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Psychosomatik: Kann die Persönlichkeit krank machen?

Der eine frisst seinen Ärger in sich hinein, der andere geht beim kleinsten Ärgernis in die Luft. Haben diese Eigenschaften etwas damit zu tun, ob ein Mensch an Krebs erkrankt oder einen Herzinfarkt bekommt?
Junge Frau legt eine Hand auf ihre Brust
Körperliche Beschwerden können psychische Ursachen haben. (Symbolbild)

Die Biografie, die 1977 beim Kindler Verlag erscheint, ist in ihrer Bitterkeit schwer zu ertragen. Der Autor, der sich Fritz Zorn nennt, rechnet darin schonungslos mit seiner Familie ab. Kurz zuvor ist bei ihm ein bösartiger Tumor am Hals entfernt worden. Zorn sieht die Ursache der Wucherung in seiner Erziehung: Er wuchs in einer reichen Schweizer Industriellenfamilie auf, in einer Atmosphäre, die er in seinem Buch als »prohibitiv harmonisch« bezeichnet. Meinungsverschiedenheiten seien verpönt gewesen, strittige Themen gemieden worden. Am wichtigsten war es, nicht anzuecken, höflich zu sein, immer ein freundliches Gesicht zu zeigen. An einer Stelle schreibt er, er sei »zu Krebse erzogen worden«.

Zorn sollte die Veröffentlichung seines Manuskripts nicht mehr erleben. Er starb kurz zuvor, im Alter von 32 Jahren, an seiner Erkrankung. Seine Aufzeichnungen avancierten in den 1980er Jahren unter dem Titel »Mars« nicht nur in der Schweiz zum Kultbuch. »Er hat darin einem Gedanken Ausdruck verliehen, der zu dieser Zeit sehr populär wurde: die Vorstellung, dass unbewältigte Konflikte oder unterdrückte Gefühle zu einer Krebserkrankung führen können«, erklärt die Magdeburger Medizinhistorikerin Bettina Hitzer. »Er schreibt beispielsweise, sein Tumor am Hals sei das Ergebnis aller Tränen, die er nicht geweint, sondern verschluckt habe.«

In der Wissenschaft entstand in dieser Zeit die These, ganz bestimmte Persönlichkeitsmerkmale erhöhten das Risiko einer Krebserkrankung. Vertreten wurde sie zum Beispiel von der US-amerikanischen Psychologin Lydia Temoshok und ihrem Kollegen Bruce Heller. Die beiden machten Anfang der 1980er Jahre den Begriff der »Typ C«-Persönlichkeit populär – das »C« steht für »cancer prone«, also krebsanfällig. Darunter verstanden sie Menschen, die sich Autoritäten unterordnen und negative Gefühle wie Ärger unterdrücken. Andere Wesenszüge standen im Verdacht, zur Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Stoffwechselleiden wie Diabetes beizutragen. Doch was ist an diesen Theorien dran?

Gibt es so etwas wie eine Krebspersönlichkeit?

Die Idee, dass Tumorerkrankungen in der Psyche wurzeln, findet sich bereits bei Galenos von Pergamon. Der berühmte griechische Arzt hatte im 2. Jahrhundert n. Chr. die »Vier-Säfte-Lehre« weiterentwickelt, mit der man seinerzeit die Entstehung von Krankheiten zu erklären versuchte. Er nahm an, dass ein Übermaß an »schwarzer Galle« einerseits zu Melancholie führt und andererseits Krebs verursachen kann. »So entstand eine Verbindung von einem Temperament – nämlich der Melancholie – und der Krebskrankheit«, erläutert Bettina Hitzer von der Universität Magdeburg. Anklänge an diese Vorstellung finden sich bis in die Neuzeit. So vermutete man noch im 18. Jahrhundert, traurige Lebensereignisse wie der Tod eines Elternteils könnten Tumorerkrankungen auslösen.

Der Berliner Pathologe Rudolf Virchow erkannte Mitte des 19. Jahrhunderts, dass die Wucherungen auf Fehlfunktionen der Zellen zurückgehen. »Der Gedanke, dass Gefühle dafür mitverantwortlich sein könnten, spielte in den Jahrzehnten danach kaum noch eine Rolle«, sagt die Historikerin Hitzer, die sich diesem Thema in ihrer Habilitationsschrift gewidmet hat. Das änderte sich Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem zunehmenden Einfluss der Psychosomatik. Diese machte zudem die Idee populär, dem Krebs wohne eine Art symbolische Botschaft inne – eine Vorstellung, die bei Zorn ebenfalls anklingt. So schlossen US-Forscher aus ersten wissenschaftlichen Studien in den 1950er Jahren, dass Frigidität oder Konflikte in der sexuellen Identität bei Frauen zu Gebärmutterhalskrebs führen können. »Diese Untersuchungen gerieten jedoch bald wegen methodischer Mängel in die Kritik«, berichtet Hitzer.

