Kinder im Zweiten Weltkrieg: Interniert, ausgehungert, ermordet
»Mittwoch, 29. April, Łódź. Es ist wirklich schlimm zu Hause. Es gibt kein Heizöl, und wir essen unsere Kartoffelration für Mai im April. Niemand weiß, was im Mai passieren wird. Nichts Gutes, das ist sicher. Ich habe wieder keinen Willen oder eher keine Kraft, um zu lernen. Ich möchte etwas tun, aber alles fällt mir außerordentlich schwer, also lese ich die meiste Zeit. Die Zeit verrinnt, meine Jugend verrinnt, meine Schuljahre, meine Kraft und mein Enthusiasmus, sie alle verrinnen. (…) Langsam verliere ich die Hoffnung, wieder lebendig zu werden oder sogar am Leben zu bleiben.«
Serie: »Kinder im Zweiten Weltkrieg«
77 Jahre liegt das Ende des Zweiten Weltkriegs zurück. Am 7. Mai 1945 unterzeichnete die Wehrmacht die bedingungslose Kapitulation Deutschlands, einen Tag später trat diese in Kraft. Hitler und die Nationalsozialisten hatten die Welt zuvor in einen Krieg gestürzt, in dem Millionen Menschen starben.
Wer damals Kind war, gehört heute zur Generation der Ältesten. Historikerinnen und Historiker haben die Erfahrungen der Kinder aus Tagebüchern rekonstruiert – die Serie auf »Spektrum.de«:
- Kinder im Zweiten Weltkrieg: Interniert, ausgehungert, ermordet
- »Wolfskinder«: Auf der Flucht
- Nationalsozialismus: Hitlers Kindersoldaten
Dawid Sierakowiak war 16 Jahre alt, als er diese Worte in sein Tagebuch schrieb. Es war das Jahr 1941. Dawid war ein jüdischer Junge im Getto von Łódź (zu Deutsch: Lodsch), wo er und seine Familie interniert waren – ebenso wie rund 164 000 Menschen. Mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen zwei Jahre zuvor stürzte das Leben der jüdischen Einwohner ins Chaos. Nur wenige Tage nach der Besetzung der Stadt beobachtete Dawid, wie das Haus seiner Familie geplündert wurde, Synagogen in Brand gesteckt, Juden auf offener Straße gedemütigt und misshandelt wurden. Bald musste auch er den »Judenstern« tragen, das vom NS-Regime aufgezwungene Kennzeichen, um Menschen jüdischen Glaubens zu erkennen und zu deportieren. »Wir kehren ins Mittelalter zurück«, kommentierte der 16-Jährige. Dawids Tagebuch bezeugt nicht nur den nationalsozialistischen Terror und das Leben und Sterben im Getto, sondern gewährt auch einen tiefen Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt eines Jungen im Krieg.
Ein Wandel in der Forschung
Lange hat die Geschichtsforschung die Kriegskinder vernachlässigt. Laut Markus Raasch, Koordinator der Arbeitsgruppe »Eltern und Kinder im Krieg« an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, hat sich die Fachwelt mit vielen anderen Aspekten der Weltkriegszeit beschäftigt. Doch kaum jemand nahm die damals jüngste Generation in den Blick. »Man ging lange davon aus, dass Kinder generell keine große Rolle in der Geschichte spielten«, erklärt der Historiker. »Man glaubte, dass besonders im Zweiten Weltkrieg das Leid der Kinder gegenüber all dem anderen Leid zu vernachlässigen sei.« Ein Bewusstseinswandel habe erst stattgefunden, als die Kriegskinder alt geworden waren und anfingen, von ihren Erlebnissen zu berichten. Heute wissen Historiker, dass auch die Jüngsten versucht haben, sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln an die Extremsituation anzupassen und ihre Erfahrungen zu bewältigen.
Klar ist: Kinder und Jugendliche hungerten, kämpften und starben während des Zweiten Weltkriegs. Sie wurden interniert und indoktriniert, versorgten ihre Familien, suchten in Bunkern Schutz vor den Feuerstürmen bombardierter Städte und flohen über die verschneiten Straßen Ostpreußens und Schlesiens. Sie spielten, lachten und verliebten sich aber auch.
