Verwandtschaft: Kennen wir uns?
Hatte König Ödipus eigentlich eine Chance? Schließlich konnte er ja nicht riechen, dass diese schöne ältere Frau seine Mutter war. Oder doch? Womöglich erkennen Verwandte einander auch am Geruch - zwischen Bruder und Schwester funktioniert das aber noch ganz anders.
Manche Regeln des Menschen sind älter als seine Sprache und überdauerten vom ersten Steinzeitdenker bis heute. Diese Regeln finden sich dann, in unterschiedlicher Form aber mit fast gleicher Bedeutung, bei nahezu allen Völkern der Welt trotz unterschiedlichster Gemeinschaftsstruktur. Eines dieser ewigen Gesetze der Menschheit heißt auf europäisch "Blut ist dicker als Wasser".
Blut meint hier Verwandtschaft – Brüder, Schwestern, Mütter, Väter und der Rest der Sippe, so sprach wohl schon der mittelhochdeutsche Volksmund im 12. Jahrhundert, halten im Zweifel stärker zueinander als zu bloßen Freunden oder gar eindeutig Fremden. Oft hat der Volksmund damit recht: Dem Verwandten wird in Testamenten oder Notlagen wirklich der Vorzug gegeben, wenn es um Geld, Hilfe und Gefälligkeit geht. Geht es um Liebe und Sex, wird aus einer ewigen Regel aber ein ebenso uraltes Tabu – der Geschlechtsakt mit verwandtem Blut ist "Blutschande".
Was hinter dieser totalen altruistischen Unterstützung Anverwandter einerseits und dem Inzesttabu andererseits steckt, beschäftigte nun Debra Lieberman von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara und ihre Kollegen. Dabei interessierte sie weniger der natürliche Sinn hinter der innerfamiliärer Protektion und dem sozialen Verbot von verwandtschaftlichen Geschlechtskontakten, der in beiden Fällen bereits gut naturwissenschaftlich begründet ist. Die Forscher fragten sich vielmehr, wie Menschen eigentlich seit den frühen steinzeitlichen Jägergemeinschaften bis heute Geschwister überhaupt sicher erkennen.
Natürlich könnte es einem irgendwann von Mama oder Papa gesagt oder, in vorsprachlichen Frühmenschensippen etwa, durch Taten gezeigt worden sein – dies ist dein Bruder, deine Schwester. Vielleicht ist dies aber gar nicht nötig, wie soziologische Beobachtungen schon im vorvergangenen Jahrhundert gezeigt hatten. 1891 hatte der Finne Evard Westermarck eine Hypothese zur natürlichen Inzestvermeidung aufgestellt, die sich im Laufe der Zeit mehr und mehr als wahr herauszustellen schien: Einfach eine lange gemeinsame Zeit in der Kindheit sorgt dafür, ein Gegenüber später nicht mehr als sexuell attraktiv einzustufen – oder, die andere Seite der Medaille, ihm mehr als Anderen altruistisch beizuspringen.
Dabei sei allerdings völlig gleich, ob tatsächlich eine Verwandtschaft mit dem Mitzögling besteht: Ehen, die zwischen Personen geschlossen wurden, die gemeinsam zum Beispiel als Mündel oder Stiefgeschwister aufgewachsen waren, waren nach ersten anthropologisch-statistischen Auswertungen des 19. Jahrhunderts tatsächlich weniger glücklich, weniger kinderreich, weniger leidenschaftlich und wurden häufiger geschieden. Im Laufe der Zeit wurden die Belege für diese Theorie dann auch immer weniger anekdotisch und dafür wissenschaftlich fundierter. Noch heute gilt aber als eine der gängigsten Hypothesen zum biologischen Hintergrund des menschlichen Inzesttabus, dass Kinder, die in einer bestimmten Prägephase miteinander gemeinsam aufgezogen werden, im Normalfall später kein sexuelles Interesse aneinander entwickeln.
Lieberman und Kollegen erweiterten diese Theorie nun und klopften sie – mit Hilfe eines Computermodells und den Daten einer Befragung von 600 Freiwilligen – auf mögliche Schwachstellen ab. Die Teilnehmer hatten entweder jüngere oder ältere Geschwister, mit denen sie ihre gesamte Kindheit verbracht hatten oder mit denen sie nur kurz oder gar nicht zusammen aufgezogen worden waren. Die Forscher fragten alle zum Beispiel nach dem Grad ihrer Abneigung, selbst sexuell mit einem Geschwister aktiv zu werden und ihrer moralischen Einstellung gegenüber Inzest bei Dritten. Außerdem sollten die Befragten angeben, wie selbstlos sie Geschwistern helfen würden oder wie viel Verständnis sie dafür aufbrächten, wenn Andere dies auf Kosten Dritter täten.
