Psychopharmaka: Keine Angst vor der Vergessenspille
Die schrecklichen Erinnerungen von Traumapatienten könnten sich schon bald löschen lassen - ganz einfach per Medikament. Doch überzogene Ängste bringen die Forschung in Misskredit.
Seit Jahren wächst die Zahl der Studien, die erfolgreich das Gedächtnis mit Medikamenten manipulieren: Eine Substanz namens ZIP beispielsweise lässt kokainabhängige Ratten vergessen, an welcher Stelle ihnen immer die Droge verabreicht wurde [1]. Andere Medikamente – die teils sogar am Menschen erprobt wurden – können hingegen den Schmerz dämpfen, der mit dem Erinnern traumatischer Erlebnisse verbunden ist. Ein klinischer Einsatz solcher Wirkstoffe bei Drogenabhängigen, aber auch bei Opfern von Körperverletzung, Verkehrsunfällen, Umweltkatastrophen oder Terrorangriffen rückt damit in greifbare Nähe.
Es wächst aber auch die Zahl der Besorgten. Bereits im Jahr 2003 verurteilte der Bioethikrat des US-Präsidenten alle Pläne, das Gedächtnis von Personen medikamentös zu beeinflussen [2]. Zeitungsberichte oder Fachartikel taten seitdem ihr Übriges – mit der immer gleichen Befürchtung: Die gedächtnisverändernden Wirkstoffe könnten dem Menschen die Fähigkeit rauben, ein aufrichtiges und selbstbestimmtes Leben zu führen.
Gleich mehrere Wirkstoffe stehen im Mittelpunkt der neuen Studien [3, 4]. Propranolol beispielsweise wurde von der FDA, der US-amerikanischen Zulassungsbehörde, bereits zur Behandlung von Bluthochdruck zugelassen. Nun aber stellte sich heraus, dass es auch den seelischen Schmerz, der mit der Erinnerung an ein schlimmes Erlebnis verbunden ist, dämpfen kann. Dies funktioniert, weil Propranolol mit einem Stresshormon wechselwirkt, das normalerweise die Abspeicherung von Gedächtnisinhalten verstärkt. Vorabstudien zufolge kann es die Bildung traumatischer Erinnerungen selbst dann noch hemmen, wenn es Stunden nach dem Vorfall eingenommen wird [5, 6].
Gespräche statt Pillen?
Weil Erinnerungen immer etwas mit der persönlichen Identität zu tun haben, argumentieren viele Bioethiker, man solle sich lieber der zwar anstrengenden, aber lohnenden Auseinandersetzung mit den Erfahrungen stellen, anstatt zu Pille und Co zu greifen. In einer Therapie könnten Betroffene lernen, die guten Seiten eines schlechten Erlebnisses zu erkennen. Würden die Menschen hingegen zu viel Macht über ihr autobiografisches Gedächtnis erhalten, so die Befürchtung, schwäche dies letzten Endes ihr Identitätsgefühl und mache ihr Leben weniger authentisch [2].
Diese Argumente überzeugen jedoch nicht. Es könnte beispielsweise sein, dass sich aus manchen schmerzlichen Episoden gar kein persönlicher Nutzen ziehen lässt, etwa aus den Erlebnissen von Einsatzkräften nach einer Katastrophe mit tausenden Toten.
Medikamente könnten überdies den Heilungsprozess effektiver beschleunigen als eine herkömmliche Therapie. Dann würde den Betroffenen diese Prozedur überhaupt erst erlauben, "sie selbst" zu sein, was unter den emotionalen Nachwirkungen eines Schicksalsschlags oftmals unmöglich ist. Wie der Psychiater Peter Kramer in seinem 1993 erschienenen Buch "Listening to Prozac" (deutsch: "Glück auf Rezept: Der unheimliche Erfolg der Glückspille Fluctin") schrieb, berichteten einige Patienten nach der Einnahme von Antidepressiva genau davon: Sie empfanden sich zum ersten Mal in ihrem Leben als "sie selbst".
Immer wieder heißt es auch, gedächtnisverändernde Medikamente könnten unempfindlich den Schmerzen anderer gegenüber machen. Soldaten würden beispielsweise die Skrupel vor dem Töten verlieren, sobald man ihnen in Aussicht stellt, ihre Schuldgefühle mit einer Tablette bekämpfen zu können [2]. Wir erlauben es dem Militär jedoch auch, ferngesteuerte Drohnen einzusetzen, die zumindest bei einigen Soldaten die Tötungsbereitschaft erhöhen dürften. Wenn wir alles daran setzen, die physischen Verletzungen von Armeeangehörigen so gering wie möglich zu halten, sollten wir uns in gleichem Maß auch um ihre seelischen Verletzungen kümmern.
