Kannibalismus: Ein grausiger Leichenschmaus
Rot und schwarz gefasst prangen Bisons, Hirsche und Wildpferde an den Wänden von Altamira. Die Zeichnungen in der nordspanischen Höhle schufen Eiszeitkünstler. Doch nicht nur dort, auch anderswo in Europa kamen ihre grazilen Werke zum Vorschein – stilisierte Frauenfiguren, Tierstatuetten aus Elfenbein oder reich dekorierte Speerschleudern. Daneben hinterließen die Wildbeuter der ausklingenden Altsteinzeit unterschiedlichste Werkzeuge aus Stein, Knochen und Geweih. All das entstand im Magdalénien vor rund 14 000 bis 18 000 Jahren, als die Kultur mit gleichem Namen von Südwesteuropa bis ins östliche Mitteleuropa verbreitet war. Die Epoche gilt als Blütezeit der eiszeitlichen Kunst und Kultur.
Umso seltsamer mutet es an, was William Marsh und Silvia Bello vom Natural History Museum in London in einer Studie im Fachblatt »Quaternary Science Reviews« nachgewiesen haben wollen: Die damaligen Jäger und Sammler des nördlichen Mitteleuropa bis weit nach Westen sollen ihre Verstorbenen nicht in der Erde bestattet, sondern die Leichname zerlegt, entbeint und ihr Fleisch verspeist haben – also einem heute bizarr, geradezu gruselig anmutenden Bestattungskult gefrönt haben.
»Für eine kurze Zeit wurde in Nordwesteuropa häufiger Kannibalismus praktiziert«, resümiert Silvia Bello, Expertin für die Evolution menschlichen Verhaltens, in einem Bericht des Natural History Museum. Sie und ihr Kollege William Marsh gehen davon aus, dass Jäger und Sammler des Magdalénien ihre Toten als Teil eines Bestattungsritus verzehrten. Die beiden Forscher haben für ihre Arbeit keine eigenen archäologischen Untersuchungen vorgenommen, sondern in einer Metastudie die Informationen von 59 Fundstätten in ganz Europa zusammengetragen, an denen menschliche Relikte zum Vorschein kamen. Die Ergebnisse zeigen eine erstaunliche Zweiteilung des Kontinents – kulturell, genetisch und bei den Bestattungsbräuchen.
Zwei Traditionen der Bestattung
Nicht für alle menschlichen Überreste der späten Altsteinzeit konnten die zwei Wissenschaftler sicher feststellen, was mit den Verstorbenen einst geschehen war. Nur bei 25 der 59 Fundplätze gelang es, die Totensitten oder das so genannte Bestattungsverhalten zu rekonstruieren: In zehn Fällen handelte es sich um Begräbnisse im Boden, in 13 Fällen identifizierten Bello und Marsh an den Relikten Spuren, die auf einen so genannten rituellen Kannibalismus hinweisen. An zwei Fundorten hatten die Ausgräber beide Bestattungsformen dokumentiert.
Als Zeichen von Kannibalismus wertete das Team Schnittmarken an den Knochen, gebrochene Gebeine oder solche mit menschlichen Bissspuren. An sechs Fundstätten – etwa in der Gough's Cave im Südosten Englands – wurden zudem »skull-cups« entdeckt, Schädelbecher. Dabei handelt es sich um aufgebrochene Hirnschädel, die offenbar gezielt zu einer Art Gefäß umgearbeitet worden waren.
»Statt sie zu begraben, haben die Menschen ihre Verstorbenen gegessen«, folgert Silvia Bello. Das sei aber nicht aus der Not heraus geschehen, etwa weil es an Nahrung mangelte, sondern sei Teil der damaligen Kultur des Magdalénien gewesen. Tatsächlich identifizierten Marsh und Bello Hinweise auf kannibalistische Rituale nur an solchen Fundstätten, die sich eindeutig dem Magdalénien zuordnen ließen.
Es gab in jener Zeit nämlich noch eine zweite Kultur in Europa, die zunächst nur auf dem Gebiet des heutigen Italien und der Balkanländer verbreitet war: das Epigravettien. Archäologen unterscheiden diese Kulturgruppe vom Magdalénien anhand der Machart der Steinwerkzeuge. Vor allem aber scheinen diese Jäger und Sammler ein anderes Bestattungsverhalten gepflegt zu haben: So begruben die Epigravettien-Menschen ihre Verstorbenen und legten ihnen Beigaben ins Grab, etwa Muschelschalen, mit Ritzungen dekorierte Tierknochen oder Ockerfarbstoff. Bisweilen deckten sie die Toten auch mit Steinen ab oder ritzten Zeichnungen in die Felswand neben einem Höhlengrab.
