Kinderbetreuung: Es braucht ein Dorf
Welche Art der Erziehung gesunde und glückliche Menschen hervorbringt, wird heiß debattiert und seit Jahren wissenschaftlich untersucht. Letzteres allerdings oft nur an Bevölkerungsgruppen, für die Kritiker das Akronym »WEIRD« geprägt haben – white, educated, industrialized, rich, democratic. Erforscht man die Bindung zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen hauptsächlich in modernen westlichen Gesellschaften, ergibt sich womöglich ein verzerrtes Bild, so die Bedenken einiger Fachleute. Das Leben in der Kleinfamilie sei schließlich nicht unbedingt natürlich und Eltern, die auf jede kleinste Befindlichkeit des Nachwuchses eingehen, wohl eher ein neueres Phänomen in umgrenzten, wenn auch viel untersuchten Milieus.
Deshalb besuchten die Anthropologen Nikhil Chaudhary und Gul Deniz Salari vom University College London die Mbendjele, eine Volksgruppe im Norden der Republik Kongo. Die Mbendjele leben dort im Regenwald als Jäger und Sammler – wie bis vor etwa 10 000 Jahren noch alle menschlichen Gesellschaften. Sie erlaubten dem Forschungsteam, ihren Alltag zu beobachten, vor allem die Art, wie sie mit ihrem Nachwuchs umgehen. Das Team erhoffte sich davon Einblicke in eine andere, vielleicht ursprünglichere Art, Kinder großzuziehen. Dafür folgten sie 18 Babys und Kleinkindern im Alter von wenigen Wochen bis vier Jahren für jeweils zwölf Stunden und dokumentierten, wie die Älteren auf deren Verhalten reagierten. Die Ergebnisse der Studie erschienen Mitte November 2023 in der Fachzeitschrift »Developmental Psychology«.
Es zeigte sich, dass die Mbendjele ganz besonders sensibel auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen. Begann eines zu schreien, wurde sofort Trost gespendet – in 90 Prozent der Fälle innerhalb von weniger als 25 Sekunden. Sie beruhigten die Kleinen zum Beispiel mit einem speziellen Jodelgesang, indem sie sie trugen oder ihnen den Rücken streichelten. Geschimpft wurde kein einziges Mal, wenn ein Kind weinte. Außerdem erlebten die Kinder viel körperliche Nähe. Im Schnitt sieben bis neun Stunden am Tag hatten sie Körperkontakt. Die meiste Zeit waren sie auf Hüfthöhe oder auf dem Rücken mit einem Tragetuch befestigt oder wurden vor der Brust im Arm gehalten. Dabei traf oft Haut auf Haut. Zum Vergleich: In Studien in Kanada und den Niederlanden erhielten Babys im Schnitt weniger als eine halbe Stunde am Tag Hautkontakt mit einer Bezugsperson.
Die intensive