Mathematische Physik: Mit KI an die Grenzen der Strömungsdynamik
Seit mehr als 250 Jahren versuchen Mathematikerinnen und Mathematiker, die Fluiddynamik in die Knie zu zwingen. Sie suchen nach unmöglichen Szenarien, bei denen die grundlegenden Gleichungen des Fachgebiets zusammenbrechen: einen Wirbel, der sich unendlich schnell dreht; eine Strömung, die abrupt stoppt und wieder weiterläuft; oder ein Teilchen, das unendlich schnell an seinen Nachbarn vorbeiströmt. Jenseits solcher als »Blow-up« oder »Singularitäten« bekannten Phänomene haben die Gleichungen keine Lösungen mehr. In diesem Fall können sie nicht einmal mehr eine idealisierte Version unserer Welt beschreiben. Sollten tatsächlich Singularitäten auftreten, stellt sich die Frage, wie verlässlich die fluiddynamischen Modelle überhaupt sind.
Aber Singularitäten können so schlüpfrig sein wie die Flüssigkeiten, die sie beschreiben. Um eine Singularität zu finden, übergeben Fachleute die Gleichungen meist einem Computer und führen Simulationen durch. Man beginnt mit einer Reihe von Anfangsbedingungen (welche Geschwindigkeit hat das Fluid an welcher Stelle?) und wartet dann ab, bis der Wert einer bestimmten Größe – etwa der Geschwindigkeit oder der Wirbelstärke – stark ansteigt und dem Anschein nach kurz davor ist, über alle Grenzen zu wachsen.
Rechner können eine Singularität jedoch nicht eindeutig nachweisen, weil sie nicht mit unendlichen Werten arbeiten. Sollte es eine solche Stelle geben, kommen Computermodelle vielleicht nahe an den Punkt heran, an dem die Gleichungen versagen, aber sie können den Blow-up nie direkt belegen. Schon oft haben sich in der Vergangenheit vermeintliche Singularitäten in Luft aufgelöst, als sie mit leistungsfähigeren Berechnungsmethoden untersucht wurden.
Dennoch sind solche computergestützten Näherungen wichtig. Mit ihrer Hilfe können Fachleute beweisen, dass eine echte Singularität existiert. Für eine vereinfachte, eindimensionale Version des Problems ist das 2019 bereits gelungen.
Im Juni 2023 hat ein Team von Mathematikern und Geowissenschaftlern in der Fachzeitschrift »Physical Review Letters« eine völlig neue Methode vorgestellt, um mögliche Singularitäten auszumachen. Dabei stützten sie sich auf eine erst kurz zuvor entwickelte Form des Deep Learning, die es ihnen erlaubte, nach Singularitäten zu suchen, die sich den herkömmlichen Methoden entzogen haben. Die Forscher hoffen, auf diese Weise endlich zeigen zu können, dass die Gleichungen der Fluiddynamik nicht so unfehlbar sind, wie sie vielleicht scheinen.
Die Arbeit hat einen Wettlauf ausgelöst: Wem wird es als Erstes gelingen, die Gleichungen in die Knie zu zwingen? Auf der einen Seite steht das Deep-Learning-Team, auf der anderen Seite Mathematikerinnen und Mathematiker, die seit Jahren mit etablierteren Techniken arbeiten. Unabhängig davon, wer das Rennen gewinnt – falls überhaupt jemand die Ziellinie erreicht – verdeutlichen die Fortschritte, wie künstliche Intelligenz dazu beitragen kann, neue Lösungen für vielfältige Probleme zu finden.
Die verschwundene Singularität
Die Gleichungen, die im Mittelpunkt der neuen Arbeit stehen, schrieb Leonhard Euler im Jahr 1757 nieder. Er wollte damit die Bewegung eines idealen, inkompressiblen Fluids beschreiben: einer Flüssigkeit ohne Viskosität oder innere Reibung, die sich nicht zusammenpressen lässt. (Flüssigkeiten mit Viskosität tauchen in der Natur häufig auf und werden durch die Navier-Stokes-Gleichungen modelliert; für die Lösung dieser Gleichungen hat das Clay Mathematics Institute 2000 einen Preis in Höhe einer Million US-Dollar ausgeschrieben.) Würde man die Geschwindigkeit jedes Teilchens in einer Flüssigkeit zu einem bestimmten Startpunkt kennen, sollten die Euler-Gleichungen genau vorhersagen, wie das Fluid strömt.
