Covid-19: Ist es schon Zeit für das P-Wort?
In Südkorea haben sich mehr als 900 Menschen mit dem neuen Coronavirus angesteckt, viele davon bei einem Ausbruch in der Stadt Daegu. Italiens Beamte haben sich in den vergangenen Tagen bemüht, einen Cluster von als 300 Infektionen im Norden des Landes einzudämmen. Am beunruhigendsten ist jedoch ein Ausbruch im Iran. Dort starben mindestens 15 Menschen an den Folgen der Krankheit, eine unbekannte Zahl ist infiziert. Zudem scheint sich das Virus auf andere Länder im Nahen Osten ausgebreitet zu haben.
Bei den jüngsten Ausbrüchen stehen viele Fälle in keinem direkten Zusammenhang mit China. Einige blieben wochenlang unentdeckt. Das könnte bedeuten, dass eine Eindämmung des Virus, das die Krankheit Covid-19 verursacht, nicht mehr möglich ist.
»Die große Zahl an bislang unerkannten Infektionen, insbesondere im Iran und in Italien, aber auch in Südkorea, zeigt uns, dass es wahrscheinlich unmöglich ist, das Coronavirus einzudämmen«, sagt Ben Cowling, Epidemiologe für Infektionskrankheiten an der Universität Hongkong.
Neue Strategien könnten nötig sein, um die Ausbreitung zu verlangsamen, sagen Wissenschaftler. Dazu gehören umfassendere Maßnahmen außerhalb Chinas, die soziale Kontakte einschränken, zum Beispiel die Schließung von Schulen. Aber um zu wissen, wie man solche Maßnahmen am effektivsten einsetzt, müssen die Forscher erst einmal wichtige Fragen zum Ausbruch beantworten können. Eine davon lautet, ob Kinder das Virus genauso weit verbreiten wie Erwachsene und ob sie ebenso anfällig für eine Infektion sind.
Sars-CoV-2 hat das Zeug zur Pandemie
Am 24. Februar sagten Beamte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf, dass die weltweiten Ausbrüche des Coronavirus noch keine Pandemie darstellen. Allgemein definiert ist dies als die unkontrollierte Ausbreitung einer Infektion in mehreren Regionen. »Hat dieses Virus pandemisches Potenzial? Ja, absolut. Sind wir schon da? Nach unserer Einschätzung noch nicht«, sagte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus. Die WHO schickt Expertenteams nach Italien und in den Iran, um bei der Kontrolle der dortigen Ausbrüche zu helfen.
Andere Wissenschaftler sagen jedoch, dass der Anstieg der internationalen Fälle einen Wendepunkt in dem seit rund zwei Monate andauernden Ausbruch markiert. »Auch wenn die WHO etwas anderes sagt – ich denke, dass die epidemiologischen Bedingungen für eine Pandemie erfüllt sind«, sagt Marc Lipsitch, der als Epidemiologe für Infektionskrankheiten an der Harvard T. H. Chan School of Public Health in Boston arbeitet. »Fast egal, wie man eine Pandemie definiert, es gibt jetzt Beweise dafür, dass sie stattfindet.«
Es sei wahrscheinlich, dass es innerhalb der Bevölkerung der USA zu einer Ausbreitung kommt, sagte ein Beamter der US Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta auf einer Pressekonferenz am 25. Februar. »Es geht nicht mehr um die Frage, ob das in diesem Land geschehen wird, sondern darum, wann dies geschehen wird«, sagte Nancy Messonnier, Direktorin des Nationalen Zentrums für Immunisierung und Atemwegserkrankungen des CDC.
Die Todesfälle im Iran sind laut den Forschern besonders beunruhigend. »Wenn die ersten tödlichen Fälle identifiziert werden, bedeutet das, dass es wahrscheinlich schon seit Wochen Infektionen gibt«, sagt Cowling.
Vergangene Woche wurden zahlreiche Fälle im Libanon, im Irak und anderen Ländern entdeckt. Die Menschen hatten sich im Iran angesteckt. Das sei Besorgnis erregend, sagt Andrew Tatem, ein Geograf an der University of Southampton in Großbritannien. Sein Team hat die weltweite Verbreitung des Virus modelliert. Auslandsreisen sind bei den meisten Iranern nicht üblich. Das deutet darauf hin, dass es im Iran wahrscheinlich eine große Zahl unentdeckter Fälle gibt und das Virus dort schon länger im Umlauf ist. »Ich denke, dass wir im Iran nur die Spitze des Eisbergs sehen, weil nur die schlimmsten Fälle gemeldet werden«, fügt Devi Sridhar hinzu, Gesundheitsforscher an der University of Edinburgh.
Teilsperrungen haben wohl neue Covid-19-Fälle verhindert
Ob man es nun für eine Pandemie hält oder nicht: Die Maßnahmen, die Ausbrüche außerhalb Chinas anscheinend für mehr als einen Monat aufgehalten haben, könnten sich bald nicht mehr umsetzen lassen, sagen Lipsitch und andere Wissenschaftler. Dazu gehörte es, infizierte Menschen sowie ihre engen Kontakte so schnell wie möglich ausfindig zu machen und zu isolieren, um eine weitere Übertragung zu verhindern. »Die meisten Länder haben nicht die Ressourcen, um alle Fälle zu identifizieren und die Menschen aufzuspüren, die diese wiederum infiziert haben – und so weiter«, sagt Lipsitch.
