Falsche Erinnerungen: Das Trauma, das es nie gab
In den 1980er und 1990er Jahren berichteten ungewöhnlich viele erwachsene Patienten ihren Therapeuten, in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein oder ein anderes Trauma erlitten zu haben. Nicht wenigen war nie zuvor bewusst gewesen, diese furchtbaren Erfahrungen gemacht zu haben. Psychologen folgerten, sie müssten die Erinnerungen vorübergehend verdrängt haben. In der Therapie waren häufig suggestive Techniken wie Hypnose oder Traumdeutung zum Einsatz gekommen, um die verschollenen Bilder hervorzuholen.
Doch bald darauf ließ eine Reihe von Experimenten Zweifel daran aufkommen, dass wiedergewonnene Erinnerungen immer auf wahren Begebenheiten fußen. In einer berühmten Studie befragte die Psychologin Elizabeth Loftus erwachsene Probanden zu Erinnerungen an vier Kindheitsereignisse. Eines hatte allerdings nie stattgefunden: Es ging darum, wie die Teilnehmenden im Alter von fünf Jahren vorübergehend verloren gegangen waren, zum Beispiel in einem Einkaufszentrum. Mit Hilfe suggestiver Fragetechniken brachte Loftus ein Viertel von ihnen dazu zu glauben, diese Erfahrung tatsächlich gemacht zu haben.
Untersuchungen anderer Arbeitsgruppen bestätigten bald, dass das autobiografische Gedächtnis fehleranfällig ist. Bei etwa 15 Prozent der Probanden lassen sich in Studien so überzeugende Scheinerinnerungen hervorrufen, dass sie mit echten Gedächtnisspuren vergleichbar sind, ergab eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2017. Eine andere Analyse kommt sogar auf 30 Prozent.
Nun sind Erinnerungen an einen Tag im Einkaufszentrum kaum mit solchen an sexuellen Missbrauch zu vergleichen. Berichte von Betroffenen zeigen aber, dass auch Gedächtnisinhalte, die sich auf derart furchtbare Ereignisse beziehen, in seltenen Fällen ohne wahre Grundlage entstehen können, sogar oder gerade in einer Psychotherapie. Bereits in den 1990er Jahren verklagten die ersten Patientinnen in den USA ihre Therapeuten. Der Vorwurf: Sie sollten Scheinerinnerungen in ihnen geweckt haben. Viele der Betroffenen hatten sich ursprünglich wegen Depressionen oder Ängsten in Behandlung begeben. Mit der Zeit waren sie zu der Überzeugung gelangt, in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein. Später zweifelten sie selbst an den neuen Bildern im Kopf, weil sie ihnen anders als gewöhnliche Erinnerungen vorkamen, beispielsweise lebhafter waren, eher einem Traum ähnelten oder sich von anderen traumatischen Erinnerungen unterschieden. Sie zogen ihre Vorwürfe gegen ihre vermeintlichen Misshandler zurück, und Gerichte sprachen ihnen Schadensersatz zu.
Falsche Erinnerungen sind schwer zu enttarnen
»Scheinerinnerungen entstehen in der Regel nicht, weil ein Therapeut den Plan hat, sie zu erzeugen. Und sie entstehen auch weder schnell noch in der Mehrheit der Psychotherapien. Sie können aber das Ergebnis einer Verkettung von Umständen sein«, erklärt Renate Volbert. Die Professorin für Rechtspsychologie an der Psychologischen Hochschule Berlin beurteilt die Glaubhaftigkeit von Aussagen in Strafverfahren und forscht zu Suggestion. »Das Wesen von Scheinerinnerungen besteht darin, dass man subjektiv überzeugt ist, etwas sei genau so passiert. Doch deshalb ist es noch lange nicht richtig.«
Es ist schwer, Scheinerinnerungen von echten Gedächtnisinhalten zu unterscheiden. Sie sind weder detailreicher noch undeutlicher. Und sie erzeugen ähnliche Gefühle, können sogar Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung auslösen. Nur in Ausnahmefällen, etwa wenn objektive Fakten das Gegenteil belegen, sind sie eindeutig als falsch zu enttarnen. So können sich Menschen beispielsweise nicht an Ereignisse erinnern, die in ihren ersten zwei Lebensjahren stattgefunden haben. Fachleute bezeichnen dieses Phänomen als Kindheitsamnesie.
