Landwirtschaft: Elternzeit für Milchkühe
Rinder sind Herdentiere mit viel sozialer Interaktion. Die Kälber werden von ihren Müttern liebevoll umsorgt. In der modernen Milchviehhaltung trennt man neugeborene Kälber jedoch meist schon nach wenigen Stunden von ihren Müttern. Als Evelyn Scheidegger vor einigen Jahren als Quereinsteigerin in die Landwirtschaft kam, fiel ihr das ausdauernde Rufen der Mütter nach der Trennung von ihren Kälbern auf. »Vielleicht habe ich das stärker wahrgenommen als jemand, der mit diesem Haltungssystem groß geworden ist, und ich habe mich gefragt: Muss das eigentlich sein?«, erzählt die Schweizer Bäuerin, die kürzlich mit Unterstützung der Haldimann Stiftung den Verein cowpassion gegründet hat, um die Mutter-Kalb-Haltung zu fördern.
Aber von vorne: Wie funktioniert das mit Kühen, Kälbern und der Milch? Männliche Kälber werden nach zwei bis drei Wochen an einen Maststall zur Fleischerzeugung verkauft. Weibliche Kälber bleiben im Betrieb und werden getrennt von der Mutter und der übrigen Herde mit dem Eimer oder einem Tränkautomaten gefüttert. Die Isolation ist in konventionellen Betrieben bis zur achten Woche erlaubt – in Biobetrieben nur sieben Tage, dann muss das Kalb in einer Gruppe mit anderen Jungtieren gehalten werden. Im Alter von 15 Monaten wird das Jungvieh – meist künstlich – besamt, und nach etwa neun Monaten kommt das erste eigene Kalb zur Welt.
Die Kuh ist dann gut zwei Jahre alt und wird in die Milchviehherde eingegliedert, wo die Tiere täglich zwei- bis dreimal gemolken werden. Etwa zwei Monate nach dem Abkalben kann die Kuh neu besamt werden, und der Zyklus (man spricht auch von Laktationsperiode) beginnt von vorne. Die Kuh bekommt also jedes Jahr ein Kalb und gibt mit Ausnahme der letzten sechs bis acht Wochen vor Geburt des Kalbs durchgehend Milch. Dieses Haltungsverfahren kommt bei fast allen Betrieben so oder in ähnlicher Form zum Einsatz, egal ob sie konventionell oder mit Biosiegel wirtschaften. In Biobetrieben bleiben die Kälber oft ein paar Tage statt nur wenige Stunden bei ihrer Mutter, und sie werden mindestens drei Monate mit Vollmilch gefüttert statt mit Milchaustauscher auf Pflanzenfettbasis.
Pionierarbeit im Stall
Die kuhgebundene Kälberaufzucht ist eine alternative Haltungsform, bei der die Kälber mehrere Monate von ihren Müttern oder Ammen gesäugt werden. Ammenkühe sind Mutterkühe, die außer ihrem eigenen Kalb noch ein oder mehrere weitere Kälber säugen. In der Ammenhaltung werden zwar alle Kälber von Kühen versorgt, aber eben nicht unbedingt von der eigenen Mutter. Rein wirtschaftlich betrachtet ist der offensichtlichste Nachteil der kuhgebundenen Kälberaufzucht, dass dem Landwirt wesentlich weniger Milch für den Verkauf bleibt.
»Der Milchertrag geht zurück, weil die Kälber am Euter deutlich mehr Milch trinken, doch dafür gewinnen wir an ganz vielen anderen Stellen«, sagt Scheidegger. Auch Mechthild Knösel vom Hofgut Rengoldshausen am Bodensee verbucht das Mehr an Milch, das die Kälber trinken, nicht als Verlust, sondern als Gewinn für die Kälber. In ihrer Herde von 50 Milchkühen der Rasse Original Schweizer Braunvieh dürfen die Kälber mit viel Kontakt zu Mutterkühen und zur Herde aufwachsen. Knösel blickt auf 15 Jahre Erfahrung mit dieser Haltungsform zurück und berichtet von kräftigeren und gesünderen Kälbern. »Wir beobachten jedes einzelne Tier sehr genau, was es frisst, wie es sich verhält. Das ist aufwändig, aber diesen Respekt sind wir den Tieren schuldig«, sagt Knösel. Die Investition zahle sich vor allem langfristig aus, denn »die Kühe werden älter und die Kosten für den Tierarzt sinken«.