Die Kriegskinder in Europa haben sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Einige blieben vom Gewaltgeschehen weitgehend unberührt, andere waren Zwang und Staatsterror direkt ausgesetzt. So etwa Dawid Sierakowiak und Millionen weitere Kinder, die in Lagern, Gettos und belagerten Städten eingepfercht waren.
Fest im Griff von Hunger, Typhus und Tuberkulose
Die Lebensbedingungen im Getto von Łódź, das die Nazis 1940 in Litzmannstadt umbenannt hatten, waren katastrophal. Es fehlte an allem. Die Menschen froren und hungerten, Krätze, Tuberkulose und Typhus grassierten. Dawids Tagebuchaufzeichnungen werden bis zu seinem Tod 1943 zunehmend düsterer. Schrieb der wissbegierige, politisch sehr reife Junge anfangs noch über Literatur und Schule, tauchten bald Ausbrüche von Ohnmacht und Wut auf: »Laut [dem US-Präsidenten Franklin D.] Roosevelt müssen wir warten, warten und warten. Diesem ekelhaften Geschwätz zuzuhören, macht einen wahnsinnig. Die Statistiken zeigen einen unfassbaren Anstieg der Zahl an Tuberkulose erkrankten Kindern und Jugendlichen hier, und der Leichenwagen ist wie eh und je beschäftigt. Währenddessen warten sie dort drüben. Verdammt seien sie!«
Eine Sache hatte Dawids Leben fest im Griff: der Hunger. Ab 1941 handelte fast jede seiner Niederschriften von Lebensmittellieferungen, von den Möglichkeiten, sich etwas wässrige Suppe zu beschaffen, und von Essensrationen, die nie genug waren. Die Unerträglichkeit der Situation entlud sich auch in der Familie, immer wieder gerieten Vater und Sohn wegen der kläglichen Rationen aneinander. So hatte der Vater einmal Lebensmittel gekauft, aber bevor er sie nach Hause brachte, wohl einen Teil davon selbst verspeist. »Es hat viel gefehlt, als wir es wogen. Ich habe [meinem Vater] gesagt, was ich von ihm halte und warum ich ihn hasse. (…) Die Kartoffeln verschwinden zu Hause mit erschreckender Geschwindigkeit. Aber ich kann nichts dagegen tun und muss die Zähne zusammenbeißen und schweigen.«
Hunger plagte während des Kriegs vor allem die Menschen in den besetzten Gebieten. Und Kinder waren besonders betroffen. Manche von ihnen suchten nach Erklärungen für das unverschuldete Elend. In einem fragmentarisch überlieferten Tagebucheintrag, den der australische Historiker Nicholas Stargardt in seinem Buch »Kinder in Hitlers Krieg« veröffentlicht hat, beschrieb ein Mädchen in der frühen Pubertät folgende Episode: Aus Hunger konnte es sich nicht länger zurückhalten und aß eines von drei Broten auf, von denen ihre ganze Familie leben sollte. Als ihr Vater am selben Tag sah, wie sich die Jugendliche einen Löffel voll Kartoffelklöße nahm, kam es zum Streit. Abends notierte sie: »Der ganze Streit ging von mir aus. Ich muss von einer bösen Macht besessen sein.«
Vermeintlich böse Mächte und Wunschwelten – die Kinder fanden unterschiedliche Strategien, um das Trauma zu überleben. Aus dem »Getto Theresienstadt«, einem Konzentrationslager in der damals besetzten Tschechoslowakei, ist eine Zeichnung von einem Mädchen namens Ilona Wissowa erhalten. Sie malte auf, was wohl ihr sehnlichster Wunsch war. Im Bild hat sie sich zwischen allerlei Lebensmitteln platziert. Gabeln stecken in gebratenem Fisch, in Schwein und Huhn, es gibt Kuchen und Kakao. Hinter der Elfjährigen steht ein Schild mit der Beschriftung: »Märchenland. Eintritt 1 Krone«.
