Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2016: Kein Leben ohne geregelte Selbstzerstörung
Zellen verspeisen sich selbst – von innen, bei Bedarf und mit Bedacht sowie mit Hilfe des "Autophagosoms". Dieses schwer greifbare Werkzeug, das Zellbiologen schon vor Jahrzehnten entdeckt, aber lange nicht wirklich verstanden hatten, ähnelt in seiner Funktion am ehesten einer Mischung aus ambulanter Sperrmüllsammelstelle und mobilem Müllcontainer auf dem Weg zum zelleigenen Recyclinghof. Über Jahrzehnte hinweg ahnte die Fachwelt, dass dieses Werkzeug wichtig sein muss, und dass es – wegen seines offensichtlichen Zerstörungspotenzials – durch die Zelle sehr sorgfältig kontrolliert wird. Zugleich war das Autophagosom allerdings notorisch schwierig zu untersuchen und blieb daher über die Jahre eher zellbiologisches Kuriosum und Zukunftsprojekt. Bis schließlich 1988 der japanische Forscher Yoshinori Ohsumi in seinem gerade frisch gegründeten eigenen Labor an der Universität Tokio auf den Plan trat: Mit einer Reihe von überlegten Experimenten arbeitete Ohsumi nach und nach heraus, wie die Zellen von Pilz, Mensch und Tier beim Selbstverdauen vorgehen, und weshalb dies auch darüber entscheidet, ob die Zellen überhaupt funktionieren – oder ausfallen, vorzeitig altern und krank werden. Jetzt ist Yoshinori Ohsumi für seine Aufklärungsarbeit am Autophagosom mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2016 ausgezeichnet worden.
Den Namen von Ohsumis Untersuchungsgegenstand (nach dem griechischen "Autophagie", "sich selbst verspeisen") hatte schon 1963 der Nobelpreisträger Christian de Duve geprägt, der dann 1974 für die Entdeckung des Lysosoms geehrt worden ist. Dieses Organell ist ein großer, in Zellen aktiver Komplex, in dem Bakterien und schadhafte oder anderweitig nicht mehr benötigte Zellbestandteile aufgelöst werden. Und schon de Duve hatte sich dafür interessiert, wie die Zellen eigentlich den auszusortierenden Sperrmüll erkennen, der dann gezielt zum Lysosom transportiert wird. Gemeinsam mit anderen Forschern erkannte er, dass Zellen auf Stress, Nährstoffmangel oder Giftstoffe reagieren, indem sie Membranbläschen ausbilden, in denen offenbar größere Zellbestandteile gesammelt und in Richtung Lysosom-Müllhalde aussortiert werden. Wie dieser Prozess aber gesteuert wird und was ihn genau auslöst, blieb unbekannt – die dynamischen Membranbläschen bildeten sich und verschwanden einfach zu schnell. Offenbar aber regelten sie einen universellen Mechanismus des Lebens – man erkannte, dass Autophagieprozesse in den verschiedenen Geweben des Körpers von Hirn, Leber, Schilddrüse bis Haut ablaufen, wo sie durch unterschiedlichste Reize angestoßen werden – wie eben durch Stress, Nährstoffmangel oder Giftstoffe. Zudem fand man Autophagosomen bald in so unterschiedlichen Organismen wie Insekten, Fröschen und Menschen sowie in den Zellen von Amöben, Algen oder Geißeltieren.
Und in Hefepilzen wie der Bäcker- und Brauerhefe Saccharomyces cerevisae, die in den frühen 1990er Jahren auch Yoshinori Ohsumi als Labormodellorganismus ausgesucht hatte. In den kleinen Hefezellen waren die noch kleineren Autophagosomen allerdings schwer zu erkennen und nachzuweisen, weshalb der frisch gebackene Assistenzprofessor und Laborleiter an der Universität Tokio einen Trick entwickelte, der ihm das Leben später deutlich erleichtern sollte. In Hefepilzen, so mutmaßte er, schütten die kaum sichtbaren Autophagosomen den Zellmüll in die große und unter dem Mikroskop gut sichtbare Vakuole der Zelle, wo der Abfall dann durch Abbauenzyme zerlegt wird. Blockiert man aber diesen finalen Abbauprozess in der Vakuole, dann sollte man bald immer größere Müllberge von nicht zerlegtem Zellmüll in der Vakuole heranwachsen sehen. Und daran könnte man dann indirekt ablesen, wie effizient die unsichtbare Müllabfuhr der Autophagosomen vor den Türen der Vakuole arbeitet. Diese Theorie bestätigte sich erfolgreich: In inaktivierten Vakuolen sammelte sich tatsächlich gut erkennbar zellulärer Müll – und Ohsumi konnte damit nun einfach kontrollieren, unter welchen Bedingungen die Autophagosomen zu arbeiten beginnen oder ihr Geschäft einstellen.
