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Nukleare Verseuchung: Die Folgen der Strahlung

Jahrzehntelange Kernwaffentests haben in Kasachstan ein Erbe aus Gesundheitsproblemen hinterlassen, mit dem sich Wissenschaftler und Bewohner der Region noch immer herumschlagen.
Kernkraft

Die Lenin-Statuen sind verwittert, und einige von ihnen mit Graffiti besprüht, doch sie stehen noch immer stolz und aufrecht in den Parks von Semei, einer kleinen Industriestadt in der nordöstlichen Steppe von Kasachstan. Überall in der Stadt schlängeln sich kastenförmige Autos und Busse aus Sowjetzeiten an hohen, ziegelroten Wohnblocks und Gehwegen mit aufgesprungenem Pflaster vorbei – den Überresten eines früheren politischen Regimes.

Andere Spuren der Vergangenheit sind nicht ganz so leicht zu entdecken. Tief verankert in der Geschichte der Stadt – eingebettet in die DNA ihrer Bewohner – befindet sich ein Vermächtnis aus der Zeit des Kalten Kriegs. Das etwa 150 Kilometer westlich von Semei gelegene Atomwaffentestgelände Semipalatinsk war der Amboss, auf dem die Sowjetunion ihr nukleares Arsenal schmiedete. Von 1949 bis 1963 malträtierten die Sowjets ein 18 500 Quadratkilometer großes Landstück, das so genannte Polygon, mit mehr als 110 oberirdischen Nuklearwaffentests. Laut Schätzungen der kasachischen Gesundheitsbehörden waren in jenen Jahren bis zu eineinhalb Millionen Menschen einem radioaktiven Fallout ausgesetzt. Unterirdische Atomtests wurden bis 1989 durchgeführt.

Ein Großteil unseres Wissens über die gesundheitlichen Folgen von ionisierender Strahlung stützt sich auf Untersuchungen nach akuten Expositionen: etwa den Atombombenabwürfen, die die japanischen Städte Hiroschima und Nagasaki dem Erdboden gleichmachten, oder der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl in der Ukraine. Wissenschaftliche Studien im Zusammenhang mit diesen Ereignissen haben uns bittere Lektionen über die unmittelbaren Auswirkungen einer extrem hohen Strahlenbelastung und ihre Langzeitfolgen für Umwelt und Menschen erteilt. In den meisten Forschungsarbeiten ließen sich jedoch kaum Belege dafür finden, dass die durch Strahlung hervorgerufenen Gesundheitsschäden auch an nachfolgende Generationen weitergegeben werden.

Folgen der Strahlung nicht auf den ersten Blick zu erkennen

Die in der Nähe des Polygons lebenden Menschen waren nicht nur kurzfristig einer intensiven Strahlenbelastung, sondern auch jahrzehntelang geringen Strahlungsdosen ausgesetzt. Im Lauf der Jahre haben kasachische Wissenschaftler Daten von Anwohnern, die die Atomtests miterlebt hatten, und deren Kindern und Enkelkindern erhoben. Nicht immer sind die Auswirkungen der Strahlung auf den ersten Blick zu erkennen oder leicht nachzuweisen.

Inzwischen haben Forscher aber einige schleichende Gesundheitsfolgen ausfindig gemacht, mit denen sich die Menschen auch 30 Jahre nach der Schließung des Polygons noch immer konfrontiert sehen. Mehrere Studien konnten etwa ein erhöhtes Krebsrisiko belegen; in einer Untersuchung aus dem Jahr 2018 kamen Forscher zu dem Schluss, dass die negativen Effekte von radioaktiver Strahlung auf das Herz-Kreislauf-System möglicherweise sogar von Generation zu Generation weitervererbt werden.

