Herzlichen Glückwunsch!: Kein bisschen leise
"Ich bin der letzte Überlebende des goldenen Zeitalters der Synthetischen Theorie der Evolution", sagt Ernst Mayr, einer der wichtigsten Mitbegründer, über sich selbst. Und macht nur wenig Anstalten, sich zur Ruhe zu setzen: Immer noch hält der 100-Jährige Vorträge, gibt Interviews, veröffentlicht Bücher und Artikel.
Am 5. Juli 2004 feierte ein Wissenschaftler runden Geburtstag, der die Evolutionsforschung entscheidend geprägt hat und heute aus keinem Lehrbuch mehr wegzudenken ist: Ernst Mayr. 1904 in Kempten geboren, interessierte er sich schon früh für die Natur, insbesondere die Vogelwelt. Er entschied sich zwar zunächst für ein Medizinstudium in Greifswald, wechselte jedoch nach dem Physikum an das Zoologische Museum in Berlin, wo er 1926 promoviert wurde. Ende der 1920er Jahre bekam er über seinen Mentor, den Ornithologen Erwin Stresemann, die Gelegenheit, an einer Vogel-Expedition nach Neuguinea und die Solomon-Inseln teilzunehmen, die von Lord Rothschild organisiert wurde. Jener Kontakt brachte ihn schließlich zu Beginn der 1930er Jahre in die USA, wo er sich am Amerikanischen Naturhistorischen Museum in New York um Rothschilds Vogelsammlung kümmern sollte.
Zu jener Zeit gab es in Wissenschaftlerkreisen heftige Diskussionen rund um das Thema Evolution. Das Thema Vererbung im Mendel'schen Sinne war erst Anfang des Jahrhunderts neu entdeckt worden – und warf viele Fragen auf. Welche Rolle spielten Veränderungen im Erbgut? Führten sie zu einer Entwicklung der Organismen in vielen kleinen Schritten? Oder handelte es sich, wie einige bekannte Genetiker zu jener Zeit postulierten, eher um plötzliche, große Sprünge, die einzelnen Individuen neue Wege eröffneten?
Kleine Schritte oder große Sprünge?
Die Auseinandersetzung wurde erschwert durch die unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen: Jene Genetiker konzentrierten sich mehr auf die Evolution in Populationen, also innerhalb einer Art, und weniger auf den Ursprung der Artenvielfalt, mit dem sich ihre Kollegen aus der Taxonomie beschäftigten – zu denen auch Mayr zählte, der sich schon zu Berliner Zeiten intensiv mit diesen Fragen auseinander gesetzt hatte. Er kannte daher nur zu gut die winzigen, aber trotzdem unüberwindbaren Variationen innerhalb von Verwandtschaftsgruppen, welche die Darwin'sche Evolutionstheorie der kleinen Schritte untermauerte.
Aber auch innerhalb der Genetik war man sich uneins. So entwickelte zur selben Zeit ein Team um Thomas Hunt Morgan die Grundlage für eine mathematische Populationsgenetik, die insbesondere Ronald Fisher, John Burdon Sanderson Haldane und Sewall Right bekannt machten – die sich keineswegs am Konzept der langsamen, kontinuierlichen Evolution störte, im Gegenteil. Drei Ansätze mit ganz spezifischen Lösungen lagen damit auf dem Tisch, nun galt es eigentlich nur noch, sie zu verknüpfen.
Obwohl Mayr dabei zu den wichtigsten Mitwirkenden zählte, gebühre dieser Verdienst, so betont er immer wieder, eigentlich Theodosius Dobzhanski. Der russische Käferspezialist kam 1927 in die USA und arbeitete dort in einer Arbeitsgruppe von Populationsgenetikern. Er kannte daher die verschiedenen Ideenströmungen und legte 1937 den Grundstein zur "Synthetischen Theorie der Evolution", in der Darwins Evolutionstheorie und die "neue" Genetik erfolgreich verbunden wurden.