»Psychologische Krankheitstheorien sind machtvolle Instrumente, um die Schande auf die Kranken abzuwälzen«Susan Sontag, Schriftstellerin

Die Forschung verbannt derartige Deutungen heute in das Reich der Mythen. Auch die These einer Typ-C- oder Krebspersönlichkeit hielt der wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. So hat die niederländische Psychologin Eveline Bleiker zusammen mit Kollegen kurz vor der Jahrtausendwende die Eigenschaften von fast 10 000 gesunden Frauen erfasst. 13 Jahre später hatten 217 von ihnen Brustkrebs bekommen. Interessant daran: Sie unterschieden sich in keinem einzigen der erfragten Persönlichkeitsmerkmale – wie Ärger, Optimismus, Emotionskontrolle – von den Teilnehmerinnen, die gesund geblieben waren.

Derartige Langzeitstudien werden als prospektiv bezeichnet: Die psychologischen Tests erfolgen zu Studienstart, also vor dem Beginn der Erkrankung. Bei retrospektiven Untersuchungen werden dagegen Patienten und Patientinnen rückblickend nach Einstellungen und Verhaltensweisen vor der Diagnose befragt. Dabei kann es zu Verfälschungen kommen, denn wer Krebs hat, sucht nach einer Antwort auf die Frage »Warum gerade ich?«. Das verändert auch den Blick auf das bisherige Leben, das häufig als Begründung herhalten muss. Und es könnte erklären, warum manche der frühen Studien durchaus Hinweise auf eine Krebspersönlichkeit fanden. »Unter Onkologinnen und Onkologen gibt es heute jedoch meines Wissens niemanden mehr, der dieses Konzept unterstützt«, sagt Hitzer.

Einige Menschen klammern sich dennoch daran. Sie nehmen die Idee zum Anlass, ihr Leben zu ändern, und gewinnen auf diese Weise ihrer Krankheit einen Sinn ab. So war es auch bei Fritz Zorn, der eigentlich Fritz Angst hieß – passender hätte es sich wohl kein Romanautor ausdenken können, war doch die Angst anzuecken charakteristisch für seine ersten drei Lebensjahrzehnte. »Die Bedrohung durch den Tod ließ mich auf den Gedanken kommen, dass ich vielleicht, falls ich dem Tod am Ende doch noch entrinnen sollte, nun endlich eine Chance für eine wirkliche Auferstehung hätte, nämlich die Auferstehung zu einem neuen Leben«, heißt es in seiner Biografie.

Wer Krebs hat, sucht nach einer Antwort auf die Frage: Warum gerade ich?

Andere finden den Gedanken schrecklich, an ihrer Erkrankung in gewisser Weise auch noch selbst schuld zu sein. So etwa die US-Schriftstellerin Susan Sontag, die mit 42 Jahren an Brustkrebs erkrankte. »Psychologische Krankheitstheorien sind machtvolle Instrumente, um die Schande auf die Kranken abzuwälzen«, schrieb sie 1977 in ihrem Essay »Krankheit als Metapher«. »Patienten, die darüber belehrt werden, dass sie ihre Krankheit unwissentlich selbst verursacht haben, lässt man zugleich fühlen, dass sie sie verdient haben.«

Zu den psychologischen Krankheitstheorien ist zudem die These zu zählen, Stress könne Tumorerkrankungen auslösen. Demnach wären Menschen besonders krebsgefährdet, die auf Grund ihrer Persönlichkeitseigenschaften oder kontraproduktiver Stressbewältigungsmechanismen schlecht mit Herausforderungen zurechtkommen.

Wie Stress das Immunsystem schwächt

Zunächst einmal klingt diese Vermutung durchaus plausibel: Bei Stress wird in der Nebennierenrinde Kortisol freigesetzt. Das Molekül kann an der Oberfläche von Abwehrzellen andocken und so die Arbeit des Immunsystems regulieren. Chronischer Stress führt langfristig zu einer so genannten Kortisolresistenz: Das Hormon verliert seine steuernde Wirkung auf das Immunsystem, das daraufhin an Durchschlagskraft einbüßt. Möglicherweise können die körpereigenen Abwehrtruppen dadurch entartete Zellen nicht mehr ausreichend in Schach halten. Tatsächlich zeigen Studien an Mäusen, dass chronischer Stress die Immunantwort gegen Tumoren beeinträchtigt. Die Zellwucherungen gestresster Nager wachsen so schneller und bilden leichter Metastasen.