Die Wissenschaftler in Kasachstan bemühen sich darum, die Gesundheitsfolgen von ionisierender Strahlung aus ihren Daten herauszufiltern. Gleichzeitig versuchen sie die Angst zu kanalisieren, mit der die Menschen in der Fallout-Zone seit Jahrzehnten leben. Die Anwohner des Polygons machen die Kernwaffentests für eine Reihe von Problemen verantwortlich, selbst wenn es häufig an hinreichenden Beweisen für einen kausalen Zusammenhang fehlt.

Ausbau der Kernenergie

Für diese Familien, die sich bei der kasachischen Regierung noch immer um staatliche Unterstützung für ihre medizinische Versorgung bemühen, ist es daher außerordentlich wichtig, dass das düstere Vermächtnis der Atomtests sorgfältig untersucht und aufgearbeitet wird. Vielleicht können sich die jüngsten technologischen Entwicklungen im Bereich der Genetik, etwa das so genannte Next Generation Sequencing (NGS), in diesem Zusammenhang als hilfreich erweisen.

Die derzeitige Forschung in Kasachstan versucht ein besseres Verständnis für die Risiken zu schaffen, die mit einer Langzeitexposition gegenüber radioaktiver Strahlung verbunden sind. So könnte sie auch dazu beitragen, die aktuelle Debatte über einen möglichen Ausbau der Kernenergie zur Reduzierung der Kohlendioxidemissionen, wie er von manchen gefordert wird, mit fundierten wissenschaftlichen Informationen zu versorgen. »Die Tests auf dem Polygon waren eine gewaltige Tragödie«, unterstreicht Talgat Muldagaliev, stellvertretender Direktor des Instituts für Strahlenmedizin und Ökologie in Semei. »Aber wir können sie nicht rückgängig machen. Jetzt müssen wir uns mit ihren Konsequenzen auseinandersetzen.«

»Die Tests auf dem Polygon waren eine gewaltige Tragödie, aber wir können sie nicht rückgängig machen. Jetzt müssen wir uns mit ihren Konsequenzen auseinandersetzen«Talgat Muldagaliev

Am 12. August 1953 war Valentina Nikonchik aus Semei gerade draußen und spielte, als sie ein ohrenbetäubendes Donnern hörte, zu Boden fiel und bewusstlos wurde. Das Mädchen war Zeugin der ersten Explosion einer thermonuklearen Bombe auf dem Polygon geworden. Die gemeinhin auch als Wasserstoffbombe bezeichnete Kernwaffe der zweiten Generation setzte eine Sprengkraft von 400 Kilotonnen TNT-Äquivalenten frei und besaß eine 25-mal stärkere Wirkung als die Atombombe von Hiroschima. Im Hinblick auf die menschliche Strahlenbelastung gilt jener Kernwaffentest aus dem Jahr 1953 als der folgenschwerste, der je auf dem Polygon durchgeführt wurde.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die sowjetische Armee bereits seit vier Jahren diverse Waffen auf dem Semipalatinsk-Gelände getestet. Die Soldaten hatten Bomben aus Flugzeugen abgeworfen und von Rampen abgeschossen, um die Wirkung der Detonationen auf Gebäude, Brücken, Fahrzeuge und Nutztiere zu untersuchen. Allerdings hatten sie – ob aus Unwissenheit oder Gleichgültigkeit – nicht in Erwägung gezogen, dass die über die ungeschützte kasachische Steppe hinwegfegenden Starkwinde den radioaktiven Niederschlag auch in angrenzende, von Menschen bewohnte Regionen transportieren würden.

Im Jahr 1963 unterzeichneten Regierungsvertreter der Sowjetunion den Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser (Limited Test Ban Treaty), der den oberirdischen Atomtests einen Riegel vorschob. Die bis ins Jahr 1989 fortgesetzten unterirdischen Atomwaffenversuche haben zwar zu einem gewissen Strahlenrisiko beigetragen. Aber die während der ersten 14 Jahre auf dem Polygon durchgeführten atmosphärischen Atomtests werden – was die akute Strahlenbelastung angeht – insgesamt als die gefährlichsten angesehen.

