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Klimaphänomen: Warum wird der Ostpazifik kälter statt wärmer?

Ein Teil des Ostpazifiks widersetzt sich den Klimavorhersagen und kühlt zunehmend ab. Hält die Entwicklung an, könnte das den Klimawandel abbremsen – aber auch schwere Dürren in den USA verursachen.
Luftaufnahme von Montanita, einem berühmten Touristenziel an der Küste Ecuadors
Die »kalte Zunge« des Pazifiks, ein Ozeangebiet, das sich westlich von Ecuador erstreckt, ist kühler als von Klimamodellen vorhergesagt.

Seit Jahren prognostizieren Klimamodelle, dass die Ozeane immer wärmer werden, wenn die Treibhausgasemissionen weiter steigen. Im Großen und Ganzen lagen sie damit bislang auch richtig. Doch in einem Teil des Pazifiks passiert gerade das Gegenteil: Vor der Küste Ecuadors erstreckt sich über Tausende von Kilometern ein Meeresarm, der in den letzten 30 Jahren kälter statt wärmer wurde. Im Englischen bezeichnet man das Phänomen als »cold tongue«, also »kalte Zunge«. Warum widersetzt sich dieser Bereich des östlichen Pazifiks den Vorhersagen?

Es ist allerdings nicht bloß ein akademisches Rätsel. Pedro DiNezio von der University of Colorado Boulder nennt es »die wichtigste unbeantwortete Frage der Klimawissenschaften«. Das Problem ist, dass man nicht weiß, warum diese Abkühlung stattfindet. Somit ist auch unklar, wann sie aufhört oder ob sie plötzlich in eine Erwärmung übergeht. Klar ist: Die Entwicklung der Kaltwasserzunge hat globale Auswirkungen; sie könnte darüber entscheiden, ob Kalifornien von einer dauerhaften Dürre oder Australien von immer tödlicheren Waldbränden heimgesucht wird. Sie beeinflusst, wie intensiv die Monsunzeit in Indien wird oder ob es zu Hungersnöten am Horn von Afrika kommt. Die weitere Entwicklung könnte sogar das Ausmaß des globalen Klimawandels verändern, indem sie die Empfindlichkeit der Erdatmosphäre gegenüber steigenden Treibhausgasemissionen beeinflusst. In Anbetracht all dessen ist es nicht verwunderlich, dass Klimaforscherinnen und -forscher dringend herausfinden wollen, was dort vor sich geht.

Der Pazifik ist der nahezu perfekte Ort, um Geheimnisse zu bewahren. Er ist der größte und tiefste Ozean der Erde – so groß, dass er mehr Fläche bedeckt als alles Land zusammen. Entsprechend lässt sich extrem schwer ermitteln, wie er auf ansteigende Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre reagiert. Das liegt vor allem daran, dass es im tropischen Pazifik zu großen natürlichen Klimaschwankungen kommt, die das Wetter rund um den Globus beeinflussen.

Mal wärmer, mal kälter

Etwa alle drei bis fünf Jahre wechselt der Pazifik von einer La-Niña-Phase, in der die Wassertemperaturen in der Äquatorregion relativ kühl sind, zu einer El-Niño-Phase, in der das Wasser wärmer als im Mittel ist. Dieser Zyklus wird als »El Niño-Southern Oscillation«, kurz ENSO, bezeichnet. Er entsteht durch Veränderungen der Winde über dem Meer und der Bewegung des Wassers zwischen den kühleren tieferen Schichten und der wärmeren Oberfläche. Daneben gibt es die so genannte »Pazifische Dekadische Oszillation«, kurz PDO. Ähnlich wie bei ENSO wechseln sich hierbei Kalt- und Warmphasen ab, jedoch meist in einem Abstand von 20 bis 30 Jahren. Die genaue Ursache für PDO ist unklar. Diese unberechenbaren Änderungen der Oberflächentemperaturen machen es schwer, langfristige Trends zu ermitteln. Als Forschende die Kaltwasserzunge in den 1990er Jahren entdeckten, führten sie diese auf die extremen – aber natürlichen – Temperaturschwankungen in der Region zurück.