Kannibalismus ist schwer nachweisbar
Laut Bello und Marsh verschwand das Ritual der Magdalénien-Leute vor rund 14 000 Jahren. Danach zerlegte offenbar niemand mehr die Toten, sondern man begrub den unversehrten Körper in der Erde. Was war damals geschehen? Vor allem aber: Warum verzehrten die Wildbeuter des Magdalénien Menschen? Welcher Glaube steckte dahinter und ist es überhaupt sicher, dass sie tatsächlich menschliches Fleisch verspeisten? Seit vielen Jahren diskutieren Fachleute sehr kontrovers über das Thema. Galten Schnittspuren an Knochen früher schnell als Indizien für Kannibalismus, sei die heutige Sicht in der Wissenschaft, so Thomas Terberger vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege und von der Universität Göttingen, sehr viel differenzierter.
Wohl deshalb haben auch die beiden Studienautoren Bello und Marsh verschiedene Indizien gesammelt, kommentiert Terberger, der viel über Gewalt in der Vorgeschichte geforscht hat. Denn sicher sei: »Schädel wurden gezielt zugerichtet als Schädelbecher«, erklärt der Archäologe. »Schnittspuren sind an solchen Stellen erkennbar, an denen man Fleisch und Sehnen abtrennte. Schabspuren lassen erkennen, dass mit Feuersteinmessern Fleisch und anderes entfernt wurde. Unterkiefer, die ja besonders nahrhafte Bestandteile wie Knochenmark enthalten, wurden aufgebrochen.«
Das alles könne man als Zeichen für einen rituellen Kannibalismus interpretieren, der einst zum Totenkult dazugehörte. Terberger hält die Argumente von Marsh und Bello auch durchaus für plausibel. Der Forscher gibt allerdings zu bedenken: »Niemand von uns ist dabei gewesen.« Das Ziel könne es daher nicht sein, die Wahrheit zu finden, sondern die wahrscheinlichste Interpretation.
Essen, um das Wesen eines Menschen aufzunehmen?
Was aber könnte die damaligen Bewohner Europas dazu bewogen haben, menschliche Körperteile zu verspeisen? »Beim rituellen Kannibalismus ist zu vermuten, dass sich die Menschen Eigenschaften oder gar Attribute von Verstorbenen, die ja möglicherweise eine besondere Bedeutung hatten, einverleiben wollten«, erklärt Terberger. Es gehe nicht um den Akt des Essens, sondern um die Vorstellung, von dem toten Menschen gewisse Kräfte auf sich zu übertragen oder eine Inspiration zu gewinnen. Terberger betont aber auch, dass man über die Beweggründe der Menschen des Magdalénien nur spekulieren könne.
Noch weniger vermag sich Terbergers Kollege Jörg Orschiedt vom Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle (Saale) vorzustellen, warum die damaligen Jäger und Sammler menschliches Fleisch verspeist haben sollen – schlicht weil er die These nicht ausreichend belegt sieht. »Mir ist nicht klar, wie die Autoren zu der Aussage kommen, dass es Kannibalismus gewesen sein muss«, sagt Orschiedt, der eingehend zu der Thematik geforscht hat. Unbestritten ist für den Archäologen, dass die damaligen Menschen komplexe Ideen über den Tod ersonnen hatten und deshalb den Körper gezielt bearbeiteten.
»Es wurde viel am Kopf manipuliert, es wurden diese ›skull-cups‹ hergestellt«, so Orschiedt. Die Wildbeuter hatten offenbar bestimmte kulturelle Traditionen entwickelt, der genaue Grund dafür lässt sich allerdings nicht mehr erschließen. Mögliche Erklärungen gibt es viele. Selbst heute noch würden unzählige Bräuche im Umgang mit Toten existieren, so der Paläoanthropologe. Fest stehe daher nur, dass sich die Jäger und Sammler des Magdalénien intensiv mit ihren Verstorbenen auseinandergesetzt und für ihre Totenbehandlung spezielle Rituale entwickelt hatten.
»Vielleicht wollten sie den Toten den Weg ins Jenseits ermöglichen, ihnen den Übergang ins Totenreich erleichtern«, mutmaßt Orschiedt. Das Fleisch von den Knochen zu trennen oder die Schädel aufzubrechen, bezeuge eine vielteilige und komplexe Vorstellungswelt. Diese lasse sich nicht einfach als abstoßend bewerten, man könne ihr auch Positives abgewinnen und sie als fürsorgliche Totenpflege interpretieren. So gesehen, bestehe kein Widerspruch zwischen den eindrucksvollen Kunstwerken der Madgalénien-Wildbeuter und ihrem Umgang mit den Verstorbenen – zumal gar nicht sicher sei, ob sie das menschliche Fleisch wirklich aßen oder etwas anderes mit den entfernten Weichteilen machten.
