Plastikmüll: Kann ein historisches Abkommen die Müllflut in den Ozeanen stoppen?
An einem warmen, etwas windigen Tag im Frühjahr steigt Jace Tunnell am Morgan's Point in Houston, Texas, aus seinem Auto. Die Landzunge ragt in die Hafenzufahrt der US-amerikanischen Stadt hinein. Tunnell, Meeresbiologe und Direktor des Instituts für Meeresschutz an der University of Texas, stellt seine Uhr und macht sich an die Arbeit. Während er die Linie aus Dreck entlangläuft, die die letzte Flut im Sand hinterlassen hat, sammelt er jedes Plastikkügelchen auf, das er darin entdecken kann.
Die winzigen Kügelchen, auch Pellets genannt, sind der Rohstoff der Plastikindustrie. Aus ihnen entstehen all die vielfältigen Kunststoffprodukte, die den gesamten Globus umspannen. Tunnell macht einen Schritt, bückt sich und füllt seine Hand mit Mikroplastik, so wie er es schon an Stränden landauf, landab getan hat. Jedes dieser Teilchen ist ein Plastikdatenpunkt. Es gesellt sich zu den anderen Informationen, die zusammenkommen, wenn Studierende Netze in die Gewässer des Nordatlantiks tauchen, wenn Satelliteninstrumente die Lichtreflexionen von Plastikabfall im Ozean vermessen und Forscherteams Flaschen mit GPS-Sendern in Indiens Ganges versenken.
Zusammen helfen all diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, das komplexe und stetig wachsende Problem der Plastikverschmutzung zu ergründen, das das Leben auf dem gesamten Planeten beeinflusst. Von den 9,2 Milliarden Tonnen nicht recycelter Kunststoffe, die zwischen 1950 und 2017 produziert wurden, entstand mehr als die Hälfte in diesem Jahrtausend und nur weniger als ein Drittel davon wird noch genutzt. Von den Abfällen endeten fast 80 Prozent auf einer Deponie oder gelangten in die Umwelt. Klägliche 8 Prozent wurden recycelt. Bis 2060 könnte sich die Menge der Kunststoffabfälle gegenüber 2019 verdreifachen. Die Kohlenstoffemissionen, die über den gesamten Lebenszyklus von Kunststoffen entstehen, werden sich voraussichtlich mehr als verdoppeln. Das zeigt ein Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) von 2022. Bis zur Mitte des Jahrhunderts könnte fast die Hälfte des zusätzlich nachgefragten Erdöls auf die Produktion von Kunststoffen zurückzuführen sein. Auf der ganzen Welt sagen Menschen jedoch: »Es reicht.«
Nachdem Forscherinnen und Forscher fast 30 Jahre lang davor gewarnt hatten, dass Kunststoffe ein wachsendes globales Problem darstellen, stimmten im März 2022 in Nairobi die Vertreter von 175 Staaten endlich dafür, ein rechtsverbindliches internationales Abkommen über Kunststoffe zu schaffen. Die Verhandlungen dazu haben am 28. November in Uruguay begonnen. António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen (UN), nennt es »die wichtigste Abmachung seit dem Übereinkommen von Paris«. In der Nairobi-Resolution wird eine Bewertung des gesamten Lebenszyklus gefordert – von den Bohrlöchern für fossile Brennstoffe (wo 99 Prozent der Rohstoffe für Plastik herkommen) bis zur finalen Beseitigung. Außerdem sollen Maßnahmenpläne entwickelt werden, um auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene Plastikverschmutzung zu vermeiden, zu verringern und zu eliminieren.
»Es ist die wichtigste Abmachung seit dem Übereinkommen von Paris«António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen
Doch damit so ein Abkommen auch wirksam ist – bis Ende 2024 soll es in Kraft treten –, muss von Anfang bis Ende klar sein, woher das Plastik stammt, wohin es geht und wer dafür verantwortlich ist. »Ohne eine Datengrundlage haben wir keinen Maßstab für den Fortschritt«, sagt Kara Lavender Law, Ozeanografin bei der Sea Education Association (SEA) in Falmouth, Massachusetts. Die Organisation überwacht die Plastikverschmutzung der Ozeane bereits seit 1986.