Richard Seager von der Columbia University in New York war einer der Ersten, der diese Ansicht in Frage stellte. Im Jahr 1997 war er Mitverfasser eines Artikels, in dem er davor warnte, dass sich der äquatoriale Pazifik abkühlt – ein Trend, der in den Klimamodellen nicht erkannt wurde. Seitdem haben die Daten über die Meeresoberflächentemperaturen Seagers Verdacht bestätigt. Der östliche Pazifik in der Nähe Amerikas war im Durchschnitt stets um fünf bis sechs Grad Celsius kühler als der westliche Teil des Ozeans in der Nähe Asiens. Doch zwischen 1980 und 2019 hat sich dieser Temperaturunterschied um etwa 0,5 Grad Celsius vergrößert.

»Wir sehen hier etwas, was uns Sorgen machen sollte, und wir müssen herausfinden, was es ist«Isla Simpson, Forscherin am US National Center for Atmospheric Research in Boulder, Colorado

Inzwischen zweifeln immer mehr Fachleute daran, dass sich die Kaltwasserzunge mit natürlichen Schwankungen erklären lässt. Wenn aber die Klimamodelle die Anomalie nicht widerspiegeln, könnten sie gravierend in die Irre führen. »Wir sehen hier etwas, was uns Sorgen machen sollte, und wir müssen herausfinden, was es ist«, sagt Isla Simpson vom US National Center for Atmospheric Research in Boulder, Colorado. Denn die Auswirkungen auf das zukünftige Klima könnten beträchtlich sein.

Wärmeres Wasser im westlichen Pazifik und kälteres im Osten führen zu mehr tiefen Wolken über weiten Teilen des östlichen Pazifiks. »Mehr Wolken bedeuten mehr reflektiertes Sonnenlicht«, erklärt David Battisti von der University of Washington in Seattle. Das wiederum bedeutet, dass weniger Wärme in die Erdatmosphäre eindringt und durch die Treibhausgase zurückgehalten wird. Mit anderen Worten: Ein kühler Ostpazifik verlangsamt die globale Erwärmung.

Wenn sich der aktuelle Trend fortsetzt, könnte die Kaltwasserzunge die prognostizierte globale Erwärmung um satte 30 Prozent verringern, verglichen mit den Vorhersagen der Klimamodelle. Der Anstieg der globalen Durchschnittstemperaturen würde dann statt 1,9 Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts lediglich 1,3 Grad Celsius betragen. Entscheidend ist, dass in beiden Szenarien die gleiche Menge an Treibhausgasemissionen in die Atmosphäre gelangt. Der Grundzustand des Klimas würde in diesem Szenario eher einer La-Niña-Phase ähneln, was das Risiko von Dürren am Horn von Afrika und im Südwesten der USA erhöhen würde.

Auf welche Zukunft sollten wir uns vorbereiten?

Falls die Klimamodelle jedoch richtigliegen und sich der östliche Pazifik langfristig erwärmt, fiele die globale Erwärmung stärker aus und es käme zu unterschiedlichen regionalen Auswirkungen. Der Grundzustand des Klimas gliche dann eher einer El-Niño-Phase. Das würde die Korallenriffbleiche verstärken, den Amazonas heißer und trockener machen, Australien und Indonesien mehr Dürren bescheren und in Indien tödliche Hitzewellen auslösen, weil der Monsun ausfiele. In Teilen Nord- und Südamerikas würde es vermehrt Stürme geben, und starke Regenfälle würden in Ländern wie Peru und Ecuador zu verheerenden Überschwemmungen und Erdrutschen führen.