Erkrankung endet nach wenigen Stunden tödlich

Als Maß für die absorbierte Dosis einer Strahlung wird die Einheit Gray verwendet. Hohe Strahlungsdosen, die bei Werten von etwa einem Gray beginnen, führen bereits zum Absterben von Zellen und zu Gewebeschäden. Werden Menschen einer stärkeren Strahlung ausgesetzt, entwickeln sie häufig die so genannte akute Strahlenkrankheit, die mit Erbrechen, Durchfall und inneren Blutungen einhergeht. Abhängig von der Strahlenbelastung und der Anzahl abgetöteter Zellen kann die Erkrankung schon nach wenigen Stunden tödlich enden; manchmal dauert es auch mehrere Wochen, bis die betroffenen Menschen daran sterben.

Im August 1956 gab es einen oberirdischen Atomtest auf dem Polygon: In der Folge erkrankten in der etwa 400 Kilometer östlich des Testgeländes gelegenen Industriestadt Ust-Kamenogorsk (heute Öskemen) mehr als 600 Einwohner am akuten Strahlensyndrom und mussten auf schnellstem Weg in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Wie viele der strahlenkranken Menschen damals starben, ist bis heute wegen fehlender Aufzeichnungen nicht bekannt.

Auch für Zellen mit einer hohen Teilungsrate, etwa die eines heranwachsenden Fötus, ist die Einwirkung von ionisierender Strahlung gefährlich. Frauen, die in der Nähe des Polygons lebten, brachten daher mit höherer Wahrscheinlichkeit Kinder mit Chromosomenanomalien zur Welt, die sich beispielsweise im Down-Syndrom oder in angeborenen Behinderungen manifestierten.

Die Big Four
»Damals, als ich noch ein Kind war, hat keiner von uns über die Gesundheitsgefahren nachgedacht, die von diesen Tests ausgehen könnten«Valentina Nikonchik

Bei Valentina Nikonchik und zahlreichen anderen Personen vergingen allerdings Jahre oder gar Jahrzehnte, bis die Folgen der Strahlenbelastung sichtbar wurden. Viele Jahre nach jener Explosion, deren Druckwelle sie zu Boden warf, wurden bei ihr eine Herzkrankheit und Probleme mit der Schilddrüse festgestellt, die nach ihrer Meinung und der ihres Arztes mit den Atomtests in Zusammenhang stehen. »Damals, als ich noch ein Kind war, hat keiner von uns über die Gesundheitsgefahren nachgedacht, die von diesen Tests ausgehen könnten«, sagt Nikonchik rückblickend.

Nach dem Kernwaffentest im August 1956 und nachdem zahlreiche Einwohner von Ust-Kamenogorsk der Strahlenkrankheit zum Opfer gefallen waren, richtete das sowjetische Militär eine streng geheime medizinische Klinik in Semei ein. Dort sollten betroffene Personen medizinisch versorgt werden; gleichzeitig diente die Einrichtung Wissenschaftlern als Operationsbasis, welche die Gesundheitsdaten der Strahlenopfer erfassen sollte. Um den wahren Zweck der Klinik zu verbergen, gab ihr die sowjetische Armee den Namen »Anti-Brucellose-Dispensarium Nr. 4«, der sich auf eine von Nutztieren übertragbare bakterielle Infektionskrankheit bezog. Menschen, die zur Behandlung in dieses Krankenhaus kamen, wurden zwar medizinisch untersucht, doch sie bekamen keinerlei Auskunft darüber, was eigentlich mit ihnen los war.

Geheime Klinik, verschwundene Unterlagen

Nachdem die Republik Kasachstan ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt hatte, entsandten sowjetische Regierungsvertreter 1991 ein Spezialkomitee in das Dispensorium von Semei. Einige Unterlagen wurden von den russischen Beamten vernichtet, andere geheime Akten nach Moskau gebracht. Bis heute wissen die kasachischen Forscher nicht, welche Informationen diese Dokumente enthielten.