Die Forschung zur Plastikverschmutzung hat im zurückliegenden Jahrzehnt explosionsartig zugenommen. Es gibt eine wachsende Anzahl von Studien, die zeigen, welche biologischen, ökologischen und gesundheitlichen Folgen Produkte aus synthetischem Polymer haben, die es vor einem Jahrhundert so gut wie gar nicht gab. Allein in den letzten Jahren erschien eine Reihe von Berichten, die sich mit den verschiedenen Aspekten der Plastikverschmutzung befassen, darunter jene von den US National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine (NASEM) und dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP). In den Berichten wird ähnlich wie auch in Nairobi gefordert, ein besseres Verständnis für den Lebenszyklus von Plastik zu entwickeln. »Es geht darum, das gesamte Ausmaß der Auswirkungen von Kunststoffen zu erfassen«, sagt David Azoulay, Leiter des Bereichs Umwelt und Gesundheit und geschäftsführender Anwalt des Zentrums für Internationales Umweltrecht im schweizerischen Genf, das bereits mehrere Berichte über Kunststoffe erstellt hat.
Der NASEM-Bericht, der Anfang 2022 veröffentlicht wurde, plädiert dafür, dass die USA bis Ende des Jahres eine Strategie entwickeln sollten, um Plastikmüll im Ozean zu reduzieren, und zwar auf sechs Ebenen: von der Produktion über das Produktdesign bis hin zur Entsorgung. Zudem werden Wissenslücken auf jeder Stufe aufgezeigt und der Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft empfohlen, in der Materialien wie Kunststoffe wiederverwendet und nicht weggeworfen werden. »Wie definieren wir vermeidbare, unnötige und problematische Kunststoffe, um ihre Beseitigung voranzutreiben?«, fragt Margaret Spring, Leiterin der Abteilung Naturschutz und Forschung am Monterey Bay Aquarium in Kalifornien und Mitglied im Vorstand des Komitees, das den Bericht veröffentlicht hat.
Dies erfordert eine noch nie da gewesene Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern, Bürgern, politischen Entscheidungsträgern und Geschäftsführern, denn die Daten von Regierungen und Unternehmen über die Produktion und den Transport von Plastik sind lückenhaft. Forscherinnen und Forscher werden eine besonders wichtige Rolle bei der Erhebung der Basisdaten spielen, die notwendig sind, um die Ziele eines globalen Kunststoffabkommens messbar zu machen. »Man kann nichts kontrollieren, was sich nicht messen lässt«, sagt Kara Lavender Law.
Die Pellet-Jagd
Zehn Minuten nach Beginn seiner Plastiksuche hört Jace Tunnell auf zu sammeln und zählt seine Beute: In der Hand hält er 98 Pellets. »Houston hat 55 Produktionsstätten«, sagt Tunnell. »Wir wissen, dass fast alle von ihnen diese Kügelchen verlieren.«
Die heutige Ausbeute ist für einen dieser Strände am Golf von Mexiko durchschnittlich. Und das, obwohl bei einer anderen zehnminütigen Suche schon einmal 328 000 Pellets gefunden wurden, nachdem Anfang des Jahres ein Container mit Pellets in den Mississippi ausgelaufen war. Vor Sri Lanka sank im Jahr 2021 ein Frachtschiff mit schätzungsweise 75 Milliarden Pellets an Bord und überzog die Strände mit einer dicken Plastikschicht, wie lokale Medien und das UNEP berichteten.
Tunnell pflegt die Daten später in eine App ein, die er programmiert hat. Bisher haben mehr als 6000 Freiwillige in 19 Ländern über 1,8 Millionen Pellets gesammelt und ihre Funde in der App festgehalten. Diese Daten halfen bereits dabei, Firmen in Texas und South Carolina vor Gericht für ihre Umweltverschmutzung zur Rechenschaft zu ziehen.
