Top-Innovationen 2020: Virtuelle Patienten sollen die Medizin revolutionieren
Jeden Tag, so scheint es, ermöglicht irgendein neuer Algorithmus, eine Krankheit mit beispielloser Genauigkeit zu diagnostizieren. Computerbasierte Anwendungen in der Medizin entwickeln sich rasant. Und irgendwie klingt es allmählich immer wahrscheinlicher, dass Ärzte einmal durch Computer ersetzt werden. Vergleichsweise neu ist dagegen die umgekehrte Vorstellung: Was, wenn Computer nicht Ärztinnen, sondern Patienten ersetzen?
Hätte man, zum Beispiel, in einigen Phasen von Studien an Coronavirus-Impfstoffen nicht echte Testkandidaten durch virtuelle Personen ersetzen können? Möglicherweise hätte das die Entwicklung einer Covid-19-Vakzine noch mehr beschleunigt, als es sowieso der Fall war, und die Pandemie womöglich verlangsamt. Potenzielle, aber wahrscheinlich nicht wirksame Impfstoffe hätten vielleicht frühzeitig erkannt werden können. Das hätte Kosten für ihre Erprobung eingespart: Sie wären nie bis zu einem Zeitpunkt weiterentwickelt worden, an dem sie sich an lebenden Freiwilligen hätten bewähren müssen.
Die spannendsten Technikinnovationen des Jahres 2020
Welche technischen Fortschritte haben das Potenzial, das Gesundheitswesen, ganze Industriezweige oder gar Gesellschaften in drei bis fünf Jahren zu revolutionieren? Die zehn besten aus 75 nominierten »Innovationen des Jahres 2020« hat ein Team aus Fachleuten gewählt, einberufen vom Weltwirtschaftsforum sowie vom US-Wissenschaftsmagazin »Scientific American«.
Wir stellen die Top-10 in den letzten zwei Wochen des Jahres vor:
- Medizin: Der schmerzfreie Piks
- Chemie: Sonne macht Kohlendioxid zum Rohstoff
- Klinische Forschung: Virtuelle Patienten sollen die Medizin revolutionieren
- Spatial Computing: Digitale und analoge Welt verschmelzen
- Digitale Medizin: Mit Apps Krankheiten erkennen und behandeln
- Elektrische Luftfahrt: Endlich klimafreundlich fliegen
- Quantensensoren: Die Welt mit höchster Präzision vermessen
- Klimasünder Zement: Der Baustoff lässt sich klimafreundlich produzieren
- Grüner Brennstoff: Wasserstoff-Energie ohne Treibhausgase
- Synthetische Biologie: Nächste Schritte beim Nachbau des Lebens
Fortschritte wie diese verspricht die so genannte »In-silico«-Medizin: die Erprobung von Medikamenten und Therapien an virtuellen Organen oder Körpersystemen. Mit ihr soll sich vorhersagen lassen, wie reale Personen auf eine Therapie reagieren werden. Zwar wird dieser Computer-Ansatz Studien von Arzneien an echten Patientinnen und Patienten auch in absehbarer Zukunft nicht ganz ersetzen können – in der späten Testphase, kurz vor der Zulassung, ist ein Realitätsabgleich unvermeidlich. Aber mit In-silico-Studien sollten sich schnell und kostengünstig erste Bewertungen der Sicherheit und Wirksamkeit durchführen lassen, für die sonst auch Menschen nötig sind. So müssten nicht mehr so viele Freiwillige für die zahlreichen Studien rekrutiert werden, in denen die Medikamenten- und Impfstoffe durchfallen, die es nie auf den Markt schaffen.
Ein Instrument für Studien, aber auch zur Diagnose
Die erste Grundlage eines virtuellen Organs sind Daten. Diese müssen zunächst aus der Bildgebung gewonnen werden, mit der sich die Organe einer Person ohne operativen Eingriff hochauflösend darstellen lassen. Sie werden dann in ein komplexes mathematisches Modell eingespeist, das die Funktionsmechanismen des Organs modelliert. Ziel ist es, dass die Algorithmen ein virtuelles Organ erzeugen, das das Original abbildet und genauso arbeitet.
