Ausgestorbene Arten: Das Rätsel der Rüssel-Kamele
Über das weite Grasland laufen Kamele mit Rüssel: Was klingt wie aus einem Fantasy-Film, scheint vor 11 000 oder 12 000 Jahren auf den Steppen Südamerikas Realität gewesen zu sein. Macrauchenia nennen Paläontologen die seltsam aussehenden Tiere mit ihren langen Hälsen und Beinen, die deutlich an Kamele erinnern – bis auf den Rüssel. 500 Kilogramm können diese Tiere gewogen haben, über deren Überreste schon der Vater der Evolutionstheorie Charles Darwin grübelte, als er am 9. Februar 1834 in den Felsen des Naturhafens Puerto San Julian im Süden Patagoniens ihre Bein- und Wirbelknochen fand. So recht konnte er sich keinen Reim darauf machen, tippte aber schließlich auf die ausgestorbenen Mastodon-Rüsseltiere. Nach seiner Rückkehr nach England bat er 1837 den Anatomen Richard Owen um eine Einschätzung. Dieser tendierte eher zu einem "Riesen-Lama".
Als weitere Fossilien dieser Tiere auftauchten, ging das wissenschaftliche Rätselraten weiter. Besonders verwirrend waren Teile des Schädels, in denen die Öffnungen für die Nase nicht wie bei den meisten Säugetieren direkt über den Schneidezähnen, sondern viel weiter oben zwischen den Augenhöhlen liegen. Ähnlich weit oben liegen die Atemöffnungen auch bei heutigen Walen und bei Rüsseltieren. Hatten diese "Kamele" also einen Rüssel wie Elefanten oder wie die ausgestorbenen Mammuts? Lebten Macrauchenia vielleicht im Wasser und atmeten durch ihren Rüssel, den sie wie einen Schnorchel über die Wellen schoben? Ähnelte das Riechorgan möglicherweise sogar der Nase von männlichen See-Elefanten, die ihren kurzen Rüssel zur Paarungszeit mit Blut und Luft kräftig aufplustern, um damit potenzielle Rivalen sowie ihren eigenen Harem zu beeindrucken?
Auch wenn einige Möglichkeiten wie ein Leben unter Wasser schon durch den Körperbau ausgeschlossen werden konnten, schossen die Spekulationen ins Kraut. Zwar ermittelten die Forscher mit der Zeit aus verschiedenen Funden weitere Details aus dem Leben der Tiere. So zeigen die Zähne recht eindeutig, dass Kamelefanten sich vegetarisch ernährten. Die langen Beine und der lange Hals deuten auf ein Leben in weiten Grasländern hin. Dort hilft ein langer Hals enorm beim Fressen von Grünzeug, aber auch beim Entdecken von Feinden im Gras, vor denen man auf langen Beinen schnell fliehen konnte.
Ungewöhnliche Huftiere mit erstaunlichem Körperbau
Solche Anpassungen an den Alltag verraten aber noch wenig über die Verwandtschaftsverhältnisse, die Evolutionsbiologen brennend interessieren. Dazu gaben die Formen der Fossilien einfach nicht genügend her. Dabei hatten Paläontologen inzwischen einige hundert Verwandte der Kamelefanten beschrieben, die sie unter dem Begriff Südamerikanische Huftiere zusammenfassten. Und einige dieser SANUs (South American native ungulates) sahen zwar ganz anders, aber gleichermaßen fremdartig wie Macrauchenia aus. Toxodons waren zum Beispiel riesige Tiere, so schwer wie heute ein modernes Auto, die verblüffend einem Nashorn ähnelten. Nur fehlte ihnen das Horn auf der Schnauze, und der Kopf passte eher zu einem Flusspferd.
Neben den SANU-Tieren gab es in Südamerika noch eine Reihe weiterer, oft recht ungewöhnlicher Tiere. Diese Arten konnten sich dort gut entwickeln, weil Südamerika viele Jahrmillionen lang vom Rest der Welt ziemlich isoliert war. Die letzte Landbrücke dieses Kontinents löste sich vor etwa 35 Millionen Jahren von der Antarktis. Erst vor drei oder vier Millionen Jahren bildete sich der Isthmus von Panama, der seither Südamerika mit Nordamerika verbindet. Über diese Landbrücke kamen etliche Arten aus dem Norden in den Süden, in dem sich in vielen Jahrmillionen der Isolation ein breites Spektrum verschiedener Arten mit zum Teil recht erstaunlichem Körperbau entwickelt hatte. Einige Arten dieser Gruppen verschwanden damals, weil sie in der Konkurrenz mit den Neuankömmlingen unterlagen. Viele Arten konnten sich behaupten, einige drangen sogar in den Norden vor.
Die Situation änderte sich grundlegend, als am Ende der letzten Eiszeit die ersten Menschen Südamerika erreichten. Vor allem die großen Arten verschwanden rasch. Riesenbiber und die mit nach unten gerichteten Stoßzähnen ausgestatteten Gomphoterien-Rüsseltiere aus der Elefantenverwandtschaft waren genauso betroffen wie Riesenfaultiere und Säbelzahntiger, Riesen-Gürteltiere und natürlich auch die SANUs. Vor etwa 11 000 Jahren waren diese Arten verschwunden, von Kamelefanten, Toxodons und allen anderen Großtieren blieben nur noch Fossilien übrig.