Warum die spezielle Totensitte verschwand
Egal, ob die Menschen des Magdalénien ihre Verstorbenen aßen oder nicht: Die außergewöhnlichen Bestattungssitten verschwanden vor rund 14 000 Jahren. Auffällig ist, dass in jener Zeit des Umbruchs immer häufiger andere kulturelle Hinterlassenschaften an Orten auftauchten, an denen zuvor das Magdalénien zu finden war. Eine neue Kulturgruppe hatte sich in Europa ausgebreitet: das Epigravettien. Die Menschen setzten die Toten nun bei, manipulierten die Körper nicht mehr. Was war geschehen? Hatten Neuankömmlinge ihrerseits Traditionen mitgebracht, die die Menschen im Südwesten und in der Mitte Europas übernahmen? Hatten sich die Gruppen miteinander vermischt oder musste die eine der anderen weichen?
Auch dieser Frage gingen Marsh und Bello in ihrer Studie nach – und stießen auf eine unerwartete Antwort. Dabei halfen die Daten von archäogenetischen Untersuchungen, die für einige der erforschten Fundstätten vorlagen. So existierten während der späten Altsteinzeit in Europa zwei genetisch unterscheidbare Bevölkerungsgruppen. Die eine ist durch den gemeinsamen genetischen Cluster GoyetQ2 charakterisiert und für die Menschen des Magdalénien typisch. Die andere zeichnet sich durch einen Gencluster namens Villabruna aus, der sich bei Angehörigen des Epigravettien findet.
Erstaunlicherweise spiegelt sich dieser Zusammenhang auch im Bestattungsverhalten wider, stellten Marsh und Bello fest: Die Knochen, die kannibalistische Totenrituale bezeugen würden, ließen sich genetisch dem GoyetQ2-Cluster zuordnen. Den Villabruna-Gencluster identifizierten Fachleute hingegen an bestatteten menschlichen Überresten der Epigravettien-Kultur.
Zum Wandel der Bestattungssitten kam es also nicht, weil die Menschen der Magdalénien-Kultur die Rituale der Einwanderer übernahmen – sondern die GoyetQ2-Bevölkerung verschwand und die Ankömmlinge aus dem Südosten nahmen ihren Platz ein. Dass es sich damals vor ungefähr 14 000 Jahren so zugetragen hat, legt eine umfangreiche Genanalyse nahe, die Marsh und Bello berücksichtigten. Anfang März 2023 veröffentlichte ein Team um den Archäogenetiker Cosimo Posth von der Universität Tübingen die Erbgutdaten menschlicher Knochen aus der Zeit von vor 5000 bis vor 35 000 Jahren. Ein Teilergebnis der Studie war, dass sich die Wildbeuter des Epigravettien in Europa ausbreiteten und die ansässigen Jäger und Sammler verdrängten.
»Tatsächlich sagen die Genetiker, am Ende des Magdalénien vor rund 14 000 Jahren habe es einen Bevölkerungswechsel, einen ›population turnover‹, gegeben«, erklärt Terberger. Darüber hinaus freut sich der Archäologe, dass es Bello und Marsh gelungen ist, die Gendaten mit den archäologischen Erkenntnissen zu den Bestattungssitten zu verschränken. Das führe zu einem deutlich besseren »Verständnis von historischen Prozessen in dieser weit zurückliegenden Zeit«.
Jenes Phänomen, dass die eine Bevölkerung die andere vollständig verdrängt oder ersetzt, kam in der Menschheitsgeschichte häufiger vor. Die Neandertaler waren ausgestorben, kurz nachdem der Homo sapiens vor rund 45 000 Jahren begann, sich in Europa auszubreiten. Auch als sich die Landwirtschaft in Mitteleuropa etablierte, ereignete sich vor rund 6000 bis 7500 Jahren Ähnliches. Die eingewanderten Bauern unterschieden sich genetisch völlig von den lokalen Jäger-und-Sammler-Populationen. Und vor rund 5000 Jahren erreichte die Steppenkultur der Jamnaja Europa. Erneut wurde das Erbgut der ansässigen Bevölkerung im Umfang von bis zu 90 Prozent ersetzt.
Die Geschichte Europas ist geprägt von Migration und kulturellem Wandel, von Zeiten voller Frieden und solchen, die von Gewaltausbrüchen gezeichnet sind. Seltsam anmutende Bestattungspraktiken sind Teil jener Geschichte – und womöglich auch ritueller Kannibalismus.
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