»Scheinerinnerungen entstehen weder schnell noch in der Mehrheit der Psychotherapien. Sie können aber das Ergebnis einer Verkettung von Umständen sein«
Renate Volbert, Professorin für Rechtspsychologie
Auch mit den Methoden der Hirnforschung lässt sich keine sichere Unterscheidung treffen. »Einige falsche Erinnerungen werden etwas langsamer abgerufen als echte, und wir sind uns im Durchschnitt etwas weniger sicher, die betreffenden Geschehnisse tatsächlich erlebt zu haben. Solche Unterschiede kann man auch im Gehirn sehen«, sagt Tobias Sommer-Blöchl, der am Institut für Systemische Neurowissenschaften des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zum episodischen Gedächtnis forscht. »Wenn ich aber vollkommen überzeugt davon bin, etwas erlebt zu haben, gibt es neuronal keine Unterschiede im Gedächtnisabruf mehr.« Das bestätigte 2016 eine Metaanalyse von Studien mit funktioneller Magnetresonanztomografie.
Können Traumata verdrängt und wieder hervorgeholt werden?
In ihren Gutachten konzentriert sich Rechtspsychologin Renate Volbert daher darauf, wie die Erinnerungen in einer Psychotherapie zum Vorschein kamen, zum Beispiel ob dabei Einflüsse vorlagen, die eine Scheinerinnerung gefördert haben könnten. Für besonders problematisch hält sie die Annahme, dass man sich an traumatische Erlebnisse typischerweise nicht erinnern kann, vor allem wenn diese schwer wiegend sind.
Die Frage, ob ein Trauma verdrängt und wieder hervorgeholt werden kann, haben Forscher in den vergangenen Jahrzehnten derart leidenschaftlich diskutiert, dass die Debatte als »memory wars« (Erinnerungskriege) in die wissenschaftliche Literatur einging. Manche Gedächtnisexperten (unter anderem der Universität Maastricht und des University College London) streiten bis heute darüber.
Schon Sigmund Freud glaubte an einen Abwehrmechanismus des Gedächtnisses, der Menschen schreckliche Erlebnisse vergessen lässt, während sie unbewusst weiter davon belastet werden. Und wie eine Befragung in den USA aus den Jahren 2011 und 2012 zeigte, meinen auch heute vier von fünf Psychologiestudierenden in den unteren Semestern, traumatische Erinnerungen würden oft verdrängt. Zumindest teilweise stimmten dem knapp 70 Prozent der befragten Psychoanalytiker und 84 Prozent der US-amerikanischen Allgemeinbevölkerung zu. Dagegen glaubten lediglich 27 Prozent der wissenschaftlich arbeitenden Psychologen, dass diese Aussage stimmt. Und nur 24 Prozent der Forscher waren der Ansicht, verdrängte Erinnerungen könnten durch eine Psychotherapie wiedergewonnen werden. In der Gesamtbevölkerung glaubten dagegen fast 78 Prozent daran.
»Wenn ich vollkommen überzeugt davon bin, etwas erlebt zu haben, gibt es neuronal keine Unterschiede im Gedächtnisabruf mehr«
Tobias Sommer-Blöchl, Neurowissenschaftler
Renate Volbert sagt: »Nichterinnern ist zumindest keine typische Folge eines Traumas. Viel wahrscheinlicher werden Menschen von den schrecklichen Erinnerungen überflutet.« Zwar zeigen manche Studien, dass Menschen mit Kindheitstraumata in Gedächtnistests schlechter abschneiden als Teilnehmer einer Kontrollgruppe, die nicht in dieser Form vorbelastet sind. In anderen Erhebungen erzielen sie jedoch vergleichbare Ergebnisse.
Zudem untersuchen solche Experimente lediglich die Fähigkeit, sich neue Informationen zu merken. Wie es um die Erinnerungen an die traumatische Erfahrung selbst bestellt ist, erfassen sie nicht. Hier haben Untersuchungen ergeben, dass sich Betroffene die Details einer traumatischen Situation relativ häufig falsch merken, obwohl ihnen der Rückblick oft besonders lebhaft und wahrhaftig vorkommt. Mehr Emotionen führen also nicht automatisch zu einer besseren Erinnerung.