Erste In-silico-Studien laufen bereits. So setzt beispielsweise die US-Arzneimittelbehörde FDA auf Computersimulationen an Stelle von Humanstudien, um neue Systeme zur Mammografie zu bewerten. Mammografien sind Untersuchungen der Brust und werden häufig in der Brustkrebs-Früherkennung eingesetzt. Die FDA regt auch in einem Leitfaden dazu an, virtuelle Patienten in Versuche mit Medikamenten oder Medizingeräten einzuschließen.
In-silico-Medizin kann nicht nur klinische Tests beschleunigen und die Risiken von Studien mindern. Sie kann auch statt risikoreicher Eingriffe eingesetzt werden, die für die Diagnose von Krankheiten oder einen Behandlungsplan erforderlich sind.
Ein gutes Beispiel dafür ist die HeartFlow-Analyse, ein von der FDA genehmigter, cloudbasierter Service, der es Medizinern ermöglicht, Erkrankungen der Blutgefäße am Herzen zu erkennen. Dafür greift das HeartFlow-System auf computertomografische Bilder des Patienten-Herzens zu, erstellt daraus ein Modell und macht sichtbar, wie das Blut durch die Gefäße fließt. Damit lassen sich abnormale Zustände identifizieren, und man kann abschätzen, wie schwerwiegend sie sind. Ohne diese Technologie müssten Ärzte ein Angiogramm durchführen, um zu entscheiden, ob und wie sie eingreifen sollten. Dafür wäre eine lokale Betäubung nötig, um ein Kontrastmittel zu verabreichen, das Störungen im Blutfluss auf einem Röntgenbild sichtbar macht. Mit dem HeartFlow-System lässt sich dieser invasive Eingriff vermeiden.
Darüber hinaus wird mit solchen digitalen Modellen in viele Richtungen experimentiert. Womöglich können so Therapien für viele weitere Erkrankungen personalisiert werden. Die Methode wird in der Diabetes-Versorgung zum Beispiel schon für eine Methodenbewertung herangezogen.
Gründliche Tests und weiterer Fortschritt sind nötig
Die Grundidee hinter der In-silico-Medizin ist nicht neu. Für die Ingenieurwissenschaften ist es seit Jahrzehnten ein übliches Vorgehen, vor dem eigentlichen Bau eines Objekts seine Leistungsfähigkeit bei Hunderten von Betriebsbedingungen zu simulieren. So werden regelmäßig Modelle für elektronische Schaltkreise angefertigt, für Flugzeuge oder Gebäude.
Vor einem breiten Einsatz in der medizinischen Forschung oder bei Therapien müssen noch verschiedene Hürden überwunden werden. Nötig sind zunächst etwa exakte Tests der wirklichen Vorhersagekraft und Zuverlässigkeit der In-silico-Technologie. Und die sind ohne weitere Fortschritte erst einmal noch gar nicht möglich: Es fehlen etwa qualitativ hochwertige medizinische Datenbanken, in denen ein großer, vielfältiger Patientenstamm erfasst wird; Frauen, Männer, junge und alte Menschen aus sämtlichen Teilen der Welt. Gebraucht werden verfeinerte mathematische Modelle, die den vielen komplexen Prozessen im Körper gerecht werden. Außerdem müssten die Methoden der künstlichen Intelligenz erweitert werden, um überhaupt biologische Erkenntnisse gewinnen zu können.
Wissenschaft und Industrie arbeiten daran – etwa in Initiativen wie dem Living Heart Project von Dassault Systèmes, dem Virtual Physiological Human Institute for Integrative Biomedical Research und der Microsoft-Sparte Healthcare NExT. In den vergangenen Jahren haben die FDA und auch europäische Aufsichtsbehörden einige kommerzielle Anwendungen der computergestützten Diagnostik genehmigt. Damit die In-silico-Methoden jedoch die behördlichen Anforderungen erfüllen, braucht es viel Zeit und Geld. Es bleibt eine Herausforderung, im hochkomplexen Gesundheitswesen wirtschaftliche Nachfrage nach den Systemen zu schaffen. Die In-silico-Medizin muss Patienten, Klinikerinnen und Gesundheitsorganisationen einen kosteneffektiven Nutzen bieten, so dass sich die Einführung der Technologie beschleunigt.
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