Nukleare Abschreckung: Braucht Deutschland eigene Atomwaffen?

Die Drohung ist unmissverständlich: Wer als Erstes ein anderes Land mit den mächtigsten Waffen der Welt angreift, Millionen Menschen tötet, ganze Städte auslöscht und die Umwelt radioaktiv verseucht, stirbt als Zweiter, mit denselben Folgen für seinen Staat. Dieses »Gleichgewicht des Schreckens«, das Versprechen der garantierten gegenseitigen Zerstörung durch Atomwaffen, hat bislang einen Dritten Weltkrieg verhindert – und Ländern wie Deutschland in der Vergangenheit einige Ängste genommen.
Denn bisher konnte man sich auf die USA verlassen, die über etwa 5000 Atomsprengköpfe verfügen. Rund um die Uhr hält das US-Militär zirka 400 Atomraketen vom Typ Minuteman III in Alarmbereitschaft. 14 Atom-U-Boote der so genannten Ohio-Klasse kreuzen mit weiteren jederzeit abschussbereiten Raketen durch die Weltmeere. Hinzu kommen reichlich B52- und Tarnkappenbomber, die US-Atomwaffen an ihre Ziele tragen können, sowie Tornados der Bundeswehr am Luftwaffenstandort Büchel. Der nukleare Schutzschirm, den die USA über Deutschland und die anderen NATO-Partner aufspannen, ist unerlässlich für die deutsche Sicherheit. Und er galt als selbstverständlich – zumindest bis heute.
Seit Ende Januar 2025 räumt der neue US-Präsident Donald Trump jedoch Tag für Tag alte Selbstverständlichkeiten beiseite. Nicht nur reklamiert er Kanada und das zu Dänemark gehörende Grönland für die Vereinigten Staaten, also Territorien von Bündnispartnern. Er fällt auch der Ukraine in den Rücken, zeigt Bewunderung für den russischen Diktator Wladimir Putin und stellt den Schutz von NATO-Verbündeten grundsätzlich in Frage. »Wenn sie nicht zahlen, werden wir sie nicht schützen«, sagte Trump Anfang März 2025 im Weißen Haus unter Anspielung auf die höheren Militärausgaben, die er von Europa fordert.
Die Schreckensszenarien gehen sogar so weit, dass sich Trump mit Russland verbünden und den westlichen Schutzschirm einklappen könnte. Zugleich rüstet Russland westlichen Geheimdiensten zufolge viel stärker auf, als es der Ukrainekrieg erfordern würde. Von Vorbereitungen auf einen Generalangriff gen Westen in den 2030er Jahren ist die Rede. Alles nur Säbelrasseln – oder doch nicht?
Die Verunsicherung über den drohenden Zangengriff aus West und Ost reicht jedenfalls so tief, dass nun in Deutschland einmal mehr die Frage debattiert wird, wie ein nuklearer Schutzschirm ohne die USA aussehen könnte. Sind Frankreich und Großbritannien mit ihren nationalen Arsenalen künftig in der Lage, auch ihre Nachbarländer und europäische Verbündete zu schützen? Oder sollte Deutschland ein Tabu brechen und eigene Atomwaffen besitzen?
Wie weit reicht ein französischer Schutzschirm?
Weil die Wartung des britischen Atomwaffenarsenals weitgehend von den USA abhängt, richten sich viele Hoffnungen auf den französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Dieser hat im März 2025 sein Angebot aus dem Jahr 2020 erneuert, »einen strategischen Dialog dazu zu eröffnen, wie unsere Kapazitäten zur nuklearen Abschreckung auch unsere europäischen Verbündeten schützen können«. Frankreichs Force de dissuasion nucléaire française (kurz: Force de Frappe) verfügt über knapp 300 Atomsprengköpfe. Rund 50 davon könnten mit Flugzeugen eingesetzt werden, während die rund 250 größeren Atomraketen auf U-Booten in den Weltmeeren unterwegs sind.
»Bisher hat die Bundesregierung Angebote aus Frankreich immer mit dem Hinweis abgelehnt, dass wir ja den US-amerikanischen nuklearen Schutzschirm haben und im Rahmen der nuklearen Teilhabe eingebunden sind«, sagt Liviu Horovitz, der bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin als Experte für nukleare Verteidigungsstrategien arbeitet. Bei dieser Ablehnung werde es unter der neuen Bundesregierung höchstwahrscheinlich nicht bleiben. Er sehe aber mit Sorge, dass in die französischen Angebote zu viel hineininterpretiert werde. »An der Position der französischen Regierung hat sich substanziell eigentlich wenig geändert – es geht explizit nicht darum, dass Deutschland in die unmittelbare Kontrolle über die französischen Atomwaffen einbezogen wird«, betont Horovitz.