Grund für die Sorgen der Kritiker ist eine ungerechtfertigte Aversion gegen medikamentöse Verfahren zur Traumabewältigung. Nahezu jeder Zeitungsbericht über gedächtnisverändernde Psychopharmaka setzt sich mit den ethischen Aspekten ihres Einsatzes auseinander. Bei nichtmedikamentösen Ansätzen hingegen wird dieser Problemkreis im Allgemeinen geflissentlich ausgeklammert. Ein entsprechendes Verfahren wurde beispielsweise vergangenes Jahr in "Nature" vorgestellt. Probanden vergaßen dabei durch spezielles Training eine erlernte Assoziation zwischen einem Schlüsselreiz und einem leichten Stromstoß [8]. Obwohl auch hier Erinnerungen manipuliert wurden und die Medien die Studie vielfach aufgriffen, haben Ethiker sie weithin ignoriert.
Solange Wissenschaftler nicht die Kosten, die Effektivität und die Nebenwirkungen einer medikamentösen Traumatherapie schwarz auf weiß vorliegen haben und sie mit herkömmlichen Ansätzen vergleichen können, sollte daher nicht ein Ansatz als minderwertig betrachtet werden.
Welche Einschränkungen sind nötig?
Das heißt nicht, dass es unter manchen Umständen gute Gründe gibt, den Einsatz der Wirkstoffe zu reglementieren – insbesondere jener Medikamente, die das Erinnern an Fakten beeinflussen. Ein Beispiel aus dem Jahr 2007 mag dies illustrieren: Seinem eigenen Bericht zufolge hatte ein Arzt in den Vereinigten Staaten gerade eine Biopsie bei einer Patientin mit Verdacht auf Krebs vorgenommen und die Gewebeprobe direkt an einen Pathologen geschickt [9]. In der Annahme, die Patientin sei vollständig sediert, teilte dieser seine ausgesprochen düstere Prognose unumwunden über den OP-Lautsprecher mit. Allerdings hatte die Patienten nur eine örtliche Betäubung erhalten, bekam das Gespräch mit und fing an, "um Gottes Willen, meine Kinder!" zu schreien.
Mit im Zimmer war ein Anästhesist, der sofort herbeieilte und der Patientin eine Spritze mit Propofol verabreichte – einem Sedativum, das bei manchen Menschen die Erinnerungen an die Minuten vor der Injektion löscht. Als die Frau wieder aufwachte, hatte sie den Vorfall mit der ausgeplauderten Prognose komplett vergessen. Obwohl nun der Eingriff des Anästhesisten sicher gut gemeint war, hatte die Frau wahrscheinlich das Recht, selbst zu entscheiden, ob sie eine solche Manipulation an ihrem Gedächtnis wünschte oder nicht [10].
Umfangreiche Verbote sind hingegen nicht nötig [7]. In den allermeisten Ländern würden die bestehenden Gesetze krassen Missbrauch ohnehin bereits unterbinden. Einen Zeugen betrunken zu machen, um ihn von einer späteren Aussage abzuhalten, fassen US-Richter schon seit langer Zeit als Rechtsbehinderung auf. Das Gedächtnis des Zeugen durch Medikamente zu löschen, würde in analoger Weise als Straftat behandelt.
Forschung ist notwendig
Der Gesetzgeber könnte dem mit Leichtigkeit weitere Einschränkungen hinzufügen. In Fällen etwa, in denen das Leben eines Menschen auf dem Spiel steht – beispielsweise wenn der einzige Zeuge eines Gewaltverbrechens seine traumatischen Erinnerungen ausgelöscht sehen will –, könnten die behandelnden Ärzte dazu verpflichtet werden, vor dem Verschreiben des entsprechenden Medikaments die Polizei zu kontaktieren.
Wenn Wissenschaftler Angst haben müssen, dass die Früchte ihrer Forschung verboten oder mit schweren Auflagen belegt werden könnten, werden sie womöglich von weiteren Studien Abstand nehmen – und Geldgeber von weiteren Unterstützungszahlungen. Dabei sollten im Gegenteil beide dazu ermuntert werden, die medikamentösen und nichtmedikamentösen Methoden zur Traumabewältigung in allen Aspekten auszuleuchten.