Neben Tunnells App »Nurdle Patrol« gibt es viele weitere Bemühungen, das Ausmaß der Plastikverschmutzung zu erfassen. Der UNEP-Bericht verzeichnet 15 große Monitoring-Programme, die sich auf die Meeresverschmutzung konzentrieren, und viele von ihnen stellen den Forschern Daten zur Verfügung, die Bürgerinnen und Bürgern gesammelt haben.
Dazu gehört das »Marine Debris Monitoring and Assessment Project« der US-amerikanischen National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA), das in Zusammenarbeit mit weiteren Organisationen Küstenlinien in neun Ländern überwacht und die App »Marine Debris Tracker« verwendet. Die Initiative »Ocean Conservancy's International Coastal Cleanup« begann 1986 zunächst als lokales Projekt in Texas. Inzwischen beteiligen sich 152 Länder und 9 Millionen Freiwillige, die ihre Daten in die App »Clean Swell« einpflegen und so der Forschung zur Verfügung stellen. Doch trotz all dieser Bemühungen gibt es immer noch keine richtige Datenbasis.
Die Experten sind sich einig, dass diese Bürgerinitiativen zwar ein Schritt in die richtige Richtung sind. Dennoch stoßen sie bei der Erfassung der Plastikmenge da draußen an ihre Grenzen. »Schaut man sich die Daten der Bürgerwissenschaftler an«, sagt Alexander Turra, Ozeanograf an der Universität von São Paulo in Brasilien, »konzentrieren sie sich alle auf den Norden und nur wenige auf den Süden.« Außerdem befänden sie sich in der Regel an leicht zugänglichen Orten.
Selbst dort, wo genügend Daten verfügbar sind, ist es in zweierlei Hinsicht eine Herausforderung, zu einer Basislinie zu gelangen: Zum einen muss die Methodologie für die Datensammlung standardisiert werden, zum anderen muss es einen Ort für den Datenaustausch geben. Auch die Verfasser des NASEM-Berichts haben die Schwierigkeit einer einzigen globalen (oder wenigstens nationalen) Datenbank erkannt und fordern daher wissenschaftlich fundierte, anpassungsfähige und komplementäre Verfolgungs- und Überwachungssysteme.
Um mit diesen Unterschieden zurechtzukommen, haben die UN und weitere Organisationen Richtlinien für die Datenerfassung aufgestellt. Diese hätten »erheblich zur Harmonisierung der Methoden« beigetragen, sagt Daoji Li. Er ist Direktor am Plastic Marine Debris Research Center der East China Normal University in Schanghai und Gutachter der UN-Richtlinien.
Seine Universität habe ein Zentrum eingerichtet, um Wissenschaftler aus ganz Asien in verschiedenen Arten der Probenentnahme und Messtechniken auszubilden, erzählt Li. Das soll dabei helfen, die Daten in der gesamten Region zu vereinheitlichen, einschließlich der Daten aus Ländern, die heute den Großteil des weltweiten Plastikmülls aufnehmen. Trotz der großen Datenlücken und des Mangels an konsistenten Methoden gibt es laut manchen Forschern genug Informationen, um Hotspots für Plastikverschmutzung identifizieren zu können. »Oft heißt es, die Daten seien nichts wert, weil wir keine standardisierten Methoden haben«, sagt die Meeresökologin Chelsea Rochman von der University of Toronto in Kanada. Sie war eine der Ersten, die sich für das Plastikabkommen eingesetzt hat.
»Selbst wenn unsere Bestandsaufnahme nicht perfekt ist, sollte man unter Zuhilfenahme eines einheitlichen Protokolls zumindest in der Lage sein, Differenzen zu erkennen«, sagt Rochman. Damit ließen sich aus ihrer Sicht sowohl Aufwärts- und Abwärtstrends als auch Vorreiter und Schlusslichter identifizieren. Das wiederum sei essenziell für das globale Abkommen.
