauberen Wasser des Staudamms und vermengen sich zu einer giftigen Brühe, die alles überspült. Unsere Regierung schätzt, dass bis zu 500 Tonnen Öl in den Fluss gelangen könnten. Das ist eine der großen Sorgen, die wir haben. Das wird Folgen für die Natur, für die Landwirtschaft und für das Trinkwasser der Menschen haben. Und hinzu kommt die zerstörerische Kraft der Fluten, die einige wichtige Schutzgebiete bedroht.
Welche besonders wertvollen ökologischen Gebiete liegen im Einzugsbereich der Katastrophe?
Dutzende, auch international bedeutsame Schutzgebiete sind betroffen. Die ganze Region, der Fluss Dnepr selbst, sein Delta und die angrenzenden Mündungsgebiete zusammen mit der Küste des Schwarzen Meeres gehören zu den wichtigsten Brut- und Rastgebieten für Vögel aus ganz Europa auf ihrem Weg nach Afrika und zurück. Das bedeutet, die Katastrophe trifft nicht nur »unsere« Vögel – auch viele, viele Zugvögel aus dem Rest Europas werden darunter leiden.
Wir befinden uns mitten in der Brutzeit der allermeisten Vogelarten. Welche Folgen hat die Katastrophe für sie?
Nehmen wir nur das Delta des Dnepr. Das ist ein riesiges Mündungsgebiet mit kleinen Inseln, Auwäldern, Flachwasserzonen und riesigen Schilfgebieten. Wegen seines hohen ökologischen Werts ist es als Feuchtgebiet internationaler Bedeutung nach der Ramsar-Konvention geschützt und ausgezeichnet. Davon haben wir in der Region übrigens mehrere. Dort kommen Dutzende Arten seltener Vögel vor, tausende Paare sind gerade bei der Brut, die Nester werden möglicherweise zerstört, oder das Wasser, aus dem sie fischen, wird verseucht. Es ist das wichtigste Brutgebiet für viele bedrohte Arten. Wir haben zum Beispiel die wichtigste Pelikankolonie dort, hunderte Rallenreiher, aber auch Fischotter und den vom Aussterben bedrohten Europäische Nerz. Dieses Gebiet ist darüber hinaus eine herausragend wichtige Quelle für sauberes Trinkwasser.
Wie sieht es auf der schon seit 2014 von Russland besetzten angrenzenden Krim-Halbinsel aus?
Wir haben auf der Krim-Halbinsel ein sehr wertvolles und sehr empfindliches Steppen-Ökosystem. Mit das wertvollste, das wir in Europa überhaupt haben. Wir müssen davon ausgehen, dass ein großer Teil davon durch die russische Besatzung zerstört oder stark geschädigt wird. Wie sehr, können wir jetzt nicht sagen. Wir können ja nicht hin und unser Monitoring und unsere Forschung fortsetzen, die wir dort lange gemacht haben.
Schon vor der jetzigen Katastrophe hat es durch den Krieg in der betroffenen Region drastische Folgen für die Natur gegeben. Was wissen Sie darüber?
Die Kämpfe um Cherson und besonders um die Brücke über den Dnepr gehören zu den schlimmsten des Krieges. Sie haben große Brände zum Beispiel im Schwarzmeer-Biosphärenreservat südwestlich von Cherson ausgelöst, einem der größten und wichtigsten Biosphärenreservate des Landes. Die Brände waren so ausgedehnt, dass man sie aus dem All sehen konnte. Dadurch wurden einzigartige Lebensräume für lange Zeit zerstört.
Der Krieg tobt seit fast eineinhalb Jahren auch in anderen Landesteilen. Wie sieht es dort aus?
Die Folgen des Kriegs auf die Natur können wir in ihrem ganzen Ausmaß nicht einmal annähernd abschätzen. Doch sie sind überall dort extrem schlimm, wo es zu Kriegshandlungen kommt oder gekommen ist. Nehmen wir die Region Polesien im Norden. Dort haben die Kriegshandlungen riesige Moorgebiete in Brand gesetzt. Die Moore dort sind sehr alt und entsprechend ökologisch wertvoll. Durch die Kämpfe und den Beschuss kommt es immer wieder zu großen Torfbränden. Diese teils unterirdischen Brände bekommt man einfach nicht unter Kontrolle, schon nicht unter normalen Bedingungen. Das heißt, es werden nicht nur Wälder, Felder und Wiesen durch die Brände zerstört. Die Flammen setzen sich unterirdisch fort. Dadurch werden natürlich auch riesige Mengen Treibhausgase aus den Mooren freigesetzt. Es ist nicht nur eine Katastrophe für die Natur. Wir sprechen wahrscheinlich auch von einer Klimakatastrophe.
Kann man unter solchen Bedingungen überhaupt noch Naturschutz betreiben?
Ja, wir setzen unsere Arbeit fort, auch mit Hilfe unserer Partner. Der deutsche NABU etwa unterstützt uns. Wir haben beispielsweise in der Region um Mikolajew ein großes Schutzprogramm für den Wisent. In den Transkarparten arbeiten wir am Schutz der Schleiereulen, wenn es die Lage erlaubt. Andere Projekte müssen leider pausieren, weil in den Schutzgebieten zu viele Minen liegen oder Kämpfe toben. Und ein Viertel unserer Schutzgebiete ist nun unter Kontrolle der Besatzer.
Vor dem Krieg gab es eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen Naturschützern aus der Ukraine, Belarus und Russland. Dadurch wurden viele grenzüberschreitende Projekte realisiert. Wird es dazu wieder kommen, wenn der Krieg vorbei ist?
Ob es das mit Russland wieder geben wird, das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Aber mit den Freunden in Belarus ganz sicher.
Wie wichtig ist die Natur den Menschen in Zeiten des Kriegs?
Sehr wichtig, das kann ich Ihnen versichern. Ich gebe Ihnen ein Beispiel vom vergangenen Wochenende. Da haben wir trotz dauernd drohender Angriffe eine Vogelexkursion in den Botanischen Garten von Kiew angeboten. Der Zulauf war immens. Die Menschen lieben die Natur, und der Kontakt zur Natur gibt vielen psychische Stärke.
Unter Vogelkundlern: Welche Vogelarten haben Sie gesehen?
Satte 72 Arten, darunter Raritäten für eine große Stadt wie Wespenbussard und Zwergschnäpper. Und das fröhliche unbekümmerte Flöten eines Pirols hat viele besonders gerührt.
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