Das Dispensorium wurde nachfolgend in das Institut für Strahlenmedizin und Ökologie (Scientific Research Institute for Radiation Medicine and Ecology, IRME) umbenannt und übernahm die verbliebenen geheimen Krankenakten zusammen mit dem übrigen Inventar. Neben epidemiologischen Studien zu den Auswirkungen von radioaktiver Strahlung auf die menschliche Gesundheit, die am Institut noch immer fortgesetzt werden, betreibt das IRME eine kleine Klinik: Hier werden Angehörige der Atomtestopfer behandelt, und es gibt eine mobile medizinische Versorgungseinheit.

Im Lauf der Jahre wurden Patienten, die am Dispensarium Nr. 4 oder dem späteren IRME medizinische Hilfe in Anspruch genommen hatten, in ein staatliches Register eingetragen, in dem sich die gesundheitliche Entwicklung der von den Atomwaffentests betroffenen Menschen nachverfolgen lässt. Die Personen wurden nach Generationen und der Menge der aufgenommenen Strahlung, die man anhand ihres Wohnorts abschätzte, in Gruppen eingeteilt.

Mehr als 300 000 Betroffene im Register

Obwohl das Register nicht alle Opfer der Waffentests umfasste, waren darin zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr als 351 000 Menschen aus drei Generationen aufgelistet. Über ein Drittel von ihnen ist bereits verstorben, viele sind aus der Region fortgezogen oder haben aus anderen Gründen den Kontakt verloren. Laut Muldagaliev standen jedoch seit 1962 etwa 10 000 Personen unter ständiger medizinischer Beobachtung. Wissenschaftler betrachten das Gesundheitsregister daher als eine wichtige und noch relativ unausgeschöpfte Informationsquelle, um der Wirkung einer Niedrigdosis-Langzeitbestrahlung auf den Grund zu gehen.

Mit Hilfe dieser Unterlagen waren beispielsweise Genetiker in der Lage, generationsübergreifende Effekte von radioaktiver Strahlung zu studieren. In den späten 1990er Jahren besuchten kasachische Forscher den in der Umgebung des Polygons gelegenen, besonders stark verstrahlten Ort Beskaragai. Von 40 der dort lebenden Familien, die jeweils drei Generationen umfassten, nahmen die Wissenschaftler Blutproben und schickten sie zur Analyse an Yuri Dubrova von der University of Leicester in Großbritannien. Der Genetiker hat sich auf die Erforschung des Einflusses von Umweltfaktoren auf die Keimbahn spezialisiert – die in Samen- und Eizellen enthaltene DNA, die an die Nachkommen weitergegeben wird. Er konnte es kaum erwarten, die DNA der strahlenexponierten Familien zu untersuchen und dabei das Auftreten von Mutationen über mehrere Generationen hinweg zu verfolgen.

»Wir glauben, dass Techniken wie das Next Generation Sequencing uns möglicherweise konkrete Informationen darüber liefern können, wie sich diese Mutationen des menschlichen Genoms auswirken«Yuri Dubrova

In einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2002 berichteten Dubrova und seine Kollegen, dass Mitglieder der Polygon-Familien, die unmittelbar von radioaktiver Strahlung betroffen gewesen waren, eine fast doppelt so hohe Rate von Keimbahnmutationen aufwiesen wie Personen einer Kontrollgruppe. Dieser Effekt ließ sich auch in darauf folgenden Generationen nachweisen, die keiner direkten Strahlenbelastung ausgesetzt gewesen waren: Bei den Kindern der ursprünglichen Atomtestopfer stellten die Forscher eine gegenüber Kontrollgruppen um 50 Prozent erhöhte Keimbahnmutationsrate fest.