Allerdings ist unklar, ob die Gleichungen immerzu realistische Ergebnisse liefern. Es könnte Situationen geben, in denen sie versagen. Es gibt Grund zu der Vermutung, dass dies tatsächlich der Fall ist: Die modellierten idealen Fluide verhalten sich überhaupt nicht wie reale Flüssigkeiten, die auch nur das kleinste bisschen Viskosität aufweisen. Eine Singularität in den Euler-Gleichungen könnte diese Diskrepanz erklären.
2013 schlugen zwei Forscher ein Szenario vor, in dem die Gleichungen scheitern. Da es unglaublich schwer ist, die Dynamik einer Flüssigkeit in drei Dimensionen allgemein zu lösen, haben der Mathematiker Thomas Hou vom California Institute of Technology und sein Kollege Guo Luo, jetzt an der Hang Seng University of Hong Kong, Strömungen untersucht, die einer bestimmten Symmetrie gehorchen.
Sie betrachteten eine Flüssigkeit, die im Inneren eines zylindrischen Gefäßes rotiert. In der oberen Hälfte des Zylinders dreht sie sich im Uhrzeigersinn, in der unteren ihm entgegen. Die gegenläufigen Wirbel verursachen komplizierte Ströme, die auf und ab wandern. Als Hou und Luo diese Situation simulierten, erkannten sie, dass die Wirbelstärke nach kurzer Zeit an einem Punkt entlang der Grenzschicht zwischen beiden widerstreitenden Strömungen riesige Werte annimmt.
Das lässt an jener Stelle eine Singularität vermuten. Aber ohne mathematischen Beweis ist es unmöglich, mit Sicherheit zu wissen, dass es sich auch wirklich um ein Blow-up handelt. Vor der Arbeit von Hou und Luo wurden in vielen Simulationen potenzielle Singularitäten gesichtet – aber die meisten davon verschwanden, als man sie später auf einem leistungsfähigeren Computer untersuchte.
»Es ist eine hohe Kunst, die Euler-Gleichungen auf einem Computer gut zu simulieren«Charlie Fefferman, Mathematiker
Der Grund dafür ist, dass die Lösungen der Euler-Gleichungen sehr instabil sein können. Sie sind anfällig für kleine, scheinbar triviale Abweichungen, die sich mit jedem Zeitschritt in einer Berechnung summieren können. »Es ist eine hohe Kunst, die Euler-Gleichungen auf einem Computer gut zu simulieren«, sagt der Mathematiker Charlie Fefferman von der Princeton University. »Sie sind extrem empfindlich gegenüber winzigen, winzigen Fehlern – selbst in der 38. Nachkommastelle.«
Dennoch hat die vermutete Singularität von Hou und Luo bisher jedem Test standgehalten und zu vielen Folgearbeiten geführt, einschließlich vollständiger Beweise für ein Blow-up bei schwächeren Versionen des Problems. »Es ist bei Weitem das beste Szenario für die Entstehung einer Singularität«, sagt der Mathematiker Vladimir Sverak von der University of Minnesota. »Viele Leute, mich eingeschlossen, glauben, dass es sich dieses Mal um eine echte Singularität handelt.«
Doch der endgültige Beleg fehlt. Dafür müsse man zeigen, dass es tatsächlich einen unendlichen Wert in der Umgebung der genäherten Lösung gibt. Wie sich herausstellt, lässt sich diese zu beweisende Aussage in mathematische Begriffe umschreiben, die sich dann als wahre These herausstellen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Um diese Bedingungen zu prüfen, ist jedoch erneut ein Computer erforderlich. Dieser muss eine Reihe von Berechnungen durchführen (die die Näherungslösung einbeziehen) und dabei die Fehler, die sich häufen könnten, sorgfältig kontrollieren.
Hou und sein Doktorand Jiajie Chen arbeiten bereits seit mehreren Jahren an einem solchen computergestützten Beweis. Sie haben ihre Näherungslösung aus dem Jahr 2013 verfeinert und nutzten das als Grundlage für einen Beweis. Fertig stellen konnten sie ihn aber bisher nur für Probleme, die einfacher zu bewältigen sind als die Euler-Gleichungen.
Inzwischen hat sich eine weitere Gruppe der Jagd nach der Singularität angeschlossen. Die beteiligten Forscher haben mit einem völlig anderen Ansatz, der auf einer neuen Form von Deep Learning beruht, eine eigene Näherung gefunden, die dem Ergebnis von Hou und Luo aber sehr ähnlich ist. Auch diese Forschungsgruppe arbeitet auf Hochtouren an einem computergestützten Beweis der vermuteten Singularität. Es ist völlig offen, wer das Rennen gewinnt.