Derzeit stützen sich politische Entscheidungsträger, Stadtplaner sowie Konzernchefs bei ihren Klimaprognosen auf Modelle, die eine Erwärmung des Ostpazifiks vorhersagen. Wenn die Abkühlung im östlichen Pazifik aber anhält, wird das »große Auswirkungen auf die regionalen Klimavorhersagen haben«, sagt Malte Stuecker von der University of Hawai'i at Mānoa. Um jedoch prognostizieren zu können, was in Zukunft passiert, müssen wir erst einmal verstehen, was im Moment vor sich geht. Aus diesem Grund versuchen einige der besten Köpfe der Klimawissenschaften herauszufinden, warum die Beobachtungen in der Realität so sehr von den Klimamodellen abweichen.

An konkurrierenden Ideen mangelt es nicht. Einige glauben, dass die Antwort in den kalten Meeresgebieten des Südlichen Ozeans rund um die Antarktis liegt. Wie der östliche Pazifik gehören diese zu den wenigen Orten auf der Welt, an denen die Meeresoberflächentemperaturen in den letzten Jahrzehnten gesunken sind. Ein wahrscheinlicher Grund dafür ist, dass die antarktischen Gletscher durch steigende globale Temperaturen schmelzen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass eine dünnere Ozonschicht und die steigenden Treibhausgasemissionen zu stärkeren Winden in der Region führen, die mehr kalte Luft von der antarktischen Landmasse zum Oberflächenwasser des Südlichen Ozeans transportieren.

Was auch immer die Ursache für die Abkühlung ist, Battisti und andere vermuten, dass sie auch Auswirkungen auf den tropischen Pazifik hat. Klimamodelle beziehen das Schmelzwasser der Antarktis nicht immer in ihre Berechnungen ein und haben Schwierigkeiten, die Veränderungen der Meerestemperaturen, Winde sowie Strömungen im Südlichen Ozean korrekt wiederzugeben. Yue Dong von der Columbia University hat jedoch gezeigt, dass die Klimamodelle zu einer Abkühlung im tropischen Pazifik führen, wenn man diese Parameter mit einbezieht. Infolgedessen »könnten die Prognosen der aktuellen globalen Klimamodelle für die nahe Zukunft überschätzt werden«, heißt es in der Arbeit.

Eine weitere mögliche Erklärung für die Kaltwasserzunge ist, dass der Klimawandel die Winde sowie den Wasserauftrieb im Pazifik verändert – also den Prozess, bei dem kälteres Wasser aus der Tiefe an die Oberfläche wandert. Wie bereits erwähnt, ist der westliche Pazifik von Natur aus wärmer als der östliche. Das liegt zum Teil daran, dass im östlichen Pazifik kaltes Wasser aus der Tiefe aufsteigt und die Oberflächentemperaturen kühler hält. Mit dem fortschreitenden Klimawandel werde dies noch verstärkt, sagt Alexey Fedorov von der Yale University. »Wenn man die Kohlendioxidkonzentration erhöht, sind die Strahlungseffekte [der Sonne] im Westen effektiver, weil das kalte Wasser, das an die Oberfläche kommt, keine mäßigende Wirkung hat.«

Dehnt sich nun diese wärmere Luft über dem westlichen Pazifik aus, steigt sie auf und schwerere, kühlere Luft strömt nach, um sie zu ersetzen. Die dominierenden Winde, die so genannten Passatwinde, wehen dadurch stärker von Ost nach West. Das verstärkt wiederum den Auftrieb von kühlem Wasser im östlichen Pazifik, wodurch eine weitere regionale Abkühlung stattfindet. Dieser Effekt wird jedoch nur selten berücksichtigt. »Es gibt einige anhaltende Verzerrungen in den Klimamodellen, die verhindern, dass sie diesen Mechanismus vollständig abbilden können«, behauptet Fedorov.