"Heute lässt sich kaum noch beweisen, ob wirklich die Menschen beim Aussterben dieser Arten ihre Speere im Spiel hatten"Michael Hofreiter
"Heute lässt sich kaum noch beweisen, ob wirklich die Menschen beim Aussterben dieser Arten ihre Speere im Spiel hatten", erklärt der Paläogenetiker Michael Hofreiter von der Universität in Potsdam. Es gibt aber einige Indizien, die einen Zusammenhang nahelegen. So starben die großen Tiere nicht nur in Südamerika relativ kurz nach der Ankunft der ersten Menschen aus. Auch in Nordamerika und Australien sticht diese Reihenfolge ins Auge. Neuseeland gilt als eines der jüngsten Beispiele für solche Zusammenhänge. Die Polynesier kamen dort vor rund 800 Jahren an. Und sie rotteten rasch alle großen Vögel und auch einen Teil der kleineren Arten aus, beweisen Forscher wie Alan Tennyson vom Nationalmuseum Te Papa in der Hauptstadt Neuseelands Wellington mittlerweile eindeutig.
In Süd- und Nordamerika, Australien und Eurasien fehlen solche eindeutigen Beweise zwar, Hinweise auf einen Zusammenhang aber gibt es durchaus. So zeigen verschiedene Funde, dass die Zweibeiner die großen Tiere jagten. Und mehr als einmal überlebten Arten dieser Großtiere auf abgelegenen Inseln, die der Mensch nur schwer erreichte. So verschwanden die Mammuts mit dem Ende der letzten Eiszeit vor etwa 11 000 Jahren aus Europa und Asien, überlebten jedoch auf der Wrangel-Insel in Ostsibirien bis vor rund 3700 Jahren. Aus Alaska verschwanden sie vor etwa 14 000 Jahren, während sie auf den Pribilof-Inseln nördlich der Aleuten noch vor 5600 Jahren zu Hause waren. Ganz ähnlich ging es auch den Riesenfaultieren, die in Südamerika vor rund 11 000 Jahren ausstarben, doch auf den Inseln der Karibik noch vor 5000 Jahren lebten. "Auch wenn Beweise fehlen, legen solche Zusammenhänge die Vermutung nahe, dass Menschen am Verschwinden der großen Tiere nicht ganz unbeteiligt waren", überlegt Michael Hofreiter.
Molekulargenetik verrät Herkunft
Er selbst beschäftigt sich allerdings eher mit der Herkunft dieser Arten. Dabei stützt sich der Paläogenetiker nicht so sehr auf den Körperbau der Tiere, der bei Kamelefanten und Co ohnehin keine Entscheidung über die Verwandtschaft ermöglicht, sondern auf die Methoden der Molekulargenetik. "Immerhin gibt es durchaus Chancen, Erbgut dieser Tiere zu isolieren, weil einige Arten erst vor gut 10 000 Jahren ausgestorben sind", erläutert Michael Hofreiter. So oft der Spezialist für altes Erbgut es aber probierte, DNA aus den zwischen Bolivien und Argentinien gefundenen Knochen von Kamelefanten herauszuholen, so oft scheiterte er aus einem naheliegenden Grund daran: Der Zahn der Zeit nagt umso kräftiger am Erbgut, je wärmer und feuchter das Klima ist. Mit der Zeit wird die DNA dabei so klein gehackt, dass die übrig gebliebenen Minischnipsel des Erbguts für eine Analyse viel zu klein sind.
Die Forschung zu den Verwandtschaftsverhältnissen schien also in einer Sackgasse zu stecken. Bis Frido Welker vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig und seine Kollegen im Jahr 2015 einen Ausweg zeigten. Deutlich besser als DNA bleiben normalerweise Strukturproteine wie das Kollagen erhalten. Diese Substanz wiederum stellt rund ein Drittel aller Proteine im Körper und kommt in sehr großen Mengen in der Haut und in Knochen vor. Also genau in dem Gewebe, das dem Zahn der Zeit am besten trotzt. Kollagen baut sich ähnlich wie das Erbgut aus kleinen Biomolekülen auf, die sich zu langen Ketten miteinander verbinden können. Nur nutzt die DNA dazu vier verschiedene Nukleotide, während Proteine ihr Grundgerüst aus 20 verschiedenen Aminosäuren aufbauen. Das Kollagen eines Säugetiers wiederum ist rund 2000 Aminosäuren lang. In welcher Reihenfolge diese Bausteine aufeinander folgen, können die Forscher bestimmen.