Inspiration durch die Antarktisforschung
Der Mathematiker Tristan Buckmaster von der Princeton University stieß rein zufällig auf den neuen KI-Ansatz. 2021 wurde er von dem Studenten Charlie Cowen-Breen gebeten, für ein Projekt zu unterzeichnen. Cowen-Breen untersuchte damals unter der Leitung des Geophysikers Ching-Yao Lai die Dynamik der Eisschilde in der Antarktis. Mit Satellitenbildern und anderen Beobachtungen versuchte das Team, die Viskosität des Eises zu bestimmen und dessen zukünftige Bewegung vorherzusagen. Dabei stützten es sich auf einen Deep-Learning-Ansatz, den Buckmaster noch nicht kannte.
Im Gegensatz zu herkömmlichen neuronalen Netzen, die mit riesigen Datenmengen trainiert werden, befolgt ein »physikinformiertes neuronales Netz« (PINN) zusätzlich eine Reihe von physikalischen Bedingungen. Dazu können Bewegungsgesetze, Energieerhaltung oder die Gesetze der Thermodynamik gehören – was auch immer Fachleute für das betrachtete Problem benötigen.
Die Einbindung von Physik in neuronale Netze dient mehreren Zwecken. Zum einen kann die KI auch dann Fragen beantworten, wenn nur wenige Daten zur Verfügung stehen. Außerdem kann ein PINN unbekannte Parameter aus den ursprünglichen Gleichungen ableiten. »Bei vielen physikalischen Problemen verstehen wir ungefähr, wie die Formeln aussehen sollten, aber wir wissen nicht, wie die Koeffizienten gewisser Terme lauten«, sagt der Physiker Yongji Wang, Koautor der neuen Arbeit. Das traf auch auf einen Parameter zu, den Lai und Cowen-Breen zu bestimmen versuchten.
Das brachte Buckmaster zum Nachdenken. Die klassischen Methoden zur Lösung der Euler-Gleichungen mit zylindrischem Rand – die Hou, Luo und Chen genutzt hatten – erforderten mühsame Zeitentwicklungen. Wegen dieser zeitlichen Abhängigkeit kann man sich der Singularität zwar nähern, sie aber niemals ganz erreichen: Je näher man herankommt, desto ungenauer werden die Berechnungen des Computers.
Selbstähnliche Funktionen als Hilfe
Die Euler-Gleichungen lassen sich jedoch durch eine andere Reihe von Formeln darstellen, die mittels eines mathematischen Tricks ihre Zeitabhängigkeit verlieren. Das Ergebnis von Hou und Luo aus dem Jahr 2013 zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass es eine sehr präzise Näherungslösung festlegt; die gefundene Lösung scheint auch eine besondere Art von selbstähnlicher Struktur zu haben. Das heißt, die Lösung des Modells folgt im Lauf der Zeit einem bestimmten Muster: Die Form zu einem späteren Zeitpunkt sieht der früheren Form sehr ähnlich, nur vergrößert.
Das ermöglicht es Mathematikern, sich auf einen Zeitpunkt in den Gleichungen zu konzentrieren, bevor die Singularität auftritt. Wenn sie an diesen Schnappschuss mit der richtigen Geschwindigkeit heranzoomen – als ob sie ihn unter einem Mikroskop betrachten – lässt sich modellieren, was im nächsten Moment passiert – und im nachfolgenden und so weiter, bis hin zu dem Zeitpunkt, an dem die Singularität entsteht. Wenn es gelingt, währenddessen alle Objekte auf die entsprechenden Skalen zu bringen, muss man dabei nicht mit unendlichen Werten hantieren. »Es nähert sich alles einem schönen Grenzwert«, sagt Fefferman, und dieser Grenzwert stelle die Singularität in der zeitabhängigen Version der Gleichungen dar. »Es ist einfacher, die neu skalierten Funktionen zu modellieren«, sagt Sverak. »Wenn man eine Singularität mit Hilfe einer selbstähnlichen Funktion beschreiben kann, ist das ein großer Vorteil.«
Die Schwierigkeit besteht darin, dass die selbstähnlichen Gleichungen einen unbekannten Parameter enthalten: die Variable, die die Vergrößerungsrate bestimmt. Ihr Wert muss exakt gewählt sein, um sicherzustellen, dass das Ergebnis einer Singularität in der ursprünglichen Version des Problems entspricht.