Erwartungsgemäß zeigten Personen mit Geschwistern deutliche Abneigungen gegen Inzestvorstellungen und gaben sich auch ausgeprägt altruistischer – allerdings nicht immer im gleichen Maße. Und spannenderweise war gerade die Zeit, die Geschwister in der Kindheit miteinander verbracht hatten, nicht in jedem Fall ein entscheidendes Kriterium für das Ausmaß des typischen geschwisterlichen Verhaltens. Bei Personen, die jüngere Geschwister hatten, war es sogar ziemlich egal, ob diese mit ihnen gemeinsam lange Jahre aufgezogen wurden oder nur ganz kurz. Ganz anders bei Kandidaten mit älteren Geschwistern: Sie waren sehr altruistisch und stark gegen Inzucht besonders dann, wenn sie lange mit ihren Brüdern verbracht hatten. Je länger sie alleine aufgezogen wurden, desto weniger ausgeprägt aber zeigten sie die typischen Abwehreinstellungen gegen Inzest.
Liebermans Team hatte genau dieses Ergebnis schon vor der Befragung erwartet. Ihrer Meinung nach ist nämlich die Dauer einer gemeinsamen Kindheit nur die zweitbeste Strategie, mit der Menschen unbewusst ihre Geschwister erkennen. Viel prägender sei es, wenn ein Kind wahrnimmt, dass ein anderes kurz nach der Geburt eine gewisse Zeit lang in engem Kontakt mit der eigenen Mutter verbleibt, oder, auf wissenschaftlich, wenn es mit eigenen Augen eine "mütterliche perinatale Assoziation (MPA)" des Kindes beobachtet.
Diese MPA könne naturgemäß aber nur ein älteres Geschwister bei einem später geborenen Kind beobachten – ist dies der Fall, dann wird der ummutterte Säugling als Geschwister eingestuft, und im Zuge dessen ändert sich auch die im Fragebogen deutlich werdende spätere Einstellung gegenüber innerfamiliärem Altruismus sowie die starke Ablehnung von Inzest – unabhängig davon, ob der Nachzügler in der Familie lange gemeinsam aufgezogen wird. Anders aber bei jüngeren, die bei einer Phase enger nachgeburtlicher Assoziation zwischen Mutter und älterem Bruder ja noch gar nicht auf der Welt waren: Ihnen muss die Beobachtung der MPA fehlen, weswegen sie auf eine andere Form der Geschwistererkennung zurückgreifen müssen. Dies ist dann die Dauer der gemeinsamen Kindheit. Ist sie nur kurz, so sinkt die Ablehnung von Inzest und das Verständnis für Altruismus deutlich ab, bestätigte die Auswertung der Fragebögen.
Auch ihre Schlussfolgerungen beruhen nur auf Korrelationen und seien mit Vorsicht zu interpretieren, geben Lieberman und Kollegen zu bedenken. Allerdings spräche für ihr Modell deutlich mehr als für alternative Erklärungsansätze. So sei aus ihren Daten zum Beispiel nicht schlüssig abzuleiten, dass allein eine intakte, dauerhaft zusammen lebende Familie, in der womöglich stabile moralische oder religiöse Werte besser vermittelt werden, später zu einer stärkeren Ablehnung von Inzest führen. Dagegen spreche etwa, dass bei männlichen Befragten mit solchen Familienkonstellationen nur dann eine starke generelle Inzuchtablehnung zu beobachten ist, wenn sie eine Schwester, nicht aber, wenn sie einen Bruder hatten. Die spätere Einstellung kann sich demnach nicht allein aus familiär tradierten moralischen Erwägungen speisen, sondern hat eindeutig eine starke biologische Komponente.
Es sei nicht ausgeschlossen, dass weitere Signalreize Verwandtschaft signalisieren, so die Forscher – so könnte eine Geruchskomponente eine Rolle spielen und etwa der Haupthistokompatibilitätskomplex Verwandtschaft verraten – ein in den Zellen omnipräsentes, sehr individuelle Protein, das jeden Menschen kennzeichnet, wohl bei der Partnerwahl eine Rolle spielt und bei Verwandten ähnlicher ist als bei Fremden. Möglicherweise werden äußerliche Ähnlichkeiten irgendwie neurologisch verrechnet, spekulieren andere Wissenschaftler. Eine überragende Rolle können solche Faktoren allerdings kaum spielen: Auch bei in Wahrheit genetisch nicht verwandten Personen, die davon aber erst als Erwachsene erfahren hatten, spielte in Liebermans Test die Dauer der gemeinsamen Kindheit die alles entscheidende Rolle. Für Erstgeborene sei die MPA, also die prägende Beobachtung einer innigen Beziehung von eigener Mutter und unbekanntem Säugling, die beste bislang nachgewiesene Versicherung für brüderliche – und gegen sexuelle Gefühle.