Zur nuklearen Teilhabe, wie die USA sie bislang praktiziert, gehören auch gemeinsame Kommandostrukturen. Die Franzosen setzen dagegen eher allgemein auf eine stärkere Zusammenarbeit: »Da kann es zum Beispiel um die Teilnahme der Bundeswehr an französischen Manövern gehen oder darum, dass französische Nuklearbomber auch in Deutschland stationiert werden, um sie breiter im Raum zu verteilen und damit im Kriegsfall einem Gegner ihre Zerstörung schwerer zu machen.«
Im Gegensatz zu den USA könne Frankreich keine umfassende nukleare Abschreckung bieten. Dazu fehle dem Nachbarland das ganze Spektrum kleinerer, »taktischer« Atomwaffen. »Im Westen haben nur die USA ein so breites Arsenal, dass sie im Konfliktfall verschiedene nukleare Eskalationsstufen durchlaufen können – und das ist der Kern der erweiterten Abschreckung«, erläutert Horovitz.
»Macron hat deutlich gemacht, dass es keine europäische Atomwaffenstrategie geben wird«Joachim Krause, Politikwissenschaftler
Das Maximum, das derzeit vorstellbar sei, bestünde in einem zusätzlichen Kriterium für den Einsatz der eigenen Atomwaffen, falls ein europäischer Partner wie Deutschland angegriffen wird und gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrags um Hilfe bittet. »Macron hat deutlich gemacht, dass es keine europäische Atomwaffenstrategie geben wird, sondern dass der französische Präsident die alleinige Kompetenz zum Einsatz beibehält, eine Garantie aber auf andere Europäer auszudehnen bereit ist«, sagt der Politikwissenschaftler Joachim Krause, der von 2002 bis 2022 das Institut für Sicherheitspolitik an der Christian-Albrechts-Universität Kiel geleitet hat.
So könnten Deutschland und andere europäische Staaten eine nukleare Aufrüstung Frankreichs finanzieren, sofern Paris bereit ist, eine Form der nuklearen Teilhabe nach dem Muster der USA zuzulassen, urteilt Krause. Er warnt jedoch, dass ein Regierungswechsel in Frankreich einem solchen Szenario schnell ein Ende setzen kann. Denn Macron sei nur bis 2027 Präsident: »Sollte dann Frau Le Pen Präsidentin werden, wäre diese Garantie hinfällig, denn ihre Nähe zu Russland ist hinreichend bekannt.«
Die ganze EU als Atommacht?
Eine Alternative, die inzwischen wieder diskutiert wird, stand 1957 schon einmal im Raum. Damals gab es Überlegungen für ein gemeinsames westeuropäisches Atomwaffenprogramm, entwickelt von Italien, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Westdeutschland und Frankreich. Bereits 1958 stieg Frankreich unter Charles de Gaulle aus dem Vorhaben aus und startete den nuklearen Alleingang seines Landes. Und die US-Amerikaner fingen die europäischen Bestrebungen damit ein, dass sie die nukleare Teilhabe anboten.
Dass sich die 27 EU-Staaten auf eine EU-Atombewaffnung einigen könnten, ist schwer vorstellbar, zumal Malta, Österreich und Irland bei den Vereinten Nationen ein komplettes Atomwaffenverbot unterstützen. Horovitz hält die EU als Atommacht zwar für eine »in geopolitischer Hinsicht interessante Idee«, aber eben nur in der Theorie: »Dazu müssten wir uns vorstellen, es gäbe einen Zentralstaat in Europa, also die Vereinigten Staaten von Europa, mit einer Zentralregierung, die über eine starke konventionelle Armee verfügt und zusätzlich über einige hundert Nuklearwaffen.«
Um bei der nuklearen Abschreckung glaubwürdig zu sein, müsste ein EU-Vertreter nämlich binnen Stunden oder gar Minuten entscheiden können. »Wir schaffen es heute nur im Extremfall, geringfügige gemeinsam Schulden aufzunehmen, und selbst für vergleichsweise einfache politische Kompromisse verhandeln Regierungschefs in Brüssel ganze Nächte durch«, gibt Horovitz zu bedenken. Die Wahrscheinlichkeit eines EU-Zentralstaats mit Atomwaffen sieht er bei »nahe null«.