Man müsste die Gleichungen gleichzeitig vorwärts und rückwärts lösen – eine komplizierte, wenn nicht gar unmögliche Aufgabe, wenn man sie mit herkömmlichen Methoden angeht. Aber PINNs wurden entwickelt, um genau diese Art von Lösungen zu liefern.
Der Weg zur Explosion
Rückblickend, so Buckmaster, scheint all das ziemlich naheliegend. Er, Lai, Wang und Javier Gómez-Serrano, ein Mathematiker der Brown University und der Universität Barcelona, legten mehrere physikalische Bedingungen fest, um ihr PINN zu leiten: Anforderungen in Bezug auf Symmetrie und andere Eigenschaften sowie die Gleichungen, die sie lösen wollten. Anschließend trainierten sie das neuronale Netz auf die Suche nach Lösungen – und der Vergrößerungsrate –, die diese Bedingungen erfüllen. »Die Methode ist sehr flexibel«, sagt Lai. »Man kann immer eine Lösung finden, solange man die richtigen Randbedingungen auferlegt.«
Das Ergebnis des Teams ähnelt der Lösung, die Hou und Luo 2013 gefunden haben. Die Forschungsgruppe um Buckmaster hofft jedoch, dass ihre Annäherung ein detaillierteres Bild des Geschehens zeichne. »Das neue Ergebnis zeigt genauer, wie die Singularität entsteht«, sagt Sverak.
»Ich habe noch niemanden gesehen, der PINNs für so etwas verwendet«George Karniadakis, Mathematiker
»Man extrahiert die Essenz der Singularität«, sagt Buckmaster. »Es war sehr schwierig, das ohne neuronale Netze zu zeigen. Es ist klar wie Tag und Nacht, dass das ein viel einfacherer Ansatz ist als traditionelle Methoden.« Gómez-Serrano stimmt dem zu. »Das wird ein Teil der Standard-Werkzeugkästen sein, die Fachleute künftig nutzen werden«, sagte er.
Wieder einmal haben PINNs der Forschung geholfen – doch dieses Mal bei einem weitaus theoretischeren Problem als üblich. »Ich habe noch niemanden gesehen, der PINNs für so etwas verwendet«, sagt der Mathematiker George Karniadakis von der Brown University in Providence, der 2017 erstmals PINNs entwickelt hat.
Das ist nicht der einzige Grund, warum die Fachwelt so begeistert ist. PINNs könnten auch geeignet sein, um andere Arten von Singularitäten zu finden, die herkömmlichen numerischen Methoden entgehen. Diese »instabilen« Singularitäten sind möglicherweise die einzigen, die in bestimmten Modellen der Strömungsdynamik existieren, etwa bei den Euler-Gleichungen ohne zylindrische Begrenzung (die viel komplizierter zu lösen sind) oder bei den Navier-Stokes-Gleichungen.
Aber selbst für stabile Singularitäten, die man mit klassischen Methoden behandeln kann, ist die PINN-Lösung der zylindrischen Euler-Gleichungen »quantitativ und präzise und hat eine viel bessere Chance, formalisiert zu werden«, so Fefferman. »Ein Beweis wird eine Menge Arbeit und Geschicklichkeit erfordern. Ich kann mir vorstellen, dass es eine gewisse Originalität benötigt. Aber ich glaube nicht, dass es ein Genie braucht. Ich denke, es ist machbar.«
Buckmasters Gruppe tritt nun gegen Hou und Chen an, um als erste die Ziellinie zu überschreiten. Hou und Chen haben jedoch einen Vorsprung: In den letzten Jahren gelangen ihnen erhebliche Fortschritte bei der Verbesserung ihrer Näherungslösung und der Fertigstellung eines Beweises. Hou vermutet, dass Buckmaster und seine Kollegen ihre Näherungslösung erst verfeinern müssen, bevor sie ihren eigenen Beweis zum Laufen bringen können. »Es gibt nur sehr wenig Spielraum für Fehler«, sagt er.
Dennoch hoffen viele Experten, dass die 250-jährige Suche nach der Lösung der Euler-Gleichungen bald zu Ende ist. »Vom Konzept her denke ich, dass alle wichtigen Teile vorhanden sind«, sagte Sverak. »Es ist nur sehr schwer, die Details festzulegen.«
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