Blut meint hier Verwandtschaft – Brüder, Schwestern, Mütter, Väter und der Rest der Sippe, so sprach wohl schon der mittelhochdeutsche Volksmund im 12. Jahrhundert, halten im Zweifel stärker zueinander als zu bloßen Freunden oder gar eindeutig Fremden. Oft hat der Volksmund damit recht: Dem Verwandten wird in Testamenten oder Notlagen wirklich der Vorzug gegeben, wenn es um Geld, Hilfe und Gefälligkeit geht. Geht es um Liebe und Sex, wird aus einer ewigen Regel aber ein ebenso uraltes Tabu – der Geschlechtsakt mit verwandtem Blut ist "Blutschande".
Was hinter dieser totalen altruistischen Unterstützung Anverwandter einerseits und dem Inzesttabu andererseits steckt, beschäftigte nun Debra Lieberman von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara und ihre Kollegen. Dabei interessierte sie weniger der natürliche Sinn hinter der innerfamiliärer Protektion und dem sozialen Verbot von verwandtschaftlichen Geschlechtskontakten, der in beiden Fällen bereits gut naturwissenschaftlich begründet ist. Die Forscher fragten sich vielmehr, wie Menschen eigentlich seit den frühen steinzeitlichen Jägergemeinschaften bis heute Geschwister überhaupt sicher erkennen.
Natürlich könnte es einem irgendwann von Mama oder Papa gesagt oder, in vorsprachlichen Frühmenschensippen etwa, durch Taten gezeigt worden sein – dies ist dein Bruder, deine Schwester. Vielleicht ist dies aber gar nicht nötig, wie soziologische Beobachtungen schon im vorvergangenen Jahrhundert gezeigt hatten. 1891 hatte der Finne Evard Westermarck eine Hypothese zur natürlichen Inzestvermeidung aufgestellt, die sich im Laufe der Zeit mehr und mehr als wahr herauszustellen schien: Einfach eine lange gemeinsame Zeit in der Kindheit sorgt dafür, ein Gegenüber später nicht mehr als sexuell attraktiv einzustufen – oder, die andere Seite der Medaille, ihm mehr als Anderen altruistisch beizuspringen.
Dabei sei allerdings völlig gleich, ob tatsächlich eine Verwandtschaft mit dem Mitzögling besteht: Ehen, die zwischen Personen geschlossen wurden, die gemeinsam zum Beispiel als Mündel oder Stiefgeschwister aufgewachsen waren, waren nach ersten anthropologisch-statistischen Auswertungen des 19. Jahrhunderts tatsächlich weniger glücklich, weniger kinderreich, weniger leidenschaftlich und wurden häufiger geschieden. Im Laufe der Zeit wurden die Belege für diese Theorie dann auch immer weniger anekdotisch und dafür wissenschaftlich fundierter. Noch heute gilt aber als eine der gängigsten Hypothesen zum biologischen Hintergrund des menschlichen Inzesttabus, dass Kinder, die in einer bestimmten Prägephase miteinander gemeinsam aufgezogen werden, im Normalfall später kein sexuelles Interesse aneinander entwickeln.
Lieberman und Kollegen erweiterten diese Theorie nun und klopften sie – mit Hilfe eines Computermodells und den Daten einer Befragung von 600 Freiwilligen – auf mögliche Schwachstellen ab. Die Teilnehmer hatten entweder jüngere oder ältere Geschwister, mit denen sie ihre gesamte Kindheit verbracht hatten oder mit denen sie nur kurz oder gar nicht zusammen aufgezogen worden waren. Die Forscher fragten alle zum Beispiel nach dem Grad ihrer Abneigung, selbst sexuell mit einem Geschwister aktiv zu werden und ihrer moralischen Einstellung gegenüber Inzest bei Dritten. Außerdem sollten die Befragten angeben, wie selbstlos sie Geschwistern helfen würden oder wie viel Verständnis sie dafür aufbrächten, wenn Andere dies auf Kosten Dritter täten.