Es wächst aber auch die Zahl der Besorgten. Bereits im Jahr 2003 verurteilte der Bioethikrat des US-Präsidenten alle Pläne, das Gedächtnis von Personen medikamentös zu beeinflussen [2]. Zeitungsberichte oder Fachartikel taten seitdem ihr Übriges – mit der immer gleichen Befürchtung: Die gedächtnisverändernden Wirkstoffe könnten dem Menschen die Fähigkeit rauben, ein aufrichtiges und selbstbestimmtes Leben zu führen.
Diese Ängste sind jedoch überzogen. Sicher werden wir uns eines Tages überlegen müssen, wann und wo wir solche Medikamente einsetzen wollen, und entsprechende Regelungen schaffen. Doch wenn die Öffentlichkeit angesichts der ethischen Fragen schon jetzt in helle Aufregung gerät, droht jeder weitere Fortschritt ins Stocken zu geraten – zum Nachteil von Millionen Menschen, die unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Damit würde ihnen und allen anderen, die unter wiederkehrenden, schrecklichen Erinnerungen zum Teil erheblich leiden, die beste Hoffnung auf ein normales Leben zunichtegemacht.
Gleich mehrere Wirkstoffe stehen im Mittelpunkt der neuen Studien [3, 4]. Propranolol beispielsweise wurde von der FDA, der US-amerikanischen Zulassungsbehörde, bereits zur Behandlung von Bluthochdruck zugelassen. Nun aber stellte sich heraus, dass es auch den seelischen Schmerz, der mit der Erinnerung an ein schlimmes Erlebnis verbunden ist, dämpfen kann. Dies funktioniert, weil Propranolol mit einem Stresshormon wechselwirkt, das normalerweise die Abspeicherung von Gedächtnisinhalten verstärkt. Vorabstudien zufolge kann es die Bildung traumatischer Erinnerungen selbst dann noch hemmen, wenn es Stunden nach dem Vorfall eingenommen wird [5, 6].
Gespräche statt Pillen?
Weil Erinnerungen immer etwas mit der persönlichen Identität zu tun haben, argumentieren viele Bioethiker, man solle sich lieber der zwar anstrengenden, aber lohnenden Auseinandersetzung mit den Erfahrungen stellen, anstatt zu Pille und Co zu greifen. In einer Therapie könnten Betroffene lernen, die guten Seiten eines schlechten Erlebnisses zu erkennen. Würden die Menschen hingegen zu viel Macht über ihr autobiografisches Gedächtnis erhalten, so die Befürchtung, schwäche dies letzten Endes ihr Identitätsgefühl und mache ihr Leben weniger authentisch [2].
Diese Argumente überzeugen jedoch nicht. Es könnte beispielsweise sein, dass sich aus manchen schmerzlichen Episoden gar kein persönlicher Nutzen ziehen lässt, etwa aus den Erlebnissen von Einsatzkräften nach einer Katastrophe mit tausenden Toten.
Medikamente könnten überdies den Heilungsprozess effektiver beschleunigen als eine herkömmliche Therapie. Dann würde den Betroffenen diese Prozedur überhaupt erst erlauben, "sie selbst" zu sein, was unter den emotionalen Nachwirkungen eines Schicksalsschlags oftmals unmöglich ist. Wie der Psychiater Peter Kramer in seinem 1993 erschienenen Buch "Listening to Prozac" (deutsch: "Glück auf Rezept: Der unheimliche Erfolg der Glückspille Fluctin") schrieb, berichteten einige Patienten nach der Einnahme von Antidepressiva genau davon: Sie empfanden sich zum ersten Mal in ihrem Leben als "sie selbst".
Immer wieder heißt es auch, gedächtnisverändernde Medikamente könnten unempfindlich den Schmerzen anderer gegenüber machen. Soldaten würden beispielsweise die Skrupel vor dem Töten verlieren, sobald man ihnen in Aussicht stellt, ihre Schuldgefühle mit einer Tablette bekämpfen zu können [2]. Wir erlauben es dem Militär jedoch auch, ferngesteuerte Drohnen einzusetzen, die zumindest bei einigen Soldaten die Tötungsbereitschaft erhöhen dürften. Wenn wir alles daran setzen, die physischen Verletzungen von Armeeangehörigen so gering wie möglich zu halten, sollten wir uns in gleichem Maß auch um ihre seelischen Verletzungen kümmern.