Wenn es den Wissenschaftlern gelänge, bei den Nachkommen strahlenbelasteter Eltern bestimmte Mutationsmuster zu identifizieren, gäbe es laut Dubrova vielleicht eine Möglichkeit, langfristige Gesundheitsrisiken über mehrere Generationen hinweg genauer vorherzusagen. »Das ist die nächste große Herausforderung«, erklärt der Genetiker. »Wir glauben, dass Techniken wie das Next Generation Sequencing uns möglicherweise konkrete Informationen darüber liefern können, wie sich diese Mutationen des menschlichen Genoms auswirken.«

Herzprobleme in der Folge der Strahlung

Als Zhanar Mukhamedzhanova 19 Jahre alt war, begann sie sich während der Arbeit matt und kraftlos zu fühlen. Sie fand dies seltsam, denn als Buchhalterin hatte sie keinen besonders anstrengenden Beruf. Deshalb ließ sie sich vorsichtshalber in einer örtlichen Klinik in Semei untersuchen. Ihr systolischer Blutdruck betrug über 160 mm Hg – ein aus medizinischer Sicht ziemlich hoher Wert. Seit sie erwachsen war, hatte Mukhamedzhanova meistens in der Stadt gelebt. Ihre frühe Kindheit hatte sie allerdings in der Region Abai verbracht, einer besiedelten Gegend in der Nähe des Polygons, die zu den am stärksten verstrahlten Gebieten zählt.

Mukhamedzhanovas Eltern waren Zeugen der Kernwaffentests geworden; der Vater erlag mit nur 41 Jahren einem Schlaganfall, die Mutter starb im Alter von 70 Jahren auf Grund von Herzproblemen. Während ihre ältere Schwester an Bluthochdruck leidet, ist die jüngere von einer Herzinsuffizienz betroffen, einer Erkrankung, bei der das Herz zu schwach ist, um den Körper ausreichend mit Blut zu versorgen. Derartige Leiden treten in der Bevölkerung allgemein zwar relativ häufig auf, doch es gibt gewisse Hinweise, dass ihre Inzidenz bei strahlenbelasteten Personen und deren Nachkommen möglicherweise höher ist.

Im November 2018 fanden Lyudmila Pivina und ihre Mitarbeiter an der Staatlichen Medizinischen Akademie Semei beispielsweise heraus, dass eine Langzeitbestrahlung mit niedrigen Dosen zu Herz-Kreislauf-Problemen wie etwa hohem Blutdruck führen kann. In ihrer Studie hatten sie die Gesundheitsentwicklung von 1800 Personen verfolgt, unter denen sich auch Angehörige von Überlebenden der Polygon-Atomtests in zweiter und dritter Generation befanden.

Überraschende Entdeckung

Die Forscher konzentrierten sich dann ausschließlich auf Personen, deren Eltern in Gebieten gelebt hatten, die von 1949 bis 1989 radioaktiver Strahlung ausgesetzt gewesen waren. So kamen sie zu dem Ergebnis, dass das Risiko eines erhöhten Blutdrucks mit der Strahlungsmenge korrelierte, von der die Eltern betroffen gewesen waren – eine Entdeckung, die die Wissenschaftler überraschte. Bei Menschen in Hiroschima und Nagasaki, deren Eltern oder Großeltern die Atombombenabwürfe miterlebt hatten, habe man ein derartiges generationenübergreifendes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht eindeutig nachweisen können, berichtet der Strahlenforscher Jim Smith von der britischen University of Portsmouth.

Dieser Unterschied könnte auf das Expositionsmuster zurückzuführen sein. Bei einer längeren Bestrahlung mit geringen Dosen wird es zu einem gehäuften Auftreten von Mutationen in den Zellen kommen, da diese unermüdlich versuchen, die durch die Strahlung verursachten Schäden ihrer DNA zu reparieren. Genau aus diesem Grund sei es wichtig, Populationen zu untersuchen, die unterschiedlichen Bestrahlungslängen und -intensitäten ausgesetzt waren. So könne man das gesamte Ausmaß der Wirkung von radioaktiver Strahlung auf die menschliche Gesundheit erfassen, verdeutlicht der Experte für Strahlenepidemiologie Bernd Grosche vom Bundesamt für Strahlenschutz in Oberschleißheim, der mittlerweile im Ruhestand ist. Angesichts der Verfügbarkeit des kasachischen Gesundheitsregisters wäre es geradezu fahrlässig, diese Daten nicht genauer zu analysieren, fügt er hinzu.

