Erdbebenvorhersage mit Machine Learning: KI sagt Nachbeben voraus – und wie stark sie sein werden
Seismologen machen Fortschritte bei einem ihrer verlockendsten, aber auch komplexesten Ziele: dem Einsatz von Machine Learning zur Verbesserung der Erdbebenvorhersage. In drei Veröffentlichungen werden Deep-Learning-Modelle beschrieben, die bei der Vorhersage von Erdbeben besser abschneiden als ein herkömmliches Modell auf dem neuesten Stand der Technik – gemeint sind die folgenden Paper: »Using Deep Learning for Flexible and Scalable Earthquake Forecasting«, »Forecasting the 2016-2017 Central Apennines Earthquake Sequence With a Neural Point Process« und »A neural encoder for earthquake rate forecasting«.
Die Ergebnisse sind vorläufig und können wohl nur für begrenzte Situationen Geltung beanspruchen, etwa dafür, das Risiko von Nachbeben einzuschätzen, nachdem ein »großes« Erdbeben bereits zugeschlagen hat. Forscherinnen und Forscher sind schon seit Langem auf der Suche nach solchen Vorhersagemöglichkeiten. Die vorliegenden Untersuchungen stellen daher einen bemerkenswerten Fortschritt darin dar, wie sich mit Hilfe des maschinellen Lernens die Risiken durch Erdbeben reduzieren lassen.
»Ich bin begeistert, dass sich hier endlich etwas bewegt«, sagt Morgan Page, Seismologin beim US Geological Survey (USGS) in Pasadena, Kalifornien, die nicht an den Studien beteiligt war.
Erdbebenprognose ist keine Wettervorhersage
Erdbebenvorhersagen sind keineswegs Vorhersagen eines Ereignisses einer bestimmten Stärke an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit – sie liefern also keine genaue Angabe wie »nächsten Dienstag um 15 Uhr«. Die Vorstellung, dass Wissenschaftler solche hochspezifischen Vorhersagen machen könnten, ist Sciencefiction. Stattdessen helfen statistische Analysen den Seismologen, allgemeinere Trends zu verstehen, etwa wie viele Nachbeben in den Tagen und Wochen nach einem großen Erdbeben zu erwarten sind. Behörden wie der kalifornische Geological Survey geben Nachbebenvorhersagen heraus, um die Menschen in bebengeschädigten Gebieten zu warnen, was noch auf sie zukommen könnte.
Auf den ersten Blick wirkt es einleuchtend, dass Anwendungen wie Erdbebenvorhersagen sich mit Hilfe von Deep Learning verbessern lassen sollten. Die Techniken sind gut geeignet, große Datenmengen aufzunehmen, zu synthetisieren und zu nutzen, um die nächsten logischen Elemente in einem Muster vorherzusagen. Die Seismologie ist reich an Daten aus Aufzeichnungen von Erdbeben weltweit. So wie ein großes Sprachmodell sich selbst auf der Grundlage von Millionen an Wörtern trainieren kann, um zu prognostizieren, welches Wort als Nächstes kommen könnte, sollte ein Erdbebenvorhersagemodell doch in der Lage sein, sich selbst auf der Basis von Erdbebenverzeichnissen zu trainieren, um die Wahrscheinlichkeit eines Bebens nach einem bereits aufgetretenen vorherzusagen.
Doch die Forscher taten sich schwer, aus all den Bebendaten aussagekräftige Trends zu extrahieren. Große Erdbeben sind selten, und es ist nicht einfach, herauszufinden, welche der Daten besonders aufhorchen lassen sollten.
In den vergangenen Jahren haben Seismologen jedoch mit Hilfe des maschinellen Lernens kleine Erdbeben aufgedeckt, die in seismischen Aufzeichnungen zuvor nicht zu finden gewesen waren. Diese Beben haben die bestehenden Erdbebendatenbanken vergrößert und bieten neues Futter für eine zweite Runde der maschinellen Erschließung.
Die aktuellen USGS-Prognosen verwenden ein Modell, das sich auf grundlegende Informationen über frühere Erdbebenstärken und -orte stützt, um vorauszusagen, was als Nächstes passieren könnte. Die drei neuesten Arbeiten verwenden stattdessen einen Ansatz mit neuronalen Netzen, bei dem die Berechnungen bei jedem Analyseschritt aktualisiert werden, um die komplexen Muster des Auftretens von Erdbeben besser zu erfassen.