Erwartungsgemäß zeigten Personen mit Geschwistern deutliche Abneigungen gegen Inzestvorstellungen und gaben sich auch ausgeprägt altruistischer – allerdings nicht immer im gleichen Maße. Und spannenderweise war gerade die Zeit, die Geschwister in der Kindheit miteinander verbracht hatten, nicht in jedem Fall ein entscheidendes Kriterium für das Ausmaß des typischen geschwisterlichen Verhaltens. Bei Personen, die jüngere Geschwister hatten, war es sogar ziemlich egal, ob diese mit ihnen gemeinsam lange Jahre aufgezogen wurden oder nur ganz kurz. Ganz anders bei Kandidaten mit älteren Geschwistern: Sie waren sehr altruistisch und stark gegen Inzucht besonders dann, wenn sie lange mit ihren Brüdern verbracht hatten. Je länger sie alleine aufgezogen wurden, desto weniger ausgeprägt aber zeigten sie die typischen Abwehreinstellungen gegen Inzest.
Liebermans Team hatte genau dieses Ergebnis schon vor der Befragung erwartet. Ihrer Meinung nach ist nämlich die Dauer einer gemeinsamen Kindheit nur die zweitbeste Strategie, mit der Menschen unbewusst ihre Geschwister erkennen. Viel prägender sei es, wenn ein Kind wahrnimmt, dass ein anderes kurz nach der Geburt eine gewisse Zeit lang in engem Kontakt mit der eigenen Mutter verbleibt, oder, auf wissenschaftlich, wenn es mit eigenen Augen eine "mütterliche perinatale Assoziation (MPA)" des Kindes beobachtet.
Diese MPA könne naturgemäß aber nur ein älteres Geschwister bei einem später geborenen Kind beobachten – ist dies der Fall, dann wird der ummutterte Säugling als Geschwister eingestuft, und im Zuge dessen ändert sich auch die im Fragebogen deutlich werdende spätere Einstellung gegenüber innerfamiliärem Altruismus sowie die starke Ablehnung von Inzest – unabhängig davon, ob der Nachzügler in der Familie lange gemeinsam aufgezogen wird. Anders aber bei jüngeren, die bei einer Phase enger nachgeburtlicher Assoziation zwischen Mutter und älterem Bruder ja noch gar nicht auf der Welt waren: Ihnen muss die Beobachtung der MPA fehlen, weswegen sie auf eine andere Form der Geschwistererkennung zurückgreifen müssen. Dies ist dann die Dauer der gemeinsamen Kindheit. Ist sie nur kurz, so sinkt die Ablehnung von Inzest und das Verständnis für Altruismus deutlich ab, bestätigte die Auswertung der Fragebögen.
Auch ihre Schlussfolgerungen beruhen nur auf Korrelationen und seien mit Vorsicht zu interpretieren, geben Lieberman und Kollegen zu bedenken. Allerdings spräche für ihr Modell deutlich mehr als für alternative Erklärungsansätze. So sei aus ihren Daten zum Beispiel nicht schlüssig abzuleiten, dass allein eine intakte, dauerhaft zusammen lebende Familie, in der womöglich stabile moralische oder religiöse Werte besser vermittelt werden, später zu einer stärkeren Ablehnung von Inzest führen. Dagegen spreche etwa, dass bei männlichen Befragten mit solchen Familienkonstellationen nur dann eine starke generelle Inzuchtablehnung zu beobachten ist, wenn sie eine Schwester, nicht aber, wenn sie einen Bruder hatten. Die spätere Einstellung kann sich demnach nicht allein aus familiär tradierten moralischen Erwägungen speisen, sondern hat eindeutig eine starke biologische Komponente.
Es sei nicht ausgeschlossen, dass weitere Signalreize Verwandtschaft signalisieren, so die Forscher – so könnte eine Geruchskomponente eine Rolle spielen und etwa der Haupthistokompatibilitätskomplex Verwandtschaft verraten – ein in den Zellen omnipräsentes, sehr individuelle Protein, das jeden Menschen kennzeichnet, wohl bei der Partnerwahl eine Rolle spielt und bei Verwandten ähnlicher ist als bei Fremden. Möglicherweise werden äußerliche Ähnlichkeiten irgendwie neurologisch verrechnet, spekulieren andere Wissenschaftler. Eine überragende Rolle können solche Faktoren allerdings kaum spielen: Auch bei in Wahrheit genetisch nicht verwandten Personen, die davon aber erst als Erwachsene erfahren hatten, spielte in Liebermans Test die Dauer der gemeinsamen Kindheit die alles entscheidende Rolle. Für Erstgeborene sei die MPA, also die prägende Beobachtung einer innigen Beziehung von eigener Mutter und unbekanntem Säugling, die beste bislang nachgewiesene Versicherung für brüderliche – und gegen sexuelle Gefühle.
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