Es mangelt an Transparenz
Oben bei der Plastikproduktion anzusetzen, stellt für Forscher eine weitere Herausforderung dar. Der Mangel an transparenten Produktionsdaten ist dem NASEM-Bericht zufolge eine der größten Wissenslücken. Zwar geht es in dem Papier vor allem um die Rolle der USA bei der Verursachung globaler Plastikabfälle in den Ozeanen. Dieser enge Fokus hat jedoch seine Berechtigung, denn das Land produziert mehr Plastikmüll als jedes andere und übertrifft sogar die gesamte Europäische Union.
Auch wenn Firmendaten geschützt sind, haben einige Forscher versucht auszuwerten, was in den Abfallstrom gelangt. Jenna Jambeck, eine Umweltingenieurin an der University of Georgia in Athens, veröffentlichte 2015 eine bahnbrechende Studie, in der sie schätzte, dass jedes Jahr acht Millionen Tonnen Plastik in die Weltmeere gelangen. Die Studie habe jedoch ihre Grenzen, räumt Jambeck ein, zum Teil wegen des Mangels an Transparenz. Sie und Margret Spring kritisieren, dass es etwa kaum möglich sei, genaue Daten zu Polyethylenterephthalat (PET) zu erfassen, dem allgegenwärtigen Kunststoff, der in Getränkeflaschen und anderen Alltagsprodukten zum Einsatz kommt.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind besorgt darüber, dass sich die öffentliche Diskussion nur ums Recycling und den Umgang mit Plastik dreht, nachdem es die Konsumenten erreicht hat. Dieser Diskurs wird von der Industrie befeuert. Dabei sollte es primär darum gehen, wie all diese Kunststoffe erzeugt werden und wo sie am Ende landen. Daher wird im NASEM-Bericht und in den weltweiten Gesprächen der Schwerpunkt auf Strategien für eine Kreislaufwirtschaft gelegt, die sich mit der ersten Phase des Lebenszyklus von Kunststoffen, der Produktion, befassen.
»Wir beschäftigen uns sehr stark mit dem Material, sobald es in der Umwelt gelandet ist – das ist der Moment, in dem wir wütend werden«, sagt Jambeck. »Aber wir kümmern uns nicht um die Zeit davor. Wenn wir verhindern wollen, dass es in die Umwelt gelangt, müssen wir jedoch am Anfang ansetzen und die Produktionsdaten verfolgen.«
Sobald Plastik in den Abfallstrom gelangt, stützen sich die Forscher stark auf die UN-Datenbank Comtrade. Darin werden öffentlich verfügbare Daten zu Plastikabfällen erfasst, um sie zu messen und nachzuverfolgen, wo sie landen. Doch die Comtrade-Daten geben keine Auskunft darüber, welche Umweltauswirkungen das Plastik am Ende hat. Die Datenlage ist nur so aufschlussreich wie die offiziellen staatlichen Handels- und Zollinformationen, auf denen sie basiert.
»Es gibt viel unsichtbares Plastik«, sagt David Azoulay. Australien zum Beispiel habe den Export von Plastikabfällen verboten. Dennoch erlaubt das Land weiterhin die Ausfuhr von gepressten Abfällen, die für Zementöfen in Asien bestimmt sind und als Brennstoff eingestuft werden. »Das taucht in den Comtrade-Daten nicht auf«, sagt er.
2018 durchlief die Plastikindustrie einen tief greifenden Wandel: China führte sein National-Sword-Programm ein und verbot den Import der meisten Plastikabfälle. Seit 1992 hatte das Land 45 Prozent des globalen Plastikmülls aufgenommen. Damit ist nun Schluss. Über Nacht wurde der globale Kunststoffverkehr neu organisiert, indem die endgültigen Bestimmungsorte für Abfälle nach Malaysia, Vietnam, Thailand, Indonesien und Indien verlegt wurden. Die Covid-19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine erschwerten die Produktion und den Transport von Kunststoffen weiter. Und Länder, die sich auf einmal von Plastikmüll überschwemmt sehen, weil sie keine Anlagen für seine Verarbeitung haben, führen oft Verbote ein, deren Durchsetzung fraglich bleibt.