Allerdings sei es eine recht anspruchsvolle Aufgabe, von Umweltbelastungen betroffene Bevölkerungsgruppen zu analysieren, bemerkt Cari Kitahara, eine Epidemiologin im Bereich der Krebsforschung am National Cancer Institute in Bethesda, Maryland. Man müsse nämlich bei einer großen Anzahl einzelner Individuen auch die dazugehörigen Expositionsdaten erfassen. Die Wissenschaftlerin beschäftigt sich mit dem Einfluss von ionisierender Strahlung auf die Gesundheit von medizinisch-technischen Radiologieassistenten, einer Berufsgruppe, bei der sich die Strahlenexposition problemlos nachverfolgen lässt.

Bergmänner in Uranminen und Radiologieassistenten als Probanden

Andere Forscher untersuchen beispielsweise Bergmänner in Uranminen oder Arbeiter in Atomkraftwerken, die ebenfalls über längere Zeiträume mit schwachen Strahlungsdosen konfrontiert werden. Während es überwiegend Frauen sind, die den Beruf der Radiologieassistentin ausüben, werden die Tätigkeiten in Berg- und Atomkraftwerken zumeist von Männern erledigt. Vor diesem Hintergrund bildet die Bevölkerung in der Umgebung des Polygons eine bemerkenswerte Ausnahme, da sie die Zusammensetzung der gesamten Bevölkerung widerspiegelt.

Eines der größten Probleme, dem Wissenschaftler bei der Erforschung des Einflusses von Strahlung auf die Gesundheit gegenüberstünden, sei die Schwierigkeit, ein bestimmtes Leiden ausschließlich auf die Strahlung zurückzuführen. Das gibt die Wissenschaftlerin Yuliya Semenova von der Staatlichen Medizinischen Akademie Semei zu bedenken. Sie erforscht die generationsübergreifenden Folgen der Kernwaffentests auf dem Polygon.

»Jede Katastrophe hat einen Anfang und ein Ende, aber was radioaktive Strahlung angeht, ist das Ende noch immer unbekannt«Talgat Muldagaliev

Da es sich bei Krebs und Bluthochdruck um weit verbreitete Erkrankungen handelt, könne man mit Hilfe von Kohortenstudien, in denen Populationen über längere Zeiträume verfolgt werden, spezifische Faktoren identifizieren, die zu ihrer Entstehung beitrügen, erläutert Semenova. Die Wissenschaftlerin und ihre Kollegen wollen das staatliche Gesundheitsregister nutzen, um epidemiologische Studien zu entwickeln, die den Zusammenhang zwischen Strahlung und Erkrankungen besser verdeutlichen können.

Dennoch haben Forscher, die die gesundheitliche Entwicklung von Anwohnern des Polygons beobachten, noch nicht den vollen Umfang des Schadens erfasst, den eine langfristige Niedrigdosisstrahlung der menschlichen Gesundheit zufügen kann. Und mit zunehmender Zeit wird es womöglich immer schwieriger, die Effekte der Strahlung eindeutig von denen anderer Umweltfaktoren abzugrenzen. »Jede Katastrophe hat einen Anfang und ein Ende«, stellt Muldagaliev fest. »Aber was radioaktive Strahlung angeht, ist das Ende noch immer unbekannt.«

Unsichtbares Vermächtnis

Fröhliche, aus Autoreifen gefertigte Figuren begrüßen die Besucher eines Waisenhauses, das sich etwas versteckt in einem Wohnviertel von Semei befindet. In der ersten Etage des zweistöckigen Gebäudes gibt es einen Raum mit hellorange gestrichenen Wänden – das Sonnenzimmer, wie es die Betreuer nennen. Auf seinem Fußboden wälzt sich ein dreijähriger Junge namens Artur und versucht langsam, einen Stuhl zu erklimmen. Nach drei korrektiven Operationen ist er seit Kurzem in der Lage, zu laufen.

