Kambrium: Spitzenräuber bevorzugte weiche Beute
Nach heutigen Maßstäben wäre Anomalocaris canadensis ein eher kleines Raubtier gewesen. Doch zu seiner Zeit vor rund 530 bis 500 Millionen Jahren im Kambrium jagte die »ungewöhnliche Garnele« als Spitzenprädator und größtes Tier durch die kambrischen Ozeane. Entgegen der bisherigen Annahme hatte es die Art aber wohl nicht auf hartschalige Trilobiten abgesehen, wie Russell Bicknell vom American Museum of Natural History in New York in den »Proceedings of the Royal Society B Biological Sciences« vorstellt: Der Biss von Anomalocaris canadensis war dafür wohl zu schwach.
Für ihre Studie hatte die Arbeitsgruppe ein 3-D-Modell des kambrischen Giganten aus Fossilien der Art entwickelt, die in 508 Millionen Jahren alten Ablagerungen in Kanada gefunden wurden, die als Burgess-Schiefer bekannt sind. Da die Abdrücke durch den Versteinerungsprozess flachgedrückt wurden, nutzten Bicknell und Co heute Geißelspinnen und -skorpione als Gegenbeispiel, da sie ähnliche Kieferanhänge wie Anomalocaris canadensis besitzen. Simulationen zeigten dann, dass die Urzeitwesen wohl in der Lage waren, mit ihren segmentierten Gliedmaßen nach Beute zu greifen. Zudem konnten sie diese Art Kiefernklauen sowohl strecken als auch beugen.
Anschließend testeten die Wissenschaftler die Bisskraft der Kieferanhänge mit Hilfe der so genannten Finite-Elemente-Methode, um die Spannungs- und Belastungspunkte dieses Greifverhaltens von Anomalocaris canadensis zu ermitteln. Mit überraschendem Ergebnis: Mit hoher Wahrscheinlichkeit wären die Gliedmaßen beschädigt worden, wenn sie harte Beute wie Trilobiten hätten packen müssen. Paläontologen hatten bislang angenommen, dass zertrümmerte oder beschädigte Trilobiten-Schalen aus fossilen Lagerstätten auf das Raubtier zurückgingen. Doch Bicknell hatte das angezweifelt: »Das passte mir nicht, denn Trilobiten haben ein sehr starkes Exoskelett, das sie im Wesentlichen aus Gestein herstellen, während dieses Tier eher weich und schwammig gewesen wäre.« Die Studie bestätigt damit auch andere Arbeiten zur Mundpartie des kambrischen Jägers, die demnach ebenfalls nicht zum Verzehr harter Beute tauglich gewesen sein soll.
Stattdessen überlegte Bicknell mit seinem Team, was es alternativ gejagt haben könnte. Sie platzierten das 3-D-Modell des Raubtiers in einer virtuellen Strömung und beobachteten, wie Anomalocaris canadensis sich im Wasser bewegte und welche Körperpositionen es bei der Jagd einnehmen konnte. Das Tier war wahrscheinlich ein schneller Schwimmer, das mit ausgestreckten Vorderbeinen im Ozean auf weiche Beute zuschoss.
»Frühere Vorstellungen gingen davon aus, dass diese Tiere die Fauna des Burgess-Schiefers als ein großes Büfett betrachteten und sich auf alles stürzten, was sie wollten. Aber die Dynamik der kambrischen Nahrungsnetze wahr wahrscheinlich viel komplexer war, als wir früher dachten«, sagt Bicknell. Faszinierend war diese frühe Tierwelt der Erde allemal.
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