Illegaler Handel mit Plastik nimmt zu
Vor dem Hintergrund dieser Kluft spielt laut der internationalen Polizeibehörde Interpol die organisierte Kriminalität eine zunehmende Rolle beim Handel mit illegalen Plastikabfällen. Dadurch wird es noch komplizierter, Daten zu erheben. Plastik wird falsch deklariert, versteckt oder umständlich verschifft, um nicht erfasst werden zu können. So wird der sowieso schon erhebliche CO2-Fußabdruck des Plastiks um ein Vielfaches erhöht.
Um diese Flut einzudämmen, wurde das Basler Übereinkommen zur Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung (kurz: Basler Abkommen) im Jahr 2019 verschärft. Dem Beschluss zufolge gilt Plastik als gefährlicher Abfall, der verfolgt und dokumentiert werden muss. Eine Schwachstelle des Abkommens ist die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten mit ihren enormen Mengen an Kunststoffabfällen nicht zu den Unterzeichnern gehören. Innerhalb der Landesgrenzen stuft die US-Umweltschutzbehörde Kunststoff als festen Siedlungsabfall und nicht als gefährlichen Stoff ein, so dass nur eine minimale Verfolgung erforderlich ist. Es gibt jedoch Bestrebungen, Kunststoffe als giftig einzustufen und damit dem Beispiel des Basler Übereinkommens und Ländern wie Kanada zu folgen, das dies 2021 geändert hat. Auch Bauabfälle aus Kunststoff werden in der Buchführung nicht berücksichtigt.
Bei all den Unklarheiten füllen manchmal Aktivisten vor Ort die Datenlücken. Dazu gehört zum Beispiel die Person, die herausfand, dass eine vermeintliche Papierlieferung, die in einem Hafen in der indonesischen Provinz Ostjava ankommen sollte, in Wahrheit mit Kunststoff durchsetzt war. Dies ist nur eines von vielen Beispielen, die bei einer Presseveranstaltung im Juni 2022 zur Sprache kamen, bei der die Non-Profit-Organisation Basel Action Network (BAN) ihren Bericht zum ersten Jahr nach der Verschärfung des Basler Abkommens vorgestellt hat. Der Überwachungsbeauftragte für Kunst- und Giftstoffe aus Seattle zog dabei eine düstere Bilanz. Wie BAN-Gründer und -Geschäftsführer Jim Puckett berichtete, weigerten sich etliche Länder, die neuen Regeln umzusetzen oder durchzusetzen. Die Verstöße, sagte er, »bedrohen die Integrität des Abkommens«.
»In Afrika gibt bereits einen wahren Plastik-Tsunami«Leslie Adogame, Geschäftsführerin eines nigerianischen Thinktanks
Die falsch deklarierte Lieferung nach Indonesien war nur ein Hinweis auf die Plastikflut, die das Land heimsucht. Die Menge an Plastikabfällen, die der Inselstaat importiert, hat sich im Jahr 2021 im Vergleich zu 2020 mehr als verdoppelt. Südostasien ist nur eine von vielen Regionen, die in Plastikmüll ertrinken, was das globale Ungleichgewicht bei der Umweltverschmutzung noch verstärkt. Das betrifft den gesamten Lebenszyklus von Kunststoffen – von der Öl- und Gasförderung über die Standortauswahl von Fabriken bis hin zur Abfallwirtschaft. »In Afrika gibt bereits einen wahren Plastik-Tsunami«, sagt Leslie Adogame, Geschäftsführerin des Thinktanks »Sustainable Research and Action for Environmental Development Nigeria« in der Metropole Lagos.
Die Länder, die Kunststoffabfälle aufnehmen, sind selten die, in denen das Plastik produziert oder genutzt wurde. Und viele Länder, die sich am Ende der Kunststoffverwertungskette befinden, haben zu wenig Kapazitäten, um die Zollbeamten entsprechend auszubilden oder moderne Recyclinganlagen zu errichten. So »wird Afrika zur Müllkippe«, sagt Adogame. Ähnliche Geschichten von so genanntem Müllkolonialismus kommen aus Südostasien und Lateinamerika. All dies verschlimmert die Ungewissheit darüber, wohin die Kunststoffe letztlich gelangen.