Seismisches Training
In der ersten Studie testeten der Geophysiker Kelian Dascher-Cousineau von der University of California, Berkeley, und seine Kollegen ihr Modell anhand einer Datenbank mit Tausenden von Beben, die sich zwischen 2008 und 2021 in Südkalifornien ereignet hatten. Ihr Modell schnitt bei der Vorhersage der Anzahl der Beben »in rollenden Zwei-Wochen-Zeiträumen« besser ab als das Standardmodell. Außerdem konnte es den gesamten Magnitudenbereich möglicher Erdbeben besser abbilden und so die Wahrscheinlichkeit der Überraschung durch ein großes Beben verringern.
»Es besteht Hoffnung, dass wir die zu Grunde liegenden Mechanismen besser verstehen werden – was Erdbeben auslöst und was ihre Stärke bestimmt«Yohai Bar-Sinai, Physiker
An der University of Bristol in Großbritannien hat der Statistiker Samuel Stockman eine ähnliche Methode entwickelt, die offenbar gut funktioniert. Stockman und sein Team trainierten ihr Modell mit einer Datenbank von Erdbeben, die 2016 bis 2017 Mittelitalien erschüttert und mehrere Städte beschädigt hatten. Wenn die Forscher die Stärke der Beben in der Trainingsgruppe verringern, »beginnt das maschinelle Lernmodell besser zu funktionieren«, sagt Stockman.
Und an der Universität Tel Aviv in Israel leitet der Physiker Yohai Bar-Sinai ein Team, das ein drittes Modell mit neuronalen Netzen entwickelt hat. Bei einem Test mit Erdbebendaten über einen Zeitraum von 30 Jahren aus Japan schnitt auch dieses Modell besser ab als das Standardmodell. Die Arbeit könnte Einblicke in die grundlegende Erdbebenphysik geben, meint Bar-Sinai. »Es besteht Hoffnung, dass wir die zu Grunde liegenden Mechanismen besser verstehen werden – was Erdbeben auslöst und was ihre Stärke bestimmt.«
Die Zukunft der Vorhersage
Alle drei Modelle sind »mäßig vielversprechend« laut Leila Mizrahi, Seismologin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. In ihrer jetzigen Form seien sie nicht bahnbrechend, aber sie zeigten das Potenzial, Ansätze des maschinellen Lernens in die Routinen der Erdbebenvorhersage einzubringen.
»Das ist gewiss kein Allheilmittel«, fügt Maximilian Werner hinzu. Er ist Seismologe an der University of Bristol und arbeitet mit Stockman zusammen. Werner meint jedoch, dass Machine Learning in den kommenden Jahren allmählich in die offiziellen Erdbebenvorhersagen einfließen werde, weil es sich ausgesprochen gut für die Arbeit mit den riesigen Erdbebendatensätzen eignet, die immer häufiger anfallen.
»Wir müssen weiterhin dafür sorgen, dass unsere Gebäude erdbebensicher sind«Kelian Dascher-Cousineau, Geophysiker
Agenturen wie der US Geological Survey werden wohl in absehbarer Zeit damit beginnen, maschinelle Lernmodelle neben ihren Standardmodellen zu verwenden. Im nächsten Schritt könnten solche Einrichtungen ganz auf den maschinellen Ansatz umsteigen, wenn er sich als überlegen erweist, sagt Page. Das könnte die Vorhersagen überall dort verbessern, wo Nachbeben unvorhersehbar auftreten und das Leben der Menschen monatelang beeinträchtigen, wie es in Italien der Fall war. Die Modelle könnten auch zur Verbesserung der Vorhersagen nach großen, seltenen Erdbeben eingesetzt werden, wie nach dem Erdbeben der Stärke 6,8 in Marokko im September 2023, bei dem tausende Menschen ums Leben kamen.
Dennoch warnen Forscher wie Dascher-Cousineau davor, sich zu sehr auf diese noch etwas ausgefallenen neuen Modelle zu verlassen. »Letzten Endes ist die Vorbereitung auf Erdbeben das Wichtigste«, sagt er. »Wir müssen weiterhin dafür sorgen, dass unsere Gebäude erdbebensicher sind, und wir können nicht auf unsere bewährten Erdbebenstrategien verzichten, nur weil wir ein besseres Modell zur Vorhersage haben.«
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