Mitbegründer der Synthese
Dieses erste Konzept wurde in den folgenden Jahren von verschiedenen Wissenschaftlern wie Bernhard Rensch und Julius Huxley weiter verfeinert und ergänzt. Mayr schloss dabei ganz entscheidende Lücken zu den Fragen der Artentstehung. So formulierte er beispielsweise 1942 in seinem Buch "Systematics and the Origin of Species" unter anderem erstmals die Definition der so genannten "biologischen Art", nach der sich eine Spezies aus einzelnen, sich potenziell oder tatsächlich miteinander fortpflanzenden Individuen zusammensetzt, die ihrerseits fruchtbare Nachkommen haben. Natürliche Selektion – für Mayr weniger ein Überleben der Bestangepassten als vielmehr ein Ausmerzen der am wenigsten Erfolgreichen – würde für die nötige Auswahl sorgen, und die Isolation einzelner, vorwiegend kleiner Gruppen aufgrund vor allem geografischer, aber auch ökologischer oder verhaltensbiologischer Barrieren ebnet den Weg für die Entstehung neuer Spezies.
Bis heute haben sich diese Konzepte der potenziellen Fortpflanzungsgemeinschaft und der Artbildung durch Isolation mit wenigen Veränderungen erhalten, und auch die seit den 1950er Jahren immer detaillierteren Kenntnisse der Molekularbiologie haben sie weitgehend bestätigt. Ein stabiles Gerüst, das trotz kleiner Umbauten heute in jedem Lehrbuch zur Evolutionsbiologie steht.
Für Mayr, der 1953 an die Harvard-Universität gewechselt hatte, kein Grund, sich zurückzulehnen. Unermüdlich arbeitet er weiter, auch noch lange nach seiner Emeritierung 1975. Noch heute komme er einmal in der Woche in sein Büro an der Harvard-Universität, die 1995 ihre Bibliothek des Museums für vergleichende Zoologie, dessen Direktor er all die Jahre gewesen war, nach ihm benannte. Er wurde mit den drei wichtigsten Preisen der biologischen Disziplinen ausgezeichnet (1983 Balzan-Preis der Internationalen Balzan-Stiftung, 1994 International Prize for Biology der Japanischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft, 1999 Crafoord Prize der Schwedischen Akademie der Wissenschaften), und seine Publikationsliste umfasst weit über 700 Titel, darunter 23 Bücher. Erst kürzlich hat er zwei Buchprojekte abgeschlossen, ein 2001 erschienenes umfassendes Werk zur Vogelwelt Melanesiens, und ein 2002 publiziertes populärwissenschaftliches Buch zum Thema "Das ist Evolution" – denn zu seinen wichtigsten Anliegen zählt schon immer, wissenschaftliche Ergebnisse allgemeinverständlich darzustellen. Und an Ideen zu weiteren Veröffentlichungen mangelt es ihm nicht.
Biologische Philosophie
Ein weiteres Steckenpferd Mayrs, das insbesondere in den späteren Jahren an Bedeutung gewann, ist die Abgrenzung der Biologie als eigenständigem Wissenschaftszweig, für den viele philosophische Ansätze der "exakten" Wissenschaften schlicht nicht zutreffen – was für ihn auch zu einer neuen Philosophie des Menschen führen müsste. Während Physik und Chemie vorwiegend von Naturgesetzen bestimmt würden, gelte es in der Biologie immer noch einen zweiten Faktor zu berücksichtigen: den Einfluss des genetischen Programms, das jedem Organismus zu Grunde liegt. Außerdem spiele insbesondere in der Evolutionsbiologie der Zufall eine viel entscheidendere Rolle als in den anderen Wissenschaftsdisziplinen. Darum müsse man, so fordert Mayr, sich von den philosophischen Gedankenansätzen lösen, die auf den Grundfesten der exakten Wissenschaften ruhen, und eine eigene biologische Philosphie entwickeln.
Wenn er nun selbst auf sein Leben und auf 80 Jahre Evolutionsforschung zurückblickt, kommt er vor allem zu einem Schluss – die Zukunft ist rosig: "Es gibt noch ganz neue Welten zu entdecken, mit womöglich ganz neuen Mechanismen der Artbildung. [...] Evolutionsforschung ist grenzenlos und es gibt immer noch jede Menge Neues zu entdecken. Ich bedaure nur, dass ich die zukünftigen Entwicklungen wohl nicht mehr erleben werde."
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