Kinderspiele im Angesicht des Todes
In den Gettos gingen tausende am Hunger zu Grunde. Wenig zu essen und der Tod wurden Teil des Alltags – auch für die Kleinsten. Eine verstörende Episode hat der später im Vernichtungslager Treblinka ermordete Kinderarzt Janusz Korczak (1878–1942) niedergeschrieben. Im Mai 1942 sah er drei Jungen auf der Straße des Warschauer Gettos Pferdchen und Kutscher spielen, bis sich die Spielzeugzügel verhedderten. Die drei tollten neben dem Körper eines sterbenden oder bereits toten Kindes herum. In seinen Notizen hielt Korczak fest: »Sie probieren alles, um die Zügel loszubekommen, werden ungeduldig und stolpern dabei über den am Boden liegenden Jungen. Endlich meint einer: ›Lasst uns hier weggehen, der ist uns im Weg.‹«
Um dem Tod zu entgehen, übernahmen viele Kinder in ihren Familien die Rolle der Versorger. In den Warschauer Straßen saßen zahlreiche bettelnde Kinder. Als auch das nicht mehr genügend Geld einbrachte, schmuggelten sie unter Lebensgefahr Nahrung aus dem als »arisch« erklärten Teil der Stadt in das Getto – wohl wissend, dass sie erschossen würden, ertappte man sie.
Was die Kinder im Warschauer Getto erlebten, ist in den Dokumenten des Ringelblum-Archivs überliefert. Der Historiker Emanuel Ringelblum (1900–1944) sammelte zusammen mit Helfern unterschiedlichste Dokumente, um die Nachwelt über die Vernichtungspolitik der Nazis und die Drangsal im Getto zu unterrichten. Teil des Archivs ist ein Aufsatz des damals 13-jährigen Zanwel Krigman. Zum Thema »Wie es unserer Familie erging« schrieb der Junge 1942 auf: »Einmal wollte mir ein Gendarm den Proviant wegnehmen und fragte mich, was ich vorziehe: 30 Schläge oder das Geschmuggelte hergeben. Ich antwortete, die 30 Schläge – er ließ mich frei.« Zanwel sorgte für seine Mutter, bis sie »im März 1942 vor Hunger« starb. »Und dieser Hunger in Warschau, und der Übergang auf die ›andere Seite‹, immer diese Schüsse, die Junaken, die Deutschen, Angst gab es genug.«
Wie die »Birkenau Boys« Auschwitz überlebten
Ab 1942 begannen die Deutschen, die Menschen aus den Gettos von Warschau, Theresienstadt und Łódź in Vernichtungslager zu deportieren. In einem der überfüllten Waggons steckte auch der damals 14-jährige Jehuda Bacon, der 1943 in das so genannte »Familienlager« von Auschwitz-Birkenau gebracht wurde, ein propagandistisches Vorzeigelager für tschechische Juden aus dem »Getto Theresienstadt«. Dort angekommen, blieben die Familien zunächst zusammen. Doch es war nur ein kurzer Aufschub: Nach sechs Monaten wurden die meisten Insassen in den Gaskammern ermordet.
Bacon, der heute ein bekannter Künstler ist, überlebte Auschwitz und den Todesmarsch nach Westen – durch Zufall und den engen Zusammenhalt in einer Gruppe gleichaltriger Jungen aus Theresienstadt, die später den Namen »Birkenau Boys« erhielten. Bacon erzählt: »Wir waren wie Brüder. Wenn einer schwach war, packten ihn zwei von uns unter seinen Armen, denn wer nicht mehr weiterkonnte und zurückblieb, wurde erschossen.« Was den Jungen den entscheidenden Vorteil einbrachte, so berichtet Bacon, war ihre gegenseitige Unterstützung in einer lebensfeindlichen Umgebung, in der sonst jeder für sich kämpfte.