Sein älterer Bruder kam mit einem Hydrozephalus zur Welt, einer krankhaften Ansammlung von Hirnflüssigkeit, die eine Vergrößerung des Kopfes bewirkt. Er wurde in demselben Waisenhaus wie Artur abgegeben, lebt aber mittlerweile in einer anderen Einrichtung. In einer Wiege liegt Maria, ein zweijähriges Mädchen, das weder krabbeln, laufen noch aufrecht sitzen kann. Wenn Maria weint, schnappt sie röchelnd nach Luft – offenbar bereitet ihr das Atmen große Mühe. Niemand weiß, was dem Mädchen genau fehlt und ob es je das Erwachsenenalter erreichen wird.

Die mit Behinderung geborenen Kinder, die einen Teil ihres Lebens in diesem Waisenhaus oder anderen Heimen in der Region verbracht haben, werden oft als sichtbare Erinnerung an das Vermächtnis des Polygons präsentiert. Die Eltern jener acht Kinder, die sich im November 2018 im Sonnenzimmer des Waisenhauses von Semei aufhielten, seien größtenteils in besonders stark verstrahlten Dörfern aufgewachsen, erzählt die Betreuerin Raikhan Smagulova. Manche Ärzte empfehlen den von radioaktiver Strahlung betroffenen Erwachsenen daher, lieber ganz auf eigenen Nachwuchs zu verzichten.

Betroffene bekommen Kinder mit Fehlbildungen

Ob die früheren Strahlungsexpositionen der Eltern allerdings tatsächlich für die schweren angeborenen Fehlbildungen bei Kindern verantwortlich sind, ist ein heiß diskutiertes Thema, zu dem es bisher nur wenige stichhaltige Beweise gibt. Wie so viele andere Fragen in Semei erfordere auch diese weitere wissenschaftliche Untersuchungen, und es sei keine leichte Aufgabe, darauf eine endgültige Antwort zu finden, bekennt Muldagaliev.

Bei vielen Bewohnern jener Region in Kasachstan werden die Auswirkungen der radioaktiven Strahlung wahrscheinlich nicht so deutlich in Erscheinung treten wie die angeborenen Behinderungen jener Kinder. Dennoch könnten sie sich als weitaus heimtückischer erweisen, indem sie zukünftigen Generationen auf unbestimmte Zeit in Form von gesundheitlichen Problemen Schwierigkeiten bereiten.

»Es ist ein Stempel, den man der Stadt aufgedrückt hat. Wir wollen unbedingt verhindern, dass man uns nur aus diesem einen Grund kennt«Symbat Abdykarimova

Der Schwerpunkt, den Forscher, Filmregisseure und andere im Lauf der Jahre dem Erbe des Polygons gewidmet haben, ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Einerseits rücke er die Misere der Strahlungsopfer in den Mittelpunkt des weltweiten öffentlichen Interesses. Andererseits sorge er aber auch für eine Stigmatisierung, meint Semenova. Auf manchen kann die negative Aufmerksamkeit geradezu erdrückend wirken: Statt als Geburtsort einiger der prominentesten Dichter und Künstler Kasachstans bekannt zu sein, ist Semei hauptsächlich wegen seiner dunklen Vergangenheit berühmt.

»Es ist ein Stempel, den man der Stadt aufgedrückt hat«, konstatiert Symbat Abdykarimova, eine Neuropathologin am Waisenhaus von Semei. »Wir möchten stolz auf Semei sein, denn schließlich leben wir ja hier. Doch aus aller Welt kommen Journalisten, um mit uns über das Polygon zu reden. Wir wollen unbedingt verhindern, dass man uns nur aus diesem einen Grund kennt.«

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