Welche Relevanz solche Ergebnisse für den Menschen haben, ist unklar. So fand eine finnische Studie mit Daten von rund 116 000 Europäern und Europäerinnen keinen Zusammenhang zwischen Stress im Job und verschiedenen Krebsarten. Eine Arbeitsgruppe aus China kam dagegen bei einer Auswertung von Studien mit insgesamt fast 300 000 Personen zum entgegengesetzten Resultat. Auch hinsichtlich traumatisierender Ereignisse wie des Tods eines geliebten Menschen oder der Trennung von der Partnerin oder dem Partner sind die Ergebnisse uneindeutig.

Eine der umfangreichsten Analysen zum Zusammenhang zwischen Stress und Krebs stammt aus dem Jahr 2008. Yoichi Chida, Psychologe am University College London, wertete darin Daten von mehr als 500 publizierten Studien aus. Lediglich ein knappes Viertel davon deutete darauf hin, dass Menschen, die in ihrem Leben mehr Stress ausgesetzt sind, öfter an Krebs erkranken. Eine US-amerikanische Arbeitsgruppe warf Chida jedoch gravierende methodische Mängel vor. So werden seine Ergebnisse erheblich durch eine Hand voll Publikationen verzerrt, deren Korrektheit in der wissenschaftlichen Community inzwischen offen angezweifelt wird. Lässt man sie heraus, fällt die Korrelation zwischen Stress und Krebs noch geringer aus.

Typ A: Eine Persönlichkeit, die aufs Herz schlägt?

Ähnlich kritisch sieht die Wissenschaft heute den angeblichen Zusammenhang zwischen einer so genannten Typ-A-Persönlichkeit und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. »Typ-A-Personen sind hyperaktiv, ehrgeizig, schnell auf 180«, erklärt der Psychokardiologe Karl-Heinz Ladwig vom Klinikum rechts der Isar in München. »Außerdem sind sie immer unter Zeitdruck: Sie sind ungeduldig, lassen andere nicht ausreden, essen im Stehen, haben ständig die nächste Deadline im Blick. Sie sind also genau der Typ Mensch, der aus Laiensicht sicherlich einmal einen Herzinfarkt bekommen wird.« Doch das scheint – nach allem, was man heute weiß – nicht zu stimmen.

Der Begriff »Typ-A-Persönlichkeit« geht auf die US-Kardiologen Ray Rosenman und Meyer Friedman zurück; später nutzten sie eher den Terminus »Typ-A-Verhaltensmuster«. Einer Anekdote zufolge beauftragte Rosenman einmal einen Polsterer, die Stühle aus seinem Wartezimmer zu reparieren. »Der Mann soll sie sich angesehen und dann gefragt haben: Was haben Sie denn für merkwürdige Patienten? An den Stühlen ist ja nur die vordere Kante abgewetzt«, sagt Ladwig. »Augenscheinlich waren die Wartenden so hibbelig, dass sie nur auf der Kante saßen und dauernd aufsprangen. Diese Beobachtung hat Rosenman angeblich dazu gebracht, darüber nachzudenken, mit welcher Sorte von Menschen er es eigentlich zu tun hatte.«

Friedman und Rosenman starteten 1960 eine Langzeitstudie, um die Auswirkungen der Typ-A-Persönlichkeit zu erforschen. Rund 3500 gesunde Männer nahmen daran teil. Bei der Eingangsuntersuchung wurden sie unter anderem zu ihren charakteristischen Eigenschaften und Verhaltensweisen befragt. 1965 hatten 133 von ihnen eine koronare Herzerkrankung (KHK) entwickelt, also eine Verengung der Kranzgefäße, die den Hohlmuskel mit Blut versorgen. Betroffen waren vor allem Typ-A-Teilnehmer: Sie hatten ein mehr als doppelt so hohes KHK-Risiko, selbst wenn die Forschenden Einflüsse wie Rauchen, Übergewicht, Bluthochdruck oder Cholesterinspiegel herausrechneten. Andere Studien bestätigten diesen Zusammenhang zunächst.

In den 1990er Jahren mehrten sich jedoch die Zweifel an den Ergebnissen. Immer mehr Forschungsarbeiten zeigten, dass großer Ehrgeiz, gepaart mit Zeitdruck, kein Prädiktor für ein späteres Herzleiden ist. Allenfalls auf eine Komponente des Typ-A-Verhaltens schien das zuzutreffen: die »kurze Lunte« – also die Tendenz, sich über kleine Dinge maßlos aufzuregen und den Mitmenschen feindselig gegenüberzutreten. Allerdings war der Zusammenhang auch hier sehr gering.