Das führt die künftige Bundesregierung – falls sie wirklich selbst zur nuklearen Abschreckung fähig sein wollte – zu einer harten Erkenntnis: Dazu sind deutsche Atomwaffen nötig.
Dürfte Deutschland rechtlich Kernwaffen bauen?
Um diesen Weg zu gehen, müsste die Bundesregierung die bestehenden Verträge zur Kernwaffennutzung aufkündigen. Deswegen sieht der Nuklearexperte Uwe Stoll, bis 2024 technischer Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, die aktuelle Diskussion über eine deutsche Atombewaffnung als »rein hypothetisch« an. »Wir sind Mitglied im Atomwaffensperrvertrag von 1968 und haben uns 1990 im Zwei-plus-Vier-Vertrag gegenüber den Alliierten zum Verzicht verpflichtet«, sagt er. »So einen grundlegenden Kurswechsel könnte man auch unmöglich im Geheimen machen, das heißt, man müsste aus den Verträgen aussteigen – und dass das passiert, kann ich mir nicht vorstellen.«
Der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) schreibt vor, dass außer den USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien keine neuen Länder Nuklearwaffen entwickeln und besitzen dürfen – und diese ihre Waffen nicht an andere Staaten abgeben. Nur Indien, Israel, Pakistan, Südsudan und Nordkorea sehen sich nicht an den Vertrag gebunden.
Philipp Sauter, Experte für Nuklearrecht am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, hält den Nichtverbreitungsvertrag für die Grundlage deutscher Politik: »Nach dessen Artikel II ist es Deutschland untersagt, Atomwaffen zu entwickeln, anzufertigen oder zu kontrollieren.« Allerdings enthalte der NVV eine Klausel, wonach man von dem Vertrag zurücktreten könne, wenn »durch außergewöhnliche, mit dem Inhalt dieses Vertrags zusammenhängende Ereignisse eine Gefährdung der höchsten Interessen ihres Landes eingetreten ist«. Der Austritt müsste den anderen 188 Vertragsparteien des NVV sowie dem UN-Sicherheitsrat mitgeteilt werden und würde erst nach drei Monaten wirksam. »Würde Deutschland aus dem NVV austreten, dann würde ich auch den Zwei-plus-Vier-Vertrag nicht als weiteres Hindernis sehen«, sagt Sauter.
Die technischen Grundlagen für deutsche Kernwaffen sind da
Rein technisch betrachtet ist Deutschland in der Lage, Kernwaffen zu bauen. »Was nötig ist, um das Material herzustellen, haben wir in Deutschland als Rohstoff und als Technologie verfügbar«, sagt Stoll.
Damit bezieht er sich auf noch nicht ausgebeutete Uranvorkommen im Erzgebirge und im Elbsandsteingebirge. »Wir haben den Abbau zugemacht, aber die DDR war mit der so genannten SDAG Wismut einer der größten Uranproduzenten der Welt«, betont Stoll. Auch für die nötige Anreicherung auf einen Gehalt von 95 Prozent von Uran-235 seien die technischen Voraussetzungen vorhanden. »Die Zentrifugentechnologie, die dabei zum Einsatz kommt, ist ja sogar in Deutschland entwickelt worden«, sagt er. »Wenn eine Regierung das wirklich wollen würde, könnte man solche Anlagen bauen.«
Ein anderer Weg zu waffenfähigem Spaltmaterial besteht laut Stoll darin, in einem eigens errichteten Kernreaktor Natururan in spaltbares Plutonium-239 zu verwandeln: »So einen Reaktor müsste man erst bauen. Damit hat Deutschland zwar keine Erfahrung, doch rein technisch ist das keine unüberwindbare Hürde.« Mit diesem Reaktor sei die Herstellung ganz einfach. »Man schiebt das Natururan rein, und nach einer Woche kann man praktisch reines Plutonium-239 abtrennen.«
»Alle dazu früher mal geeigneten Anlagen sind stillgelegt und rückgebaut worden, die damaligen Experten befinden sich im Ruhestand oder auf dem Friedhof«Joachim Krause, Politikwissenschaftler
Experten halten solche Szenarien dennoch für wirklichkeitsfremd. Die ersten Schritte hin zu Atomwaffen seien vielleicht machbar, auch der Bau entsprechender Raketen, sagt Sicherheitsforscher Krause. Es gebe in Deutschland allerdings keine Labore, die dauerhaft mit waffenfähigem Material umgehen könnten. »Alle dazu früher mal geeigneten Anlagen sind stillgelegt und rückgebaut worden, die damaligen Experten befinden sich im Ruhestand oder auf dem Friedhof.« Um Atommacht zu werden, brauche ein Land auch »eine weltraumbasierte Komponente der strategischen Aufklärung und Zielerfassung – das haben wir nicht«.
Zudem seien große hochseetaugliche U-Boote nötig, die in der Lage seien, vertikale Abschussgeräte für Raketen aufzunehmen und einen Zweitschlag durchzuführen: »Diese U-Boote besitzen wir noch gar nicht, können sie bislang nicht bauen und haben sie auch noch nicht erprobt.« Zu den U-Booten gehörten wiederum entsprechende Marineverbände, »am besten mit Flugzeugträger«, und für die Lagerung von Kernwaffen sowie die Kontrolle und Koordination von Einsätzen brauche es an Land »hart verbunkerte Einrichtungen«. »Das, was die Bundesregierung früher an Bunkern hatte, ist alles außer Dienst gestellt worden und verfällt nach und nach.« Zudem müsste eine neue Atommacht wahrscheinlich auch Tests machen. »Die große Frage ist: Wo?«
Krause urteilt harsch: »Es ist leicht, über Kernwaffen zu schwadronieren, die man nicht hat.« Deutschland werde »nicht einmal innerhalb von zehn Jahren eine Nuklearstreitmacht aufstellen können, die auch nur annähernd die Fähigkeiten Frankreichs oder Großbritanniens spiegeln könnte.« Vom außenpolitischen Schaden ganz zu schweigen: Mit einem Ausstieg aus dem Atomwaffensperrvertrag und einem Alleingang würde sich Deutschland in der EU und international isolieren.
Nukleare Vorsorge als Lösung?
Was neben einer engeren – wenn auch nicht wirklich verlässlichen – Bindung an Frankreich als Option bleibt, bezeichnet der Politologe und Sicherheitsforscher Fabian Hinz vom International Institute for Strategy Studies in London als »nuclear hedging«, also nukleare Vorsorge. Das würde bedeuten, über alle nötigen Kompetenzen und Anlagen zu verfügen, die zur Herstellung von Atomwaffen nötig sind, sie bis auf Weiteres allerdings nicht einzusetzen. »Deutschland muss nicht morgen zur Atommacht werden, aber es sollte sich die Tür zu dieser Option nicht vorschnell verschließen«, schreibt Hinz in einem Gastbeitrag für »Die Zeit«.
Der Wissenschaftler verweist zum Beispiel darauf, dass die Firma Urenco in Gronau schon lange eine Uran-Anreicherungsanlage betreibt. »Auf der Basis dieses technologischen Knowhows könnte eine nationale Anreicherungskapazität für höhere Anreicherungsgrade aufgebaut werden, die zivilen Zwecken dient, im Ernstfall jedoch rasch umgewidmet werden könnte.« Der Bau einer solchen Anlage ließe sich sogar sachlich damit begründen, dass man das für den Forschungsreaktor II in München nötige hochangereicherte Uran nicht länger aus Russland beziehen wolle.
»Die Bundesregierungen haben wirklich alle Optionen verbaut, die heute hätten helfen können, der russischen Nuklearbedrohung irgendetwas Eigenes entgegensetzen zu können«Joachim Krause, Politikwissenschaftler
Deutschland verfüge bereits über ein breites Spektrum an Schlüsseltechnologien und wissenschaftlichen Kompetenzen – von hoch spezialisierter Neutronenforschung bis hin zu metallurgischer Präzisionstechnik. Ein Hedging-Ansatz, urteilt der Sicherheitsforscher, könne »als stille Lebensversicherung dienen«.
Krause hingegen glaubt nicht, dass eine schnelle Aufholjagd möglich ist: »Die Bundesregierungen haben seit den späten 1990er Jahren wirklich alle Optionen verbaut, die heute hätten helfen können, der russischen Nuklearbedrohung irgendetwas Eigenes entgegensetzen zu können – und sei es auch nur in der Theorie.« Deutschland sei daher auf Gedeih und Verderb auf die USA und Frankreich angewiesen.
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