Grund für die Sorgen der Kritiker ist eine ungerechtfertigte Aversion gegen medikamentöse Verfahren zur Traumabewältigung. Nahezu jeder Zeitungsbericht über gedächtnisverändernde Psychopharmaka setzt sich mit den ethischen Aspekten ihres Einsatzes auseinander. Bei nichtmedikamentösen Ansätzen hingegen wird dieser Problemkreis im Allgemeinen geflissentlich ausgeklammert. Ein entsprechendes Verfahren wurde beispielsweise vergangenes Jahr in "Nature" vorgestellt. Probanden vergaßen dabei durch spezielles Training eine erlernte Assoziation zwischen einem Schlüsselreiz und einem leichten Stromstoß [8]. Obwohl auch hier Erinnerungen manipuliert wurden und die Medien die Studie vielfach aufgriffen, haben Ethiker sie weithin ignoriert.
Solange Wissenschaftler nicht die Kosten, die Effektivität und die Nebenwirkungen einer medikamentösen Traumatherapie schwarz auf weiß vorliegen haben und sie mit herkömmlichen Ansätzen vergleichen können, sollte daher nicht ein Ansatz als minderwertig betrachtet werden.
Welche Einschränkungen sind nötig?
Das heißt nicht, dass es unter manchen Umständen gute Gründe gibt, den Einsatz der Wirkstoffe zu reglementieren – insbesondere jener Medikamente, die das Erinnern an Fakten beeinflussen. Ein Beispiel aus dem Jahr 2007 mag dies illustrieren: Seinem eigenen Bericht zufolge hatte ein Arzt in den Vereinigten Staaten gerade eine Biopsie bei einer Patientin mit Verdacht auf Krebs vorgenommen und die Gewebeprobe direkt an einen Pathologen geschickt [9]. In der Annahme, die Patientin sei vollständig sediert, teilte dieser seine ausgesprochen düstere Prognose unumwunden über den OP-Lautsprecher mit. Allerdings hatte die Patienten nur eine örtliche Betäubung erhalten, bekam das Gespräch mit und fing an, "um Gottes Willen, meine Kinder!" zu schreien.
Mit im Zimmer war ein Anästhesist, der sofort herbeieilte und der Patientin eine Spritze mit Propofol verabreichte – einem Sedativum, das bei manchen Menschen die Erinnerungen an die Minuten vor der Injektion löscht. Als die Frau wieder aufwachte, hatte sie den Vorfall mit der ausgeplauderten Prognose komplett vergessen. Obwohl nun der Eingriff des Anästhesisten sicher gut gemeint war, hatte die Frau wahrscheinlich das Recht, selbst zu entscheiden, ob sie eine solche Manipulation an ihrem Gedächtnis wünschte oder nicht [10].
Umfangreiche Verbote sind hingegen nicht nötig [7]. In den allermeisten Ländern würden die bestehenden Gesetze krassen Missbrauch ohnehin bereits unterbinden. Einen Zeugen betrunken zu machen, um ihn von einer späteren Aussage abzuhalten, fassen US-Richter schon seit langer Zeit als Rechtsbehinderung auf. Das Gedächtnis des Zeugen durch Medikamente zu löschen, würde in analoger Weise als Straftat behandelt.
Forschung ist notwendig
Der Gesetzgeber könnte dem mit Leichtigkeit weitere Einschränkungen hinzufügen. In Fällen etwa, in denen das Leben eines Menschen auf dem Spiel steht – beispielsweise wenn der einzige Zeuge eines Gewaltverbrechens seine traumatischen Erinnerungen ausgelöscht sehen will –, könnten die behandelnden Ärzte dazu verpflichtet werden, vor dem Verschreiben des entsprechenden Medikaments die Polizei zu kontaktieren.
Wenn Wissenschaftler Angst haben müssen, dass die Früchte ihrer Forschung verboten oder mit schweren Auflagen belegt werden könnten, werden sie womöglich von weiteren Studien Abstand nehmen – und Geldgeber von weiteren Unterstützungszahlungen. Dabei sollten im Gegenteil beide dazu ermuntert werden, die medikamentösen und nichtmedikamentösen Methoden zur Traumabewältigung in allen Aspekten auszuleuchten.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben