Vogelgrippe in den USA: »Kontraproduktiv, irreführend und für uns Menschen lebensgefährlich«

Herr Harder, aus den USA reißen die Meldungen über die Ausbreitung der Vogelgrippe nicht ab. Warum ist das Virus dort so ein Problem?
Das hochpathogene Influenzavirus des Subtyps H5N1 breitet sich derzeit in Nordamerika besonders massiv aus. In einer sehr stark gewinnorientierten Geflügelproduktion werden kostspielige Maßnahmen der Biosicherheit eher als eine Belastung angesehen und nicht als Schutz, der den Bestand sichert. Die Legehennenbestände in den USA sind teilweise einige Millionen Tiere groß. Wenn das Virus in einen solchen Betrieb einbricht und zu massenhaften Infektionen und Todesfällen führt, entstehen sehr viele Viren. Das Risiko für eine weitere Verbreitung zum Beispiel mit dem Wind oder mit ungenügend desinfizierten Fahrzeugen ist dann sehr hoch.
Der US-amerikanische Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. schlägt nun vor, bei betroffenen Betrieben auf die übliche Keulung des gesamten Bestands zu verzichten. Er will dem Virus freien Lauf lassen und setzt darauf, dass resistente Tiere übrig bleiben. Was halten Sie davon?
Das ist aus meiner Sicht komplett kontraproduktiv, irreführend und für uns Menschen lebensgefährlich.

Warum?
Keult man das Geflügel in infizierten Beständen, dann sterben infizierte Vögel eines schnellen statt eines qualvollen Tods und werden dabei rasch aus dem Verkehr gezogen. Verzichtet man auf die Keulung, bleibt das Virus länger im Umlauf. Und je mehr Gelegenheit wir dem Virus geben, sich zu vermehren und zu zirkulieren, desto höher wird das Risiko, dass sich dieses Virus weiter verbreitet und auch auf Säugetiere übertragen wird.
Steigt damit ebenfalls die Gefahr gefährlicher Mutationen?
Wenn man infizierte Bestände nicht räumt und die Verbreitung des Virus unterbindet, ist das so, als würde man den Viren lauter Lottoscheine aushändigen und sagen: »Kreuzt an, was ihr wollt.« Je mehr Lottoscheine im Umlauf sind, desto höher die Chance, dass ein Virus irgendwann einmal den Hauptgewinn zieht, nämlich sich im Menschen vermehren zu können und weitergegeben zu werden. Es muss immer unser Hauptziel sein, die Zirkulation des Virus in der gesamten Nutztierhaltung zu unterbinden.
Kennedy argumentiert, dass bei freiem Lauf für das Virus in Nutztierbeständen am Ende resistente Tiere übrig bleiben, die man für die weitere Zucht verwenden könnte. Wäre das nicht einen Versuch wert?
Das haben schon viele gedacht und es hat solche Versuche bereits gegeben, aber sie hatten noch nie Erfolg. Das Virus ist seit 1996 bekannt und hat sich von Südostasien aus weltweit ausgebreitet. Bislang sind solche Geflügellinien oder Einzeltiere noch nicht gefunden worden, und es würde mich sehr überraschen, wenn man die in der US-amerikanischen Geflügelproduktion finden würde. Vor allem Hühner und Puten in der kommerziellen Geflügelproduktion sind genetisch relativ einförmig und haben eine extrem große Empfänglichkeit und Vulnerabilität gegenüber dem hochpathogenen Influenzavirus. Das gehört einfach zur Ausstattung dieser Spezies. Trotz intensiver Suche wurde bisher keine Linie, keine alte Hühner- oder Putenrasse gefunden, die mit dem Virus besser umgehen kann und nicht schwer oder gar nicht erkranken würde.
Wäre ein Verzicht auf eine Keulung auch für die Arbeiter in den Betrieben gefährlicher?
Natürlich bedeutet die Keulung eines Geflügelbestandes ein Risiko für die Menschen, die in den Betrieben damit betraut sind. Aber da kennen wir inzwischen die Risiken und die nötigen Abläufe sowie Schutzausrüstungen samt Masken und Brillen, um sie entscheidend zu minimieren. Zumindest in Europa ist es bislang bei keiner von vielen tausend Keulungen zu einer Infektion beim Menschen gekommen. Auf Höfen, auf denen man das Virus frei laufen lässt, können die Arbeiter aber kaum über viele Tage hinweg bei Stallarbeiten Schutzanzüge tragen. Damit steigt dann das Infektionsrisiko auch für sie.
Warum wird diese Strategie dann in den USA überhaupt diskutiert?
Dahinter stecken fragwürdige Ideologien, die eine natürliche Immunisierung überbewerten. Für mich kommt zudem eine gewisse Ignoranz gegenüber den Erfahrungen und wissenschaftlichen Daten zum Ausdruck, die in anderen Ländern und auch in den USA über 20 Jahre hinweg gesammelt wurden. Die Optionen, die jetzt in Washington diskutiert werden, sind meines Erachtens in der Realität nicht umsetzbar und führen im Gegenteil die Geflügelproduktion in eine ausweglose Situation.
Was heißt ausweglos? Was wäre dann die Folge einer Strategie, wie Kennedy sie vorschlägt?
Wenn man dem Virus die Zügel überließe, würde es sich unbegrenzt ausbreiten. Die Todesrate in Hühner- und Putenbeständen liegt vielfach bei 100 Prozent. Die Strategie käme einer Liquidierung des Puten- und Hühnerbestandes in den USA nahe – mit entsprechenden Folgen für die Eierproduktion.
Der hohe Eierpreis ist in den USA ja schon zum Politikum geworden, Trump hat ihn im Wahlkampf der Biden-Regierung vorgehalten und ist nun selbst damit konfrontiert. Wie könnte der Eierpreis wieder sinken?
Wenn Trumps Gesundheitsminister und seine Agrarministerin ihre Pläne umsetzen, dann wird der Eierpreis weiter steigen. Hühner müssten quasi in Fort Knox stehen, um sich nicht zu infizieren. Deren goldene Eier können sich dann nur noch ganz wenige leisten.
»Die Strategie käme einer Liquidierung des Puten- und Hühnerbestandes in den USA nahe«
Was wäre eine bessere Strategie?
Wirklich helfen würde ein verpflichtendes nationales Überwachungsprogramm, mit dem infizierte Bestände sofort identifiziert und verbindliche Maßnahmen zur Eindämmung ausgelöst werden. Die Regierung in Washington müsste alle Geflügelhalter dazu verpflichten, ihre Bestände einem solchen zentral dirigierten Surveillance-Programm zu unterziehen.
Das gibt es noch nicht?
Offenbar nicht im erforderlichen Umfang, und wir sehen bei den Milchkühen, wohin es führt, wenn man alles den Bundesstaaten, den Haltern und letztlich dem Markt überlässt. Die Vogelgrippe ist bereits auf mehr als tausend Milchviehbetriebe übergegangen, und die USA sind das einzige Land weltweit, das tatsächlich H5N1-Infektionen in Eutern von Milchkühen hat, mit der Folge einer hohen Infektiosität der Rohmilch. Nur die Pasteurisierung der Milch, die die Infektiosität von H5N1 sicher zerstört, hat bislang verhindert, dass mehr Menschen dem Virus ausgesetzt waren.
Der Kurs der neuen Regierung, Bundesbehörden zu verkleinern und nationale Regeln aufzuheben, ist in Sachen Vogelgrippe gefährlich?
Das freie Unternehmertum wird hier aus meiner Sicht ungerechtfertigterweise über die Gesundheit des Menschen gestellt. Jede Gesellschaft sollte sich einig sein, dass übergeordnete, kontrollierte Eingriffe auch in die kommerzielle Geflügel- oder Milchproduktion zulässig sein müssen, um ein höheres Gut zu schützen, nämlich die menschliche Gesundheit.
»Um aber Nutzgeflügel resistenter zu machen, müsste man in ihr Erbgut eingreifen«
Wildvögel sind zwar nicht immun gegen das Virus, wie Kennedy behauptet, aber zumindest manche wild lebenden Enten und Gänse sind resistenter. Kann man sich das irgendwie zu Nutze machen?
Es stimmt, dass wild lebende Enten, vor allem Gründelenten wie die Stockente, mit diesem Virus relativ gut klarkommen, insbesondere ab einem Alter von drei bis vier Monaten. Dann kann eine Infektion sogar ohne Symptome ablaufen. Um aber Nutzgeflügel resistenter zu machen, müsste man in ihr Erbgut eingreifen, also gentechnisch veränderte Hühner oder Puten erzeugen.
Wie viel versprechend ist die Forschung in diese Richtung?
Im Huhn ist es gut möglich, die genetische Ausstattung in Richtung größerer Resistenz zu verändern. Dabei wurden bisher zwei wissenschaftliche Ansätze verfolgt, beide mit einem gewissen, aber keinem vollständigen Erfolg. Das größere Problem ist jedoch, dass die Verbraucher keine gentechnisch veränderten Tiere beziehungsweise Eier daraus wollen. Stand heute gibt es nur zwei reale Möglichkeiten, um das Geflügel besser zu schützen. Die eine ist das Hochfahren der Biosicherheitsmaßnahmen und die andere wäre dann eine Impfung von Geflügel als weitere Säule der Prävention.
Was heißt es konkret, Biosicherheitsmaßnahmen hochzufahren?
Da geht es um physische und organisatorische Barrieren zwischen der Geflügelhaltung und der Welt darum herum, also etwa um eine Umzäunung, um eine Haltung im Stall statt im Freiland, um hygienische Abriegelung, eine Besucherkontrolle, eine Beschränkung für den Zugang von Fahrzeugen und dergleichen mehr. Ziel ist es dabei stets, zu verhindern, dass das Virus direkt oder indirekt in die Bestände eingetragen wird. Hier gibt es allerdings auch Zielkonflikte. Die Gänsehaltung muss im Freien erfolgen und der Markt verlangt nach Eiern aus Freilandhaltung.
Wie teuer sind solche Maßnahmen?
Das kann erheblich ins Geld gehen, und letztlich wird das auch der Verbraucher spüren. Für die Halter ist eine verbesserte Biosicherheit aber eine Investition in ihre weitere Existenz, die sonst bedroht sein kann. Wir haben in Deutschland meiner Meinung nach schon gute Erfolge mit verstärkten Maßnahmen erzielt. Bei uns ist das Virus ganzjährig in Wildvogelpopulationen im Umlauf; damit besteht ein ganzjähriges Eintragsrisiko in Geflügelhaltungen. Aber die Zahl betroffener Höfe hält sich in Grenzen, es gibt bislang nur sporadisch Ausbrüche. Einen hundertprozentigen Schutz wird es aber durch Biosicherheitsmaßnahmen allein nicht geben können.
Und was kann die Impfung leisten?
Das erforschen gerade mehrere europäische Länder gemeinsam. Bei uns finden die Prüfungen in Gänsepopulationen statt, die Niederlande untersuchen Legehennen, Italien Puten. Frankreich impft ja bekannterweise schon seit mehr als einem Jahr seine Entenbestände.
Wie sieht die Zwischenbilanz aus?
Es zeigt sich, was wir schon in den Vorjahren aus den Erfahrungen in Afrika und Asien mit Impfstoffen gelernt haben: Mit geeigneten Impfstoffen, die eine hohe Passgenauigkeit zu den aktuell zirkulierenden Virusstämmen haben, ist auch eine große Effizienz der Impfung für die Tiere verbunden. Sie bleiben nämlich wirklich vor Erkrankungssymptomen vollständig geschützt. Ihre Fähigkeit, sich zu infizieren, wird erheblich reduziert. Und geimpfte Tiere scheiden bei einer Infektion zudem deutlich weniger Virusmaterial aus. So bleibt die Virusmenge, die in infizierten geimpften Beständen zirkulieren kann, wesentlich geringer und idealerweise unter einer Schwelle, die den Menschen, die diese Bestände betreuen, gefährlich werden könnte.
Ist die Impfung also ein echter Ausweg?
Nicht als alleinige Maßnahme. Zum einen muss man wissen, dass ein erheblicher Aufwand betrieben werden muss, um Populationen wirklich wirksam zu impfen. Das kostet viel Geld, es kostet viel Arbeit. Die geimpften Bestände müssen dann engmaschig überwacht werden, um das Vertrauen des Handels und des Verbrauchers zu rechtfertigen, dass mit Produkten aus geimpften Geflügelbeständen kein Virus verkauft wird, sondern nur das Produkt selbst. Zum anderen sind Impfungen nur dann sinnvoll, wenn gleichzeitig die beschriebenen Biosicherheitsmaßnahmen beachtet werden.
Warum?
Wir üben auf das Virus in den geimpften Populationen einen speziellen Selektionsdruck aus. Je stärker die Populationsimmunität ausgebildet ist, desto stärker der Druck. Idealerweise wird der Druck dann so groß, dass das Virus quasi in der Falle steckt und nicht mehr rauskommt. Das wäre unser Ziel und damit würden wir das Virus auch auslöschen können. In der Regel ist es aber so, dass man diese vollständige Populationsimmunität nicht erreicht.
Und dann?
Dann besteht das Risiko, dass sich so genannte Escape-Varianten des Virus herausbilden. Diese Virusvarianten besitzen genetische Mutationen, die den Impfstoff teilweise oder vollständig unwirksam werden lassen. Das kennen wir ja von den menschlichen Influenzaviren, der saisonalen Grippe: Auch hier muss häufiger, gegebenenfalls jedes Jahr der Impfstoff angepasst werden, um neu entstandene Virusvarianten zu erfassen.
Dann liegt US-Gesundheitsminister Kennedy mit seiner Warnung, dass eine Impfung von Geflügelbeständen zu einem »Zuchtprogramm für Mutationen« werden könnte, gar nicht so falsch?
Hier spricht er einen Punkt an, der sich tatsächlich mit den wissenschaftlichen Daten deckt. Einfach nur impfen und sonst nichts zu tun, wäre potenziell gefährlich.
»Man darf sich nicht zurücklehnen und sagen: ›Wir impfen doch jetzt‹«
Was heißt das für eine künftige Impfpraxis?
Geimpfte Bestände müssen engmaschig überwacht werden. Sie bleiben zwar mit größerer Wahrscheinlichkeit virenfrei: In Frankreich zum Beispiel ist die Zahl der betroffenen Entenfarmen auch mit Hilfe der Impfung von 500 auf 10 pro Jahr gesunken. Aber wenn das Virus in geimpfte Bestände einbrechen sollte, muss man es finden, selbst wenn die geimpften Tiere keine oder keine deutlichen Symptome der Infektion zeigen – und solche Bestände dann keulen. Man darf sich nicht zurücklehnen und sagen: »Wir impfen doch jetzt«. Es braucht auch mit Impfung eine ständige Überwachung.
Rechnen Sie mit der baldigen Einführung von breiten Impfkampagnen bei uns?
Nein, weil es eine ganze Reihe von Problemen gibt, die wir gar nicht so schnell lösen können: von der Verfügbarkeit zugelassener Impfstoffe bis zur Frage, ob HPAIV-geimpftes Geflügel überhaupt im Export vermarktbar wäre. Die USA haben ihren Markt für Produkte aus geimpften französischen Entenbeständen noch unter der Regierung Biden sofort gesperrt. Das sind für die großen Geflügelproduzenten, die international wirtschaften, erhebliche Risiken, die sie im Moment nicht kalkulieren und deswegen nicht eingehen können. Von daher sehe ich in der nahen Zukunft wenig Chancen, die Impfung wirklich großflächig umzusetzen.
Kennedy stellt als Alternative zur Impfung den Einsatz von therapeutischen Wirkstoffen in Geflügelbeständen zur Diskussion. Was halten Sie davon?
Das hat mich nicht nur überrascht, sondern vielmehr entsetzt. Es gilt bei uns aus gutem Grund ein Behandlungsverbot HPAIV-infizierter Tiere. Die wenigen Wirkstoffe, die wir tatsächlich gegen die Influenza haben, müssen unbedingt für den Einsatz im Menschen reserviert bleiben. Wenn wir Therapeutika, also zum Beispiel Neuraminidase-Hemmer wie Tamiflu, in der Breite in Tierbeständen einsetzen, dann werden sich Resistenzen ausbilden, die auch auf andere, eventuell sogar zoonotische Influenzaviren übertragen werden können. Infektionen mit solchen Viren würden wir dann im Menschen gar nicht mehr behandeln können. Das wäre ein unverantwortliches Vorgehen.
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