Diese Einschränkungen machen sich auch bei der Datenerhebung bemerkbar. Alexander Turra zufolge hat etwa Brasilien nur einen Bruchteil der US-Ressourcen, um die Ozeane zu überwachen. Doch statt zu versuchen, alles detailliert zu messen, setzt er sich dafür ein, Menschen darin zu schulen, vereinfachte Daten zu sammeln. Ist ein Strand sauber, sehr verschmutzt oder irgendwo in der Mitte? Dieser Detaillierungsgrad sei bereits ausreichend.
Auf den Spuren der Daten
Andere Experten stimmen ihm zu: Angesichts der sich verschärfenden Krise der Plastikverschmutzung und der fortlaufenden Bemühungen, Wissenslücken zu schließen, sei es wichtig, sich auf einige Schlüsselbereiche zu konzentrieren. »Es ist absolut notwendig zu priorisieren«, sagt Margret Spring. »Dazu müssen wir die größten Hotspots der Verschmutzung identifizieren.«
Gleichzeitig eröffnen die technischen Entwicklungen neue Möglichkeiten der Datenerfassung. Dazu gehören zum Beispiel GPS-Tracker in Containerschiffen, die Plastikabfälle transportieren, erklärt Jim Puckett. »So lässt sich der Abfall wirklich komplett verfolgen«, sagt er. »Das ist die Zukunft.« Eine solches Tracking kann dazu beitragen, Verstöße gegen die Plastikmüllverordnung zu überwachen und das Wissen der Forscher darüber zu verbessern, wie sich Kunststoffe weltweit bewegen.
Ein internationales Team, das teilweise von der National Geographic Society finanziert wird, hat 500-Milliliter-PET-Flaschen mit Satellitensendern versehen und sie in den Ganges geworfen. Im Rahmen des Projekts werden 40 Stellen in ländlichen sowie in städtischen Gegenden entlang des Flusses untersucht, sowohl vor als auch nach Monsun-Regenfällen. Die Probenahmen ergaben, dass drei Viertel der Abfälle, die durch die Regenfälle flussabwärts gespült wurden, aus Plastik bestanden. Das Team und weitere Forscher warfen mit Sensoren markierte Flaschen im Gangesdelta ab und beobachteten drei Monate lang, wie eine davon mehr als 2800 Kilometer an der indischen Küste zurücklegte. Im offenen Ozean helfen GPS-Tracker dabei, die schätzungsweise 50 Millionen Kilogramm an Fischerei-Equipment zu orten, die jährlich zurückgelassen, verloren oder weggeworfen werden. Dieser Abfall taucht ebenfalls nicht in der Bilanz der Plastikverschmutzung auf.
Weitere Daten stammen von Sensoren an Satelliten, Flugzeugen, Drohnen oder Schiffen. Forscher nutzen zum Beispiel die Copernicus-Sentinel-2-Satelliten der Europäischen Union, um Abfälle im Meer zu orten, die sich an der Ozeanoberfläche sammeln. Die Nutzung von Satellitenbildern und maschinellem Lernen, um solche Ozeanexpeditionen zu unterstützen, steckt noch in den Kinderschuhen.
Forscherinnen und Forscher weltweit hoffen, dass die Dynamik, die sich rund um das globale Plastikabkommen entwickelt hat, dazu beitragen wird, die verschiedenen Informationen zu einem kohärenten Bild zusammenzufügen, das dann zu einer Leitplanke für die Politik werden kann. Sie hoffen außerdem, dass die Rechtsprechung flexibel für neue Erkenntnisse über Plastikstoffe bleibt.
»Wir verstehen bereits eine Menge von diesen Stoffen. Die Regierungen dieser Welt müssen Prioritäten setzen, und die Industrie muss bereit sein für einen Wandel«, sagt Chelsea Rochman. »Wir müssen uns nur ansehen, wo der Klimawandel steht, wie die Datenlage ist und welche Katastrophen weltweit passieren, weil wir nicht schnell genug handeln«, sagt sie. »Ich möchte nicht, dass uns das auch beim Plastik passiert.«
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