Wie muss man sich Auschwitz in den Augen eines Kindes vorstellen? Die Quellenlage dazu ist dünn. Für die Kinder in den Konzentrationslagern war es schier unmöglich, Tagebuch zu führen oder Briefe zu schreiben. Die späteren Erzählungen von Insassen wie Bacon liefern jedoch Einblicke. So schilderte er in einem Interview mit der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem Folgendes: »Den Kindern machte es Spaß, sich die Nummern [der Häftlinge] zu merken. Wissen Sie, selbst unter diesen Bedingungen sind Kinder immer noch Kinder, mit Humor und all diesem.«
So wie die Kinder die entsetzliche Realität des Warschauer Gettos in ihre Spiele und Vorstellungen integrierten, übertrugen auch die Jüngsten in Auschwitz ihre Erlebnisse in Fantasiewelten. Laut Berichten spielten die Kleineren beispielsweise »Gaskammer«. Dazu warfen sie Steine in eine Grube, die eine Gaskammer darstellen sollte, und ahmten dann die Schreie der Leute nach. Beim Spiel »Appell« schlüpften die Älteren in die Rollen von SS oder Kapo und schlugen die Jüngeren, weil sie – wie sie vorgaben – zusammengebrochen seien. Sie ahmten Ärzte nach, die Essen stahlen und Häftlingen die Hilfe verweigerten, weil diese die Mediziner nicht bezahlen konnten. Jehuda Bacon und seine Freunde überboten sich gegenseitig beim Anblick der Krematorien mit scheinbar furchtlosen, todesverachtenden Bemerkungen, wenn sie bei weißem Rauch kommentierten: »Diesmal sind es fette Leute.«
Lass uns Bestrafungsaktion spielen!
Wie sind solche paradoxen und verstörenden Berichte zu verstehen? Der Historiker Markus Raasch erklärt: »Kinder sehen etwas und versuchen das, was die Welt um sie herum hergibt, nachzuahmen.« Die Spielinhalte orientierten sich also an dem, was die Kinder in ihrem direkten Umfeld erlebten: Verhörszenen, Bestrafungsaktionen, Kämpfe zwischen Engländern und Deutschen. Es mag erschrecken, aber vermutlich um die Rolle des Stärkeren oder Siegers innezuhaben, wollte »das jüdische Kind beim Spiel am liebsten der NS-Offizier sein«, berichtet Raasch.
1944 wurde das Familienlager in Auschwitz aufgelöst, die Nazis töteten die meisten Gefangenen in den Gaskammern – darunter auch Bacons Vater. Er selbst und die übrigen Jungen wurden zur Arbeit im Rollwagenkommando gezwungen. Ihre Aufgabe war es, Holz und andere Materialien zu transportieren. Im Block der Strafkompanie einquartiert, fanden sie dort überlebenswichtige Beschützer.
Wenn er sich zurückerinnert, dann wird Bacon bewusst, dass er und seine Freunde das Lager als »etwas Selbstverständliches« verstanden haben – die Gewalt war ein Teil ihrer Jugend und ließ sie abstumpfen. »Wir waren neugierig zu erfahren, wie die Menschen verbrannt wurden. Gibt es vielleicht eine elektrische Plattform? Wie funktioniert das? Wie ein neugieriges Kind, das wissen will, was im Inneren eines Spielzeugs steckt.« Wie tief ihn die Erfahrungen des Vernichtungslagers geprägt hatten, offenbarte sich Bacon nach dem Krieg, als er einmal ins Theater ging. Auf seinem Platz sah er sich um; Gedanken rasten durch den Kopf: wie viele Menschen wohl im Theater säßen, wie lange es dauern würde, sie zu vergasen, und wie viel Haare sie hinterlassen würden. »Wir haben Menschen nicht als Menschen gesehen«, sagte der Künstler später.
Schätzungen zufolge wurden etwa 232 000 Kinder und Jugendliche nach Auschwitz-Birkenau deportiert, etwas mehr als 23 500 wurden im Lager registriert. Als sowjetische Soldaten das Lager befreiten, fanden sie noch 700 Kinder- und Jugendhäftlinge vor, 500 davon jünger als 15 Jahre.
Eingeschlossen im belagerten Leningrad
Während des Zweiten Weltkriegs waren Kinder nicht nur in Konzentrationslagern und Gettos gefangen, sondern auch in umkämpften Städten quasi interniert. Vor allem die Blockade von Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, hat sich tief in das Gedächtnis der Überlebenden und deren Nachfahren eingeprägt. Sie zählt zu den furchtbarsten Kriegsverbrechen der Wehrmacht. Von 1941 bis 1944, 872 Tage lang, belagerte das deutsche Heer die Stadt. Dabei kamen mehr als eine Million Menschen ums Leben. Wenige der 400 000 Kinder wurden rechtzeitig aus der Stadt evakuiert, ebenfalls nur wenigen gelang die Flucht aus der Belagerung. Die Notlage war derart immens, dass in den mehr als zwei Jahren eine Lebensmittelration 125 Gramm Brot am Tag pro Person betrug.