»Die Kombination aus einer depressiven Stimmungslage und sozialem Rückzug gilt als Risikofaktor für Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems«Karl-Heinz Ladwig, Psychokardiologe

Für erhebliches Misstrauen gegen die frühen Resultate sorgte 2012 zudem eine Publikation britischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Sie belegten, dass viele der positiven Studien von der Tabakindustrie finanziert worden waren, allen voran Philip Morris. Rauchen stand bereits in den 1960er Jahren unter Verdacht, kardiovaskuläre Erkrankungen auszulösen. In der Typ-A-Forschung sahen die Firmen eine Chance, eine alternative Erklärung zu etablieren: Wenn nachgewiesen würde, dass Typ-A-Verhalten das Herz schädigt und gleichzeitig öfter zur Zigarette greifen lässt, dann könnte man argumentieren, Tabakkonsum selbst gehe gar nicht zu Lasten der Gesundheit. In der Tat brachte Friedman dieses Argument 1994 in einem Brief an eine US-Behörde vor. Darin sprach er sich dagegen aus, das Rauchen in Gebäuden einzuschränken.

»Mittlerweile nimmt man sogar an, dass Menschen mit einem ausgeprägten Typ-A-Verhalten bessere Überlebenschancen nach einem Infarkt haben«, sagt der Münchner Psychokardiologe Karl-Heinz Ladwig. »Offensichtlich können sie die negativen Affekte, die mit so einem traumatisierenden Ereignis einhergehen, besser verarbeiten.« Allerdings gebe es Belege, wonach Typ-A-Personen eher einen Burnout entwickeln und dann in eine Depression abgleiten. »Die Kombination aus einer depressiven Stimmungslage – wir sprechen auch von negativer Affektivität – und sozialem Rückzug gilt heute tatsächlich als Risikofaktor für Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems«, betont Ladwig.

Typ D: Neigung zu ungesundem Verhalten

Für diese Merkmale gibt es inzwischen ebenfalls ein griffiges Etikett: die »Typ-D-Persönlichkeit«, mit »D« für »distressed«, also bekümmert oder unglücklich. Sie wird unter anderem mit einer erhöhten Sterblichkeit bei Herzleiden in Verbindung gebracht. Anders als bei Krebs könnte der auslösende Faktor in diesem Fall wirklich ein höherer Stresslevel sein. »Es gibt Hinweise darauf, dass Typ-D-Menschen im Vergleich zu anderen stärker auf Stressoren reagieren«, sagt Ladwig. »Sie schütten dann vermehrt Kortisol und andere Stresshormone aus und entwickeln zudem häufiger Entzündungen.« Mittlerweile sei gut belegt, dass beides zu einer Schädigung des Herzens beitragen kann.

Hinzu kommen noch weitere Faktoren: »Die Forschung hat gezeigt, dass Menschen mit einer Typ-D-Persönlichkeit seltener körperlich aktiv sind, öfter rauchen und häufiger ungesund essen«, erklärt Paul Lodder, Professor für medizinische Statistik an der Universität Tilburg in den Niederlanden. »Außerdem neigen sie weniger dazu, Hilfe zu suchen, wenn sie erste Warnzeichen einer Erkrankung bemerken.« Ein bedeutender Teil des »Typ D«-Effekts ist also wohl indirekter Natur: Die Betroffenen achten einfach nicht so gut auf ihre Gesundheit. Und das führt dazu, dass sie häufiger erkranken.

Vielleicht ist die Vorstellung einer Krankheitspersönlichkeit aus diesem Grund eher kontraproduktiv. Zwar existieren laut der Typ-D-Forschung psychische Konstellationen, die das Risiko für ein schweres Herzleiden erhöhen. Doch der Begriff »Persönlichkeit« suggeriert, dass sich daran wenig ändern lässt. »Individuelle Persönlichkeitsmerkmale gelten als relativ stabil und nur schwer beeinflussbar«, sagt Paul Lodder. Stattdessen könne man aber die möglichen Konsequenzen einer Typ-D-Persönlichkeit in den Blick nehmen und die Betroffenen dabei unterstützen, ungesunde Gewohnheiten abzulegen und psychische Probleme zu behandeln.

Offensichtlich ist, dass manche Menschen besser mit Stress umgehen können als andere – vermutlich auch auf Grund von Veranlagung. Dennoch ist diese Fähigkeit erlernbar; so führen spezielle Trainingsprogramme nachweislich zu mehr Gelassenheit. Und auch der Griff zu Chips, Alkohol und Zigarette ist alles andere als Schicksal. Das Etikett Krankheitspersönlichkeit sollte den Blick auf diese Tatsache nicht verstellen.

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