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Erziehung: Anschreien ist Kindesmisshandlung

Kinder leiden unter körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch oft ein Leben lang. Laut Fachleuten können Worte eine ähnlich verheerende Wirkung haben.
Vater redet auf seine jugendliche Tochter ein, sie hält sich die Ohren zu
Wenn sich ein Kind die Ohren zuhält, sollten Eltern wieder etwas Ruhe ins Gespräch bringen. (Symbolbild)

Nahezu alle Eltern sind manchmal von ihren Kindern genervt. Einige werden in solchen Momenten laut, sie schimpfen, drohen oder lassen sich zu einer bösen Bemerkung hinreißen. Diese Aggressionen können bei Kindern dauerhafte Spuren hinterlassen, warnt ein Forschungsteam aus England und den USA. Die Gruppe um Shanta Dube von der Wingate University in North Carolina fordert deshalb, verbale Übergriffe nicht länger als zulässige Erziehungsmaßnahme zu betrachten, sondern als eine Form der Misshandlung – wie Vernachlässigung, körperlicher oder sexueller Missbrauch.

Die Epidemiologin und ihr Team hatten im Auftrag der britischen Wohltätigkeitsorganisation »Words Matter« mehr als 150 Studien gesichtet. Mehrheitlich ging es darin um verbale Übergriffe von Eltern gegenüber ihren Kindern, am häufigsten in Form von Anschreien oder Brüllen. Dazu zählten unter anderem auch Schimpfen, Fluchen, Drohen, Beleidigen, Demütigen, Schuldzuschreibungen und abwertende Kommentare, wie die Gruppe erläutert. Bei verbalen Misshandlungen komme es nicht allein auf die Lautstärke an, sondern auch auf den Tonfall, den Inhalt der Worte und ihre Wirkung.

Beispiele gibt eine von »Words Matter« vorgestellte Umfrage unter jeweils mehr als 1000 Erwachsenen und Kindern ab elf Jahren in Großbritannien. Demnach empfinden es die meisten Kinder als besonders verletzend, wenn sie als nutzlos oder dumm bezeichnet werden. Rund 40 Prozent berichteten, regelmäßig böse Worte von Erwachsenen zu hören, jedes zehnte Kind davon sogar täglich. 65 Prozent der Eltern räumten solche verbalen Aussetzer ein.

Je etwa zwei von drei betroffenen Kindern gaben an, danach traurig zu sein oder an Selbstvertrauen verloren zu haben. Immerhin glaubten mehr als die Hälfte nicht, dass die Erwachsenen sie absichtlich so behandelten; sie machten Geldsorgen oder anderen Stress verantwortlich.

Dennoch: In der Übersichtsstudie erwies sich verbale Feindseligkeit der Eltern als schädlichstes Merkmal eines autoritären Erziehungsstils. Die meisten betroffenen Kinder litten auf kurze und lange Sicht darunter: Sie fühlten sich ungeliebt, abgelehnt, teils sogar gehasst oder verachtet, teils auch hilflos oder verängstigt. Lebensfreude, Selbstwertgefühl und Selbstkontrolle sanken; sie entwickelten mehr Verhaltensauffälligkeiten, Probleme mit Gleichaltrigen und in der Schule. Als Spätfolgen drohten Depressionen, Aggressionen, Alkohol- und Drogenkonsum, Wut und kriminelles Verhalten. Daneben kam es auch vermehrt zu Essstörungen, Übergewicht und körperlichen Erkrankungen wie erhöhtem Blutdruck.

»Wegen der lebenslangen negativen Folgen muss verbaler Missbrauch in der Kindheit dringend als eine Unterart von Missbrauch anerkannt werden«, sagt die Epidemiologin Shanta Dube. Oft seien sich Eltern nicht bewusst, wie Anschreien und abwertende Worte wie »dumm« und »faul« bei den Kindern ankommen – viele Erwachsene würden es aus der eigenen Kindheit nicht anders kennen. Um der Weitergabe von Generation zu Generation vorzubeugen, müsse man bei den Erwachsenen ansetzen.

Kindesmisshandlung zu verhindern, hält Mitautor Peter Fonagy vom University College London sogar für die wirksamste Vorbeugung gegen psychische Probleme bei Heranwachsenden. »Alle Kinder brauchen positive, unterstützende Ansprache«, sagt der Psychologe. Nur so könnten sie Vertrauen und emotionale Sicherheit entwickeln und lernen, sich selbst zu respektieren.

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