Kakeya-Vermutung: Jahrzehntealtes Mathematikproblem gelöst

Nur selten liest man in der Mathematik von »spektakulären Fortschritten« oder »Jahrhundert-Ergebnissen«. Aus guten Gründen: Wenn es für ein Problem schon seit vielen Jahren keine Lösung gibt, dann sind meistens völlig neue Ansätze und Ideen nötig, um es zu anzugehen. So auch bei der harmlos klingenden »Vermutung von Kakeya«. Diese hängt mit der Frage zusammen, wie man eine Nadel so rotieren kann, dass dabei möglichst wenig Platz gebraucht wird.
Seit 1917 zerbrechen sich Fachleute den Kopf über damit einhergehende Probleme. Doch nun hat die Mathematikerin Hong Wang von der New York University (NYU) zusammen mit ihrem Kollegen Joshua Zahl von der University of British Columbia die dreidimensionale Version der Kakeya-Vermutung endlich bewiesen. »Es ist eine der größten mathematischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts«, bewertet der Mathematiker Eyal Lubetzky von der NYU die im Februar 2025 veröffentlichte Arbeit.
Angenommen, auf einem Tisch liegt eine unendlich schmale Nadel. Nun will man diese um 360 Grad drehen, damit die Nadelspitze einmal in jede Richtung der Ebene gezeigt hat. Dazu kann man die Nadel in der Mitte festhalten und rotieren. Während ihrer Drehung überdeckt die Nadel dann die Fläche eines Kreises. Doch wenn man sich geschickt anstellt, braucht die Nadel für die Drehung weniger Platz. Im Jahr 1917 fragte sich der Mathematiker Sōichi Kakeya, welche die kleinste benötigte Fläche ist, um die Nadel zu rotieren. Indem man zum Beispiel nicht nur das äußere Ende der Nadel, sondern auch ihren Mittelpunkt dreht, erhält man eine Fläche, die einem Dreieck mit gebogenen Seiten entspricht.

Nur zwei Jahre später machte der Mathematiker Abram Besikowitsch eine unerwartete Entdeckung: Wenn man die Nadel wie bei einem komplexen Einparkmanöver immer wieder vor und zurück bewegt, dann kann der Flächeninhalt der überdeckten Fläche ganz verschwinden. Sprich: Stellt man sich geschickt genug an, haben die von der unendlich schmalen Nadel bedeckten Liniensegmente eine Gesamtfläche von null.
Welche Dimension hat eine Fläche von null?
Fortan fragten sich Fachleute, welche Dimension diese »Kakeya-Fläche« besitzt. Für gewöhnlich sind Flächen in einer Ebene, etwa ein Rechteck oder ein Kreis, zweidimensional. Aber es gibt auch Ausnahmen: Fraktale oder eine raumfüllende Linie können beispielsweise auch gebrochenzahlige Dimensionen haben, also beispielsweise 1,5-dimensional sein. Da die Kakeya-Flächen sehr zerklüftet aussehen können, liegt die Frage nach der Dimensionalität nahe. »An diesem Problem haben viele der größten Mathematiker der Welt gearbeitet«, erklärt der Mathematiker Pablo Shmerkin von der University of British Columbia. »Es ist nicht nur relativ einfach zu formulieren und dennoch extrem tiefgründig, sondern auch mit vielen anderen wichtigen Problemen der harmonischen Analysis und der geometrischen Maßtheorie verbunden.«

Tatsächlich konnte der Mathematiker Roy Davies im Jahr 1971 beweisen, dass die Kakeya-Fläche stets zweidimensional ist; selbst wenn ihr Flächeninhalt verschwindet. Doch in der Mathematik ist man an allgemeinen Ergebnissen interessiert. Die Fachleute wollten herausfinden, ob das Problem in n Dimensionen, bei dem eine Nadel entlang aller n Raumrichtungen rotiert wird, stets ein n-dimensionales Volumen abdeckt. Diese Hypothese ist inzwischen als Kakeya-Vermutung bekannt.
Der dreidimensionale Fall erwies sich als extrem harte Nuss. Über die Jahrzehnte konnten Fachleute zwar ausschließen, dass eine rotierte Nadel ein Volumen mit weniger als 2,5 oder 2,6 Raumdimensionen abdeckt – weiter kamen sie aber nicht. Wang und Zahl ließen sich jedoch nicht entmutigen und arbeiteten sich Schritt für Schritt vor: In mühevoller Arbeit gelang es ihnen, nach und nach alle Fälle, bei denen das abgedeckte Volumen eine Dimension von weniger als drei besitzen würde, auszuräumen. So konnten sie schließlich die Kakeya-Vermutung in drei Raumdimensionen beweisen. Demnach ist das von der Nadel bedeckte Volumen stets dreidimensional. »Ich gehe davon aus, dass die Ideen von Wang und Zahl in den kommenden Jahren zu einer Reihe von aufregenden Durchbrüchen führen werden«, sagt Mathematiker Guido de Philippis von der NYU überzeugt.
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