Daher versuchten die Wissenschaftler aus den Knochen von SANU-Tieren Proteine herauszulösen. In den meisten ihrer 48 Proben waren die Proteine bereits zu stark abgebaut. Doch in jeweils zwei Knochen von Macrauchenia und von Toxodon hatte das Team Erfolg, dort war das Kollagen noch sehr gut erhalten. Mit den Methoden der Biochemie bestimmten sie aus diesen Proben die Reihenfolge, in denen die 20 unterschiedlichen Aminosäuren in den Ketten des Proteins aufeinander folgten. Diese Sequenz von Proteinen ähnelt verblüffend einem Barcode auf Supermarktwaren. Genau wie dort ein bestimmtes Strichmuster für ein Produkt steht, sind bestimmte Proteinsequenzen in der Biologie für Tiergruppen typisch. Ein Vergleich der Kollagen-Barcodes der Fossilien mit denen heute lebender Tiere warf zum ersten Mal ein Schlaglicht auf die Verwandtschaft der SANU. Toxodon und Macrauchenia sind entfernt mit Pferden, Tapiren und Nashörnern verwandt, berichteten die Forscher in der Zeitschrift "Nature".
Barcode in den Knochen
Damit haben die Forscher auch eine Methode entwickelt, mit der sie in Zukunft weitere Geheimnisse im Stammbaum der Artenvielfalt lüften wollen. "Kollagen dürfte sich in Dauerfrostböden bis zu zwei oder drei Millionen Jahre lang halten", vermutet Frido Welker. DNA-Analysen reichen dagegen auch unter günstigen Bedingungen nur ein paar hunderttausend Jahre zurück. Dieser Zeitraum aber deckt sich gut mit dem Verschwinden der Kamelefanten vor vielleicht 11 000 Jahren. Michael Westbury und Michael Hofreiter von der Universität Potsdam sowie Ross MacPhee vom American Museum of Natural History in New York wollten daher mit ihren Kollegen die Suche nach dem Erbgut dieser Tiere nicht aufgeben. "Schließlich erlauben Erbgutanalysen sehr detaillierte Aussagen über die Verwandtschaftsverhältnisse", schildert Michael Hofreiter einen wichtigen Grund für die aufwändige Suche.
Normalerweise hinterlassen im Lauf der Jahrtausende vor allem Mikroorganismen, aber auch größere Lebewesen bis hin zum Entdecker der Fossilien oder dem Kurator im Museum ihr Erbgut auf den Knochen, die untersucht werden sollen. Daher fischen die Forscher aus den Überbleibseln längst verstorbener Lebewesen zunächst einmal die Fragmente heraus, die einem Verwandten ähneln. In diesen Stückchen wird dann die Reihenfolge der Bausteine bestimmt, anschließend können die Fragmente zu größeren Teilen und möglicherweise sogar zu einem kompletten Erbgut zusammengesetzt werden.
Allerdings hatten die Kollagenanalysen bereits gezeigt, dass es keine nahen Verwandten und daher auch keine ähnlichen Barcodes mehr gibt. Die Forscher mussten daher im Trüben fischen, holten aus den Proben alles Erbgut, das sie erwischten, und analysierten es. So erhielten sie ein riesiges Sammelsurium von Sequenzen verschiedenster Organismen, die im Lauf der Zeit mit dem untersuchten Knochen in Berührung gekommen waren. Diese verglichen sie mit verschiedenen Barcodes von Pferden und Nashörnern, die zu den zwar entfernten, aber nächsten noch lebenden Verwandten der Kamelefanten gehören. Obwohl die Forscher die Überreste von elf Toxodons und sechs Kamelefanten untersuchten, die in verschiedenen Regionen Südamerikas entdeckt worden waren, wurden sie nur einmal fündig: In einem in der Baño-Nuevo-1-Höhle weit im Süden Chiles gefundenen Zehenknochen eines Kamelefanten fanden sich auffallend viele Ähnlichkeiten.
Das Erbgut aus diesem Kamelefanten analysierten die Forscher dann nach allen Regeln ihrer Kunst weiter. Sie verglichen es mit anderen Barcodes aus Pferden und Nashörnern, aber auch mit noch deutlich entfernteren Verwandten wie Rindern und Menschen. Am Ende konnten sie so gut 80 Prozent des Erbguts aus den Mitochondrien genannten Minikraftwerken in den Zellen der Kamelefanten rekonstruieren, wie sie nun im Fachjournal "Nature Communications" präsentieren. Diese Sequenz wiederum bestätigt das Ergebnis der Kollagenanalyse von 2015: Die Kamelefanten und ihre Verwandten sind eine Schwestergruppe der Unpaarhufer, von denen heute noch Pferde, Nashörner und Tapire leben. "Aus dieser Sequenz konnten wir auch ablesen, seit wann die Kamelefanten ihre eigenen Wege gingen", berichtet Michael Hofreiter. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent trennten sich die Wege dieser Tiere und der Unpaarhufer vor 57 bis 78 Millionen Jahren. Genau wie die Insektenfresser, Fledertiere, Unpaarhufer, Paarhufer, Wale, Schuppentiere und Raubtiere bildeten die Kamelefanten und ihre Verwandten seitdem eine eigene Ordnung, die Zoologen Litopterna nennen. Es scheint daher gut möglich, dass mit dem Auftauchen der ersten Menschen in Südamerika eine große Tiergruppe verschwand, deren erste Vertreter noch den Dinosauriern begegnet waren, die vor 66 Millionen Jahren ausstarben.
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