Stresstest fürs Gedächtnis
Auch der Neurowissenschaftler Tobias Sommer-Blöchl will der Frage nachgehen, wie das Gedächtnis arbeitet, wenn es mit einem belastenden Ereignis konfrontiert wird. Er plant derzeit ein Forschungsprojekt, bei dem der Trierer Social Stress Test zum Einsatz kommen soll. Dabei müssen sich die Versuchspersonen spontan einem Bewerbungsgespräch aussetzen, was enormen Stress erzeugt. Vorangegangene Studien von Oliver Wolf, Professor für Kognitionspsychologie an der Ruhr-Universität in Bochum, haben gezeigt, dass Probanden ihren Blick und ihre Aufmerksamkeit in einer solchen Situation eher auf Objekte lenken, die für die Situation relevant sind, als auf andere Gegenstände in der Umgebung. Entsprechend können sie sich an solche Dinge hinterher auch besser erinnern. Sommer-Blöchl möchte nun untersuchen, wie diese Informationen über acht Monate hinweg im Gehirn gespeichert werden: Was geht in das Langzeitgedächtnis über? Und wie verändern sich diese Erinnerungen über die Zeit, je nachdem, wie stressreich ein Ereignis war?
Damit sich Menschen an etwas erinnern können, muss es zunächst als Gedächtnisspur im Gehirn abgelegt werden. Dabei werden Informationen und Erlebnisse in ganz spezifischen Verbindungen zwischen den Nervenzellen gespeichert, die später wieder reaktiviert werden können – entweder bewusst, wenn wir darüber nachdenken oder reden, oder unbewusst im Schlaf. Ob wir ein (ursprünglich gespeichertes) Erlebnis über lange Zeit verdrängen und wiederentdecken können, hat die Neurowissenschaft bisher nicht untersucht. »Aus der Kognitionspsychologie ist jedoch bekannt, dass der richtige Hinweisreiz scheinbar Vergessenes ins bewusste Erinnern zurückholen kann, zum Beispiel in Gesprächen mit alten Freunden oder wenn wir einen Film ein zweites Mal ansehen«, sagt Tobias Sommer-Blöchl.
Renate Volbert schließt ebenfalls nicht aus, dass man sich an traumatische Ereignisse in Einzelfällen längere Zeit nicht erinnern kann, sie dann durch einen Auslöser aber wieder im Gedächtnis auftauchen, etwa wenn man eine Person trifft, die an dem Trauma beteiligt war. »Lange nicht an etwas zurückgedacht zu haben, ist allerdings etwas anderes, als wenn man sagt: ›Ich wusste gar nicht, dass mir das passiert ist! Ich dachte, ich hätte eine schöne Kindheit gehabt, und jetzt weiß ich, dass es die Hölle auf Erden war‹«, sagt die Rechtspsychologin.
Sie betrachtet deshalb Psychotherapeuten kritisch, die sicher von einem Trauma als Ursache für psychisches Leid wie Depressionen oder Ängste ausgehen, auch wenn ein solches Trauma bis dahin gar nicht bekannt ist. Und die dann mit Methoden nach unbewussten Erinnerungen suchen, die eine bildhafte Vorstellung fördern, zum Beispiel mit Hypnose. »Die dabei erzeugten Bilder im Kopf werden im Lauf der Zeit immer vertrauter und leichter abrufbar«, erklärt Renate Volbert. So könnten sie dann mit echten Gedächtnisinhalten verwechselt werden. Wenn der Psychotherapeut sie ebenfalls für wahr halte, könnten letztlich quälende Scheinerinnerungen entstehen.
»Klienten und Therapeuten sollten wissen, dass es Scheinerinnerungen geben kann. Und dass man insbesondere vorsichtig damit sein sollte, nach Erinnerungen zu suchen. Sonst bringt man Menschen möglicherweise in furchtbare Biografien«, sagt Volbert. Die Folgen dauern mitunter viele Jahre an. 2002 ergab eine Befragung von 20 Personen, die später ihre Missbrauchsvorwürfe zurückzogen, dass die Betroffenen durchschnittlich zwei Monate gebraucht hatten, um in einer Therapie erste Erinnerungen an die vermeintlichen Erlebnisse wiederzuentdecken. Bis sie schlussfolgerten, dass es sich um Scheinerinnerungen handelte, vergingen hingegen fünf Jahre.
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