Zeugnisse aus dem eingeschlossenen Leningrad belegen, dass die Kinder Hunger litten, aber auch ums Überleben kämpften. Sie beschafften Brot für ihre Familien, arbeiteten in den Verteidigungsanlagen und hielten Ausschau auf Hausdächern. So etwa Tamara Gratschewa, die bei Beginn der Belagerung zwölf Jahre alt war. Sie berichtete später, wie sie half, Brände zu löschen und nach Verschütteten zu suchen.
Zusammenhalt und Zwietracht
Wie die Extremsituation der Leningrader Blockade auf die Familien wirkte und das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern beeinflusste, untersuchte der russische Historiker Vladimir Piankevich von der Universität Sankt Petersburg. Sein Ergebnis zeigt, wie weit die Leitplanken menschlicher Resilienz auseinanderliegen können: »Die Belagerung hat die Leningrader in eine absolut unerträgliche Lage versetzt, welche die Einheit einiger Familien stärkte, während sie die anderer gnadenlos zerstörte.« Ein Teil der Eltern und Kinder bot demnach einander Hilfe, Fürsorge und psychische Stabilität. Wie eine Zeitzeugin berichtet, habe ihr die Einheit ihrer Familie geholfen zu überleben: »Wir unterstützten uns gegenseitig und ließen es nicht zu, dass jemand von uns nachließ.« Doch der Hunger säte auch Missgunst innerhalb der Hausgemeinschaften. So schrieb die 17-jährige E. Mukhina am 28. Dezember 1941 in ihr Tagebuch: »Um ehrlich zu sein, wenn [die 71-jährige Verwandte] Aka stirbt, wäre es besser für sie und besser für Mama und mich. Jetzt müssen wir alles in drei Teile teilen, aber dann teilen Mama und ich alles in zwei Hälften. Aka ist ein zusätzliches Maul, das gefüttert werden muss. Ich weiß selbst nicht, wie ich diese Zeilen schreiben kann. Aber jetzt habe ich ein Herz aus Stein. Ich habe überhaupt keine Angst mehr.«
Es lässt sich offenbar nicht vorhersagen, was ein Krieg mit Familien macht. Zu diesem Fazit kommt die historische Forschung, wie auch Markus Raasch erklärt. »Es gibt einerseits das so genannte Krisennarrativ: Die Familie befindet sich in der Krise, es kommt zu Denunziationen, Misstrauen, hohen Scheidungsquoten und Verwahrlosungserscheinungen.« Ebenso scheint die völlig gegenteilige Entwicklung möglich zu sein. Die Familie stützt sich gegenseitig, sichert ihr Überleben und stärkt ihre Bindungen. »Die Wahrheit liegt aber vermutlich irgendwo in der Mitte«, ist Raasch überzeugt.
Am 27. Januar 1944 endete die Blockade von Leningrad. Die elfjährige Tatjana Sawitschewa überlebte die Befreiung der Stadt nur wenige Monate, bevor sie an den Folgen des Hungers starb. Ihr kurzes Tagebuch gilt heute als Mahnmal für die Belagerung. Und ihre Zeilen bezeugen eindrücklich die Erfahrungen eines Kriegskindes. Der Tagebucheintrag ist im Stadtmuseum von Sankt Petersburg ausgestellt. Darin schrieb das Mädchen: »Schenja starb am 28. Dezember um 12 Uhr vormittags, 1941. Oma starb am 25. Januar, 3 Uhr nachmittags, 1942. Ljoscha starb am 17. März um 5 Uhr morgens, 1942. Onkel Wasja starb am 13. April um 2 Uhr nach Mitternacht, 1942. Onkel Ljoscha am 10. Mai um 4 Uhr nachmittags, 1942. Mutter am 13. Mai um 7.30 Uhr morgens, 1942. Die Sawitschews sind tot. Alle sind tot. Nur Tanja ist übrig geblieben.«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.