Es folgten Jahre mit unterschiedlichsten Experimenten: Sie bestätigten, dass die Autophagosomen zum Beispiel bei akutem Nährstoffmangel anfangen, ihre Mutterzelle aufzuessen, und dass sie bei Stress oder unter der Einwirkung von Giftstoffen deutlich aktiver werden. Zudem führte das japanische Labor viele Tests mit unterschiedlichen Hefeklonen durch, bei denen einzelne Gene durch Mutationen deaktiviert waren – und ermittelten so die Erbgutabschnitte, die für die Regulation des Autophagieprozesses unverzichtbar sind. Am Ende gelang es Ohsumi und verschiedenen Kollegen tatsächlich, sämtliche wichtigen Proteine einer Kaskade von hintereinandergeschalteten Prozessen auszumachen, die am Autophagiegeschehen beteiligt sind und ihre Funktionen zu charakterisieren. So konnten sie beschreiben, wie das über Jahrzehnte bekannte, aber rätselhafte gebliebene Zellgeschehen abläuft.
Bald zeigte sich: In Hefezellen sind bei der Autophagie sehr ähnliche Gene aktiv wie bei allen anderen Organismen der Erde – bis hin zum Menschen. Nun war es anderen Teams weltweit möglich zu untersuchen, welche Folgen einzelne Defekte an Autophagiegenen haben. Es zeigte sich, das Autophagie durchaus ein schöpferischer Prozess in der Dynamik des Lebens ist, denn sie greift auch während des Heranwachsens eines Embryos im Mutterleib ein, indem sie Entwicklungswege vorgibt und formt. Überragend ist der Prozess aber eben als Schaltstelle der zellulären Abfallwirtschaft: Zeigt diese Schwächen – etwa im Alter –, so fördert das die Entstehung verschiedener Krankheiten wie etwa der parkinsonschen Erkrankung oder von Typ-2-Diabetes sowie die Entartung von Zellen, also Krebs. Zellen besorgen per Autophagie zudem nicht nur ihre Müllentsorgung, sondern auch eine Form der Selbstverteidigung: Eingedrungene Bakterien und Viren werden etwa genauso von den Autophagosom-Membranen eingeschlossen und dem Abbau zugeführt wie recycelbare Zellbruchstücke, nicht mehr funktionsfähige Organellen oder andere, etwas größer dimensionierte Abfallsorten.
Der Autophagosom-Mechanismus ergänzt damit einen zweiten Zweig der zellulären Abfallwirtschaft, die Ubiquitin-Müllabfuhr, die vor allem für die Entsorgung einzelner Proteine und kleinerer Moleküle in den zelleigenen Proteasomen zuständig ist. Wie diese arbeitet, hatten die drei Chemienobelpreisträger des Jahres 2004 Aaron Ciechanover, Avram Hershko and Irwin Rose herausgearbeitet – sie geht viel kleinteiliger vor, ist aber, anders als die große Abrissbirne Autophagosom, nicht fähig, ganze Organellen und langlebige Proteinkomplexe zu entfernen. Zusammen mit der Ehrung des Lysosom-Entdeckers de Duve 1974 hat das Nobelkomitee mit dem frisch gebackenen Laureaten Ohsumi nun also zum dritten Mal Forschung an der zellulären Müllentsorgung gewürdigt – und ihre Bedeutung für die Biologie insgesamt nachhaltig unterstrichen.
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