Kalašmisch: Archäologen graben eine unbekannte Sprache aus
Während der späten Bronzezeit vor mehr als 3000 Jahren herrschten die Hethiter über ein Großreich, das sich vom Westen der heutigen Türkei bis in den heutigen Libanon erstreckte. Dabei waren sie »in einzigartiger Weise daran interessiert, Rituale in fremden Sprachen aufzuzeichnen«, erklärt der Keilschriftexperte Daniel Schwemer von der Universität Würzburg. Dieser Eigenart ist es zu verdanken, dass Fachleute in den seltenen Genuss kommen, eine bislang unbekannte Sprache zu erforschen. Sie entdeckten sie auf einer Keilschrifttafel bei Ausgrabungen in Boğazköy-Hattuscha in der nördlichen Zentraltürkei. Dort lag während der späten Bronzezeit (1650 bis 1200 v. Chr.) einst die Hauptstadt des Hethiterreichs.
Erste Studien an dem unbekannten Idiom, an denen auch Schwemers Kollegin Elisabeth Rieken von der Philipps-Universität Marburg beteiligt war, ergaben, dass sie zum anatolischen Zweig der großen indoeuropäischen Sprachfamilie gehört. Auch andere im Hethiterreich gesprochene Sprachen gehören in diese Gruppe, darunter Luwisch, Palaisch und Hethitisch selbst. Auf der Tontafel nennen die Hethiter das unbekannte Idiom die »Sprache aus dem Land Kalašma«. Der eigentliche Text auf der Tafel ist jedoch noch weitgehend unverständlich.
Das genannte Land lag vermutlich im Nordwesten der heutigen Türkei, ungefähr auf halbem Weg zwischen den Großstädten Ankara und Istanbul. Östlich davon befand sich ein Gebiet, in dem Palaisch gesprochen wurde. Doch wie Riekens Auswertung ergab, ähnelt das Kalašmische weniger seinem östlichen Nachbarn als vielmehr den luwischen Dialekten, die einst im Südwesten verbreitet waren.
Den Fund machte das Team um den Archäologen Andreas Schachner von der Istanbuler Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) bei seiner diesjährigen Grabungskampagne. Seit mehr als 100 Jahren leitet das DAI die Erforschung von Boğazköy-Hattuscha und der dort begrabenen, umfassenden Keilschriftbibliothek. Bislang seien fast 30 000 beschriftete Tontafeln gefunden worden, schreibt das Institut. Die Keilschrifttafel mit der neuen Sprache ist hauptsächlich in Hethitisch verfasst, greift dann aber im Rahmen des dort beschriebenen Rituals eine Rezitation im Idiom des Landes von Kalašma auf.
Problem an der Wurzel
Die indoeuropäischen Sprachen stellen heute die global gesehen am weitesten verbreitete Sprachfamilie dar. Zu ihren sprecherstärksten Zweigen gehören unter anderem die germanischen Sprachen, darunter Deutsch und Englisch, die romanischen wie Französisch und die slawischen, zu denen das Russische zählt. Auch indische und iranische Sprachen wie Hindi und Farsi sind Teil dieser Familie.
Die Sprachen des anatolischen Zweigs hingegen sind heute allesamt ausgestorben. Sie stehen sehr nah an der Wurzel der gesamten Sprachfamilie, dem rekonstruierten Protoindoeuropäischen, und sorgen seit Jahren für Konflikte in der Sprachforschung – insbesondere bei der Suche nach der ursprünglichen Herkunftsregion der Protoindoeuropäer.
Laut der »Steppen-Hypothese« entwickelte sich das Indoeuropäische vor rund 6000 Jahren in der pontisch-kaspischen Steppe und verbreitete sich von dort aus nach Westen und Osten sowie – auf eine noch zu klärende Weise – ins Hethiterreich. Die »anatolische Hypothese« knüpft den Ursprung der Sprachfamilie an die Ausbreitung der ersten Bauern und sieht ihren Beginn in der Zeit vor 9000 Jahren direkt in Anatolien selbst. Dort hätten sich die anatolischen Sprachen von der Hauptlinie abgezweigt. Die Träger dieser Hauptlinie seien dann erst später nordwärts gewandert, auch hier wieder in die Steppenregion nördlich des Kaukasus. Problem dabei: In den anatolischen Sprachen gibt es Begriffe, die sie aus dem Protoindoeuropäischen zu übernommen haben scheinen, die aber zur viel später aufgekommenen Technologie der Steppennomaden gehören (zum Beispiel Joch oder Pferd). Das passe nicht zu einem frühen Ursprung des Protoindoeuropäischen, sind viele Linguistinnen und Linguisten überzeugt.
Im Juli dieses Jahres fand ein Team vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie durch umfassende Sprachstatistik eine Art von Kompromiss. Demnach soll die so genannte Urheimat der Indoeuropäer östlich von Anatolien und südlich des Kaukasus gelegen haben, wo sich das Protoindoeuropäische vor etwa 8100 Jahren entwickelt habe. Auch diese Analyse wurde von Fachleuten allerdings mit Verweis auf das ungeklärte Problem der »Steppenwörter« kritisiert.
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