Mit Supercomputern das Rätsel lösen

Sehr wahrscheinlich ist eine Kombination aus verschiedenen Mechanismen am Werk, inklusive natürlicher Schwankungen. Um das Rätsel zu lüften, bräuchte es intelligentere Klimamodelle, die die komplexe Situation besser simulieren können – von der Wolkenformation über Meeresströmungen bis hin zu Winden und schmelzenden Gletschern. Für diese neue Generation von Modellen leistet DiNezio mit Hilfe von Supercomputern Pionierarbeit. Erste Simulationen lieferten bereits viel versprechende Ergebnisse: Die Temperaturtrends im Pazifik stimmen besser mit den tatsächlich beobachteten Entwicklungen überein. Doch die computergestützten Modellierungen sind teuer und energieintensiv, und der Zugang zu Supercomputern ist begrenzt, weil die Nachfrage so hoch ist.

Die Antwort darauf, warum die bisherigen Modelle falschliegen, wäre jedoch nur der erste Schritt zur Lösung des Rätsels. Letztlich geht es darum, herauszufinden, ob der Abkühlungstrend vorübergehend oder dauerhaft ist. Einige Forscher glauben, dass die aktuellen Klimamodelle auf lange Sicht Recht behalten werden: Gemäß den Grundlagen der Physik resultiert das Zuführen großer Mengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre darin, dass sich auch der östliche Pazifik irgendwann erwärmen wird. Wann diese Wende eintreten wird, ist wieder eine andere Frage: Manche denken, es könnte in 20 Jahren so weit sein, andere gehen von eher 100 Jahren aus. »Es gibt mehr Mechanismen, die auf eine El-Niño-ähnliche Erwärmung in ferner Zukunft hindeuten«, sagt Sarah Kang vom Ulsan National Institute of Science and Technology in Südkorea.

Von El Niño lernen

Falls es aber tatsächlich zu einer Umkehr kommt, wäre es hilfreich zu wissen, wie sich diese auf die globale Erwärmung auswirkt. Das derzeitige El-Niño-Ereignis, das voraussichtlich noch im laufenden Jahr 2023 seinen Höhepunkt erreichen wird, bietet eine Gelegenheit, diese Frage zu untersuchen: Wenn sich der Pazifik während dieser ENSO-Phase erwärmt, verschiebt sich die Wolkendecke über ihm geografisch. Klimawissenschaftler werden diesen Vorgang genau beobachten. »Wir schauen uns an, wie die Wolken auf ein El-Niño-Ereignis reagieren. Und das kann uns eine Vorstellung davon geben, wie sie auf diese langfristigen Veränderungen reagieren«, sagt Stuecker. Der Meteorologe ist Teil einer internationalen Arbeitsgruppe, die in diesem Jahr gegründet wurde, um die Kaltwasserzunge zu untersuchen. Diese Beobachtungen wiederum werden den Forschenden mehr über den Zusammenhang zwischen der pazifischen Wolkendecke und der erwarteten Erwärmung der Atmosphäre verraten.

Ein Erwärmungstrend im östlichen Pazifik hätte globale Auswirkungen, vor allem wenn er überraschend kommt. Pläne zur Klimaresilienz, die alles von der Wassersicherheit bis zur Landwirtschaft enthalten, könnten fast über Nacht hinfällig werden: »Wenn wir nicht in der Lage sind, den Zeitpunkt vorherzusagen, werden wir sehr plötzlich große Veränderungen in regionalen Klimaauswirkungen erleben, auf die wir nicht vorbereitet sind«, sagt Robert Wills von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich.

Trotz alledem geht es bei der Lösung des Rätsels um die Kaltwasserzunge nicht darum, die Klimamodelle zu widerlegen. Bei den fundamentalen Punkten, von der globalen durchschnittlichen Oberflächentemperatur bis zur arktischen Eisschmelze, lagen sie bemerkenswert richtig. Wenn die Modelle einstimmig davor warnen, dass uns eine wärmere, wildere Zukunft bevorsteht, können wir darauf vertrauen, dass sie Recht haben. Die kalte Zunge ist nur das letzte große Teil des Puzzles. Bezieht man diesen Aspekt mit ein, entsteht ein noch exakteres Bild davon, wie sich das Leben in einer sich erwärmenden Welt verändern wird. Und wie wir uns am besten auf diese Zukunft vorbereiten können.

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