»Die Kühe werden älter, und die Kosten für den Tierarzt sinken«
Mechthild Knösel
Im »Normalbetrieb« der Milchwirtschaft ist eher das Gegenteil zu beobachten, schreiben die Agrarwissenschaftler um Christoph Reiber von der Universität Hohenheim in einem Tagungsband: »Produktionskrankheiten wie Euterentzündungen, Fruchtbarkeitsstörungen und Klauen- und Gliedmaßenerkrankungen sind ein großes Problem in der konventionellen wie auch in der ökologischen Milchviehhaltung. Diese führen zu hohem Einsatz unter anderem von Antibiotika und sind Ursache für frühzeitige Abgänge der Tiere.«
Auf Grund solcher Probleme werden die meisten Milchkühe in intensiven Haltungsformen nicht besonders alt: Mit vier bis fünf Jahren werden sie geschlachtet. Zum Vergleich: Wasserbüffelkühe etwa bringen noch mit über 25 Jahren Kälber zur Welt. »Gerade die Kälberaufzucht ist teuer, und die Milchleistung der Kühe erreicht erst mit der sechsten Laktationsperiode ihren Höhepunkt«, sagt Kerstin Barth, Agrarwissenschaftlerin und Milchviehexpertin am Thünen-Institut für Ökologischen Landbau im schleswig-holsteinischen Trenthorst. Insofern seien eigentlich alle Landwirte daran interessiert, dass ihre Kühe älter werden.
»Wer gesund ist, kann auch alt werden, und wenn sich die Tiere wohl fühlen, haben wir langfristig auch einen sehr guten Ertrag«, berichtet Bäuerin Knösel von ihrem Betrieb in Rengoldshausen, wo die Kühe häufig 15 Jahre und älter werden – was natürlich nicht nur dem Säugen der Kälber zuzuschreiben ist. Landwirte und Landwirtinnen können das Wohlergehen der Tiere zusätzlich durch andere Innovationen fördern, wie einen besonders schonenden Umgang mit den Tieren (Low Stress Stockmanship), eine längere Kälberpause (der Zeit zwischen zwei Geburten), das Aufziehen der männlichen Kälber in der Herde (»Bruderkalb«) oder das fast ausschließliche Füttern mit Gras und Heu.
Natürliches Verhalten ist gesund
Kälber aus kuhgebundener Aufzucht erlernen frühzeitig den Umgang mit anderen erwachsenen Tieren und reagieren interessierter auf fremde Artgenossen. Studien des Thünen-Instituts belegen zudem, dass die Kälber schneller an Gewicht zulegen, bei ihnen weniger Verhaltensanomalien auftreten und dass sie durch die größere aufgenommene Milchmenge später als Mütter fruchtbarer sind.
Ein wissenschaftlicher Nachweis, dass Kälber mit Mutterkontakt seltener krank würden, sei aber noch nicht erbracht, so Agrarwissenschaftlerin Barth. In Vergleichsstudien am Forschungsinstitut in Trenthorst waren keine signifikanten Unterschiede zu verzeichnen, und in der Praxis seien Vergleiche schwierig, weil sich Betriebe mit kuhgebundener Aufzucht oft auch in anderen Aspekten von konventionellen Betrieben unterschieden.
Evelyn Scheidegger vom Verein cowpassion verweist auf praxisbezogene Studien unter anderem der ETH Zürich, die positive Effekte für die Kälbergesundheit nahelegen – etwa, dass die Kälber weniger an infektiösem Durchfall litten. Wissenschaftlich belegt ist, dass Kälber, die ihr natürliches Verhalten, am Euter der Mutterkuh zu saugen, ausleben dürfen, deutlich seltener eine Verhaltensauffälligkeit zeigen, die im Fachjargon »cross-sucking« genannt wird. Bei diesem gegenseitigen Besaugen versuchen die ohne Euterkontakt aufgezogenen Kälber an so ziemlich allem zu saugen, was ihnen vor die Nase gerät, inklusive Ohren, Euter oder Hoden der anderen Kälber. Diese Verhaltensstörung kann zu gesundheitlichen Problemen wie Entzündungen und Durchfall führen und so auch beträchtlichen wirtschaftlichen Schaden anrichten.
Mutter-Kalb-Haltung immer beliebter
Den Milchkühen eine drei- bis fünfmonatige »Elternzeit« zu gewähren, ist momentan noch die absolute Ausnahme: In Deutschland praktizieren gerade einmal rund 100 der 61 000 Milchviehbetriebe die kuhgebundene Kälberaufzucht. In der Schweiz sind es fünf bis zehn von 20 000 Betrieben. Trotzdem berichtet Kerstin Barth von wachsendem Interesse: »Vor 15 Jahren hatten wir in Deutschland gerade einmal eine Hand voll Betriebe, und in den letzten zwei bis drei Jahren bekommen wir immer mehr Anfragen von Verbrauchern und interessierten Landwirten.«
Barth forscht bereits seit fast 20 Jahren an dem Thema. Um die Jahrtausendwende wurde in Trenthorst das Forschungsinstitut für Ökologischen Landbau gegründet und Barth mit der Planung des Milchviehstalls beauftragt. »Ich habe damals mit vielen Stallausrüstern und Landwirten über das Thema gesprochen und wurde noch oft belächelt«, erzählt die Forscherin. Dabei ist in der Fleischerzeugung mit der »Mutterkuhhaltung« die gemeinsame Haltung von Kuh und Kalb durchaus üblich. Etwa 14 Prozent der Mastrinder in Deutschland werden in Mutterkuhhaltung gehalten. Dort werden die Kühe aber auch nie gemolken, was die Sache wesentlich vereinfacht.
