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Sinnesphysiologie: Karussell-Spaßverderber

Sehen, Riechen, Hören, Schmecken - alles eine Herausforderung für die sensible Abteilung des Körpers. Noch weniger ohne ist vielleicht, was das Kleinhirn beim Fühlen von oben, unten, schnell und langsam leistet, wie ein rechenintensiver Blick in bewegte Affenköpfe zeigt.
Am kompliziertesten ist offiziell der zweieinhalbfache Salto rückwärts mit zweieinhalb Schrauben, gehechtet – zumindest gibt es für diesen Sprung vom Zehn-Meter-Brett die höchsten Noten, wenn er perfekt ausgeführt wird. Ganz sicher ist im Kopf des gut orientierten Turmspringers aber auch bei weniger Schrauben und Salti eine ganze Menge sensorischer Schwerstarbeit zu leisten, während sein Körper sich kunstvoll zwischen Absprung und Wasserung durch die Luft windet, während gleichzeitig die Schwerkraft an ihm zieht.

Eigentlich aber steht nicht nur der Körper des Profis beim Turmspringen vor einer gigantischen Aufgabe, sondern oft auch schon der von uns allen beim ganz alltäglichen Gehen und Stehen: Nahezu immer bewegt sich unser Kopf ein wenig in die eine Richtung, der Körper vielleicht in die andere – und womöglich passiert das Ganze auf einer gerade nach oben fahrenden Rolltreppe. Das wir dabei nicht ständig ins Schwindeln kommen und die Orientierung verlieren ist eine Leistung, über die vielleicht zu wenig gestaunt wird.

Beteiligt daran ist natürlich zunächst unser Gleichgewichtsorgan im Innenohr. Hier liegen zwei Kammern sowie drei Bogengänge, die nach den drei Dimensionen des Raums ausgerichtet sind und die Bewegungen des Kopfes messen. Kammern und Bogengänge sind mit einer Flüssigkeit gefüllt, die sich bei Beschleunigungen des Kopfes bewegt. Dadurch verbiegen sich die "Härchen" der Sinneszellen; diese Haarzellen setzen wiederum die Energie in elektrochemische Potenziale um, die dann als Informationen in interessierte Hirnareale weitergeleitet werden.

So weit, so schön – und so unzureichend. Wie können wir zum Beispiel nur mit dem Input aus diesem Innenohrsystem unterscheiden, ob gerade unser Kopf eine nickende Kinn-zur-Brust-Bewegung gemacht hat – oder ob wir vielleicht mit steifem Hals gerade umfallen? Um dies erkennen zu können, werden ständig die Informationen anderer Sinnessysteme – der Augen, die einen Fall mitbekommen; der Haut, die einen Luftzug beim Umfallen spürt, sowie der speziellen Lagerezeptoren, die uns stets über den Aufenthaltsort unserer Einzelteile auf dem Laufenden halten – mit den Informationen aus dem Innenohr verknüpft. Wichtig sind dabei außerdem noch Schwerkraftrezeptoren, die uns über Oben und Unten informieren.

Wo und wie die Integration all dieser verschiedenen Informationen erfolgt, um eine verlässliche Orientierung in jedweder Lage zu gewährleisten, war bislang allerdings noch nicht völlig verstanden. Dora Angelaki von der Washington-Universität in St. Louis und ihre Kollegen haben nun theoretische mathematische Modelle und elektronische Ableitungsexperimente am Kleinhirn von bewegten Affen kombiniert, um einen zentralen Lagerechner im Gehirn vorstellen zu können.

Entscheidend für das Verrechnen von Informationen über die Bewegung der Innenohrflüssigkeit in den Bogengängen – also den Rotationsbewegungen des Kopfes – und den Schwerkraftreizen sind demnach exakt einige wenige Purkinje'schen Zellen im hinteren Vermis-Anteil des so genannten Lobus flocculonodularis – einem Kleinhirnabschnitt. Nur diese Zellen, so ermittelten die Forscher, reagieren mit stets verräterisch passenden Aktivitäten, sobald die Köpfe der Versuchstiere einer komplizierten Serie von Beschleunigungen und Rotationsbewegungen ausgesetzt wurden. Ganz offenbar sind die Zellen damit beschäftigt, die Bewegungen, die in Relation zu einem Bezugspunkt am Boden erfolgen, mit den vom Innenohr gleichzeitig eintreffenden Reizen zu verrechnen – um dadurch entscheiden zu können, ob und wie sich Kopf, Körper oder am Ende der umgebende Raum bewegt hat.

Dieses System funktioniert im Übrigen auch dann, wenn eine optische Kontrolle bei einer passiven, also von außen aufgedrängten Bewegung von Kopf oder Körper ausfällt – etwa in völliger Dunkelheit, erkannten die Forscher zu ihrem Erstaunen. Vielleicht spielt der bislang unterschätzte Navigator aus Purkinje-Zellen aber sogar eine Rolle bei aktiven Bewegungen – eine Fragestellung, die nur mit Hilfe noch etwas aufwändigerer Experimente zu klären sein dürfte. Wenn das dann an herumspringenden Affen geschafft ist, steht wohl auch dem Blick ins Kleinhirn eines Turmspringers nichts mehr im Wege.

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