Die Entscheidung der WHO, die weltweiten Ausbrüche nicht als Pandemie zu bezeichnen, begründet sich zum Teil auf Daten, die zeigen, dass die Infektionswelle in China zwischen dem 23. Januar und dem 2. Februar ihren Höhepunkt erreicht hat. Kontrollmaßnahmen wie die Teilsperrung der Städte, einschließlich Wuhan, wo das Virus seinen Ursprung hatte, haben wohl neue Fälle verhindert.
Im großen Maßstab seien solche Maßnahmen aber nicht durchführbar, sagt Cowling. Eine Abriegelung ist wahrscheinlich nur wirksam, wenn sie über Wochen oder noch länger andauert. Außerdem besteht die Gefahr neuer Ausbrüche, wenn die Quarantäne gelockert wird und die Infizierten die Städte verlassen. »Wir müssen sorgfältig darüber nachdenken, welche Maßnahmen die Übertragung nachhaltig eindämmen, ohne die Städte komplett auszuschalten und den Menschen zu verbieten, sich zu bewegen«, fügt er hinzu.
Welche Rolle spielen Kinder?
Solche Eindämmungsbemühungen sind mit einer sozialen Distanzierung verbunden: Die Chance, dass Menschen sich begegnen, werden geringer. »Ich glaube, dass bald der Großteil der Welt zu verschiedenen Formen der sozialen Distanzierung übergehen wird, ganz egal, ob man weiß, wer ansteckend ist«, sagt Lipsitch.
So haben Studien über die Influenzapandemie von 1918 zum Beispiel ergeben, dass Städte, die öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Kirchen und Theater frühzeitig schlossen, im Vergleich zu solchen, die später reagierten, geringere Todesraten und insgesamt weniger Fälle verzeichneten.
Epidemiologen sagen jedoch, dass zu wenig über den aktuellen Ausbruch und das Coronavirus bekannt ist, um solche Mittel effektiv anzuwenden. Um den besten Zeitpunkt zu bestimmen, seien weitere Studien notwendig, sagt Cowling. Eine der üblichsten Maßnahmen – Schulen schließen – wäre nur dann einen Versuch wert, wenn die Wissenschaftler wüssten, dass Kinder bei der Übertragung des Coronavirus eine wichtige Rolle spielen. Es gibt einige Berichte darüber, dass Kinder mit niedrigerer Wahrscheinlichkeit als Erwachsene schwer krank werden, wenn sie infiziert werden. Doch die Forscher wissen nicht, ob sie genauso anfällig für eine Infektion sind und wie leicht sie das Virus auf andere übertragen können. »Das ist eine der Fragen, die wir dringend beantworten müssen«, sagt Cowling. Kinder trügen sowohl zur Verbreitung der saisonalen als auch der pandemischen Grippe bei, sagt Lipsitch, »aber bei diesem Virus ist das meiner Meinung nach eine offene Frage«.
Der beste Weg, um herauszufinden, welche Rolle Kinder bei der Übertragung von Covid-19 spielen, wäre laut Lipsitch die Analyse eng miteinander zusammenhängender Fälle, zum Beispiel im selben Haushalt. Auf diese Weise könne man festzustellen, ob und wie sich Kinder infiziert und das Virus auf andere Menschen übertragen hätten.
Wird man immun gegen Covid-19?
Wenn das Coronavirus allgegenwärtig wird und sich innerhalb der Gesellschaften weit verbreitet, werden die Forscher auch untersuchen wollen, ob die Menschen nach einer überstandenen Infektion vor dem Virus geschützt sind. Laut Lipsitch gehen Forscher davon aus, dass die Infizierten für eine gewisse Zeit immun gegen eine Neuinfektion sind – noch sei aber nicht klar, wie lange. Nach einer Infektion mit Coronaviren, die Erkältungen verursachen, halte die Immunität nicht lange an, sagt er. Bei dem neuen Virus könne das ähnlich sein. Studien, bei denen Forscher für längere Zeit die Antikörperspiegel von Menschen beobachten, die sich von der Infektion erholt haben, könnten diese Frage beantworten.
Es sei nicht die Frage, ob auf Covid-19 mit Eindämmung oder Abschwächung zu reagieren sei, sagt David Heymann, Epidemiologe an der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Er erwartet, dass Länder wie Italien und Südkorea versuchen werden, die bekannten Fälle zu kontrollieren und ihren Ursprung zurückzuverfolgen, während sie gleichzeitig Maßnahmen vorbereiten, um die Ausbreitung einzudämmen. »Ich glaube, dass die Menschen dem Wort Pandemie viel zu viel Bedeutung beimessen. Wirklich wichtig ist, ein grundlegendes Verständnis von Ausbrüchen zu haben und zu wissen, wie man mit ihnen umgeht«, sagt er.
Der Artikel ist im Original »Time to use the p-word? Coronavirus enters dangerous new phase« in »Nature« erschienen.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.