Warum also trennt man die Kälber überhaupt von ihren Müttern? Diese Praxis hat in Europa schon vor mindestens einem Jahrhundert begonnen und wird inzwischen weltweit in allen etwas intensiveren Haltungsformen angewandt. Das hat mehrere Gründe: Zum einen können separat aufgezogene Kälber kontrolliert gefüttert werden. Der Landwirt weiß genau, wann das Kalb wie viel getrunken hat, und das Kalb gewöhnt sich schon sehr früh daran, neben der Milch auch Rau- und Kraftfutter aufzunehmen – was sich positiv auf die Entwicklung des Pansens (also des Wiederkäuermagens) auswirken soll.
Der zweite Grund ist die »geerntete« Milchmenge: Ein Kalb, das gesäugt wird, trinkt 10 bis 15 Liter Milch am Tag, während ein separat gefüttertes Kalb meist nur 6 bis 8 Liter bekommt und die restlichen Kalorien dann aus dem Kälberkraftfutter erhält. Der dritte Grund ist die Mutter-Kalb-Bindung, die umso stärker wird, je länger man die Tiere beisammen lässt. Von Natur aus würde das Kalb acht bis neun Monate bei der Mutter bleiben und gesäugt werden, bis es der Mutterkuh irgendwann zu viel wird und das Kalb natürlich entwöhnt wird. In der Milchviehhaltung muss der Bauer entscheiden, wann und wo die Tiere zusammen sein können, da bestimmte Betriebsabläufe essenziell für das Funktionieren des Hofes sind. Trennt man die Tiere sehr früh, orientieren sie sich schnell um. Das ist nicht unbedingt widernatürlich, denn auch wild lebende Rinder können ihr Kalb verlieren, und wenn ein Muttertier von einem Räuber gerissen wurde, muss das Kalb opportunistisch sein. Die Trennung nach ein paar Tagen oder Wochen könnte also sogar »schmerzhafter« sein als die nach ein paar Stunden.
Hohe Anforderungen und fehlende Förderung
Die kuhgebundene Kälberaufzucht stellt hohe Ansprüche an die Landwirte und erfordert manchmal auch Veränderungen bei den Stallbauten. Grundsätzlich gilt: Der Stall sollte sich nach den Bedürfnissen der Tiere richten und nicht umgekehrt. Es gibt jedoch kein Patentrezept für die Umstellung, und jeder Betrieb muss je nach räumlichen Voraussetzungen eigene Lösungen entwickeln. Kühe und Kälber brauchen Stallbereiche, in denen sie sich begegnen können, was in vielen Ställen schon durch die für Kälber ungeeigneten Spaltenböden in den Laufgängen unmöglich ist. Einerseits wäre eine Umstellung bei vielen Betrieben also nur mit relativ hohem Aufwand möglich. Andererseits beweist das Hofgut Eichigt im sächsischen Vogtland, das die kuhgebundene Kälberaufzucht praktiziert, dass das Konzept mit der entsprechenden Vorbereitung auch in sehr großen Betrieben umsetzbar ist. Dort werden 1500 Milchkühe gehalten.
Dem Mehr an Aufwand steht ein Weniger an Ertrag gegenüber. Spezielle Förderinstrumente für umstellungswillige Landwirte gibt es aber nicht. Anja Hradetzky vom Hof Stolze Kuh in Stolzenhagen an der Oder wünscht sich in einem Interview mit dem Deutschlandfunk mehr Anreize und Hilfestellung für interessierte Jungbäuerinnen. Dass Verbraucher durchaus bereit sind, für mehr Tierwohl auch mehr Geld auszugeben, zeigen entsprechende Vermarktungsinitiativen, etwa der Heumilchbauern aus der Region Allgäu-Oberschwaben, der De Öko Melkburen aus Schleswig-Holstein oder der Hohenloher Bauern um den Völkleswaldhof. Der Verbraucherpreis liegt etwa einen Euro über dem Preis vergleichbarer Milch aus herkömmlicher Haltung. »Das liegt aber auch daran, dass die Verarbeitung und Vermarktung kleiner Milchmengen eben teurer ist«, sagt Evelyn Scheidegger.
Dass in der industriellen Produktion tierischer Lebensmittel einiges im Argen liegt, muss nach diversen Skandalen von Gammelfleisch und BSE über Pferdefleisch-Lasagne bis Tönnies eigentlich jedem interessierten Verbraucher klar sein. Wenn das viel diskutierte Tierwohl aus der Nische kommen soll, wird das nur mit einer Landwirtschaft gelingen, die sich verstärkt am Tier und seinen Bedürfnissen orientiert. Die Mutter-Kalb-Haltung zeigt, wohin die Reise gehen könnte. Dass das nicht nur im Interesse der Tiere ist, bestätigt Mechthild Knösel: »Die Arbeit macht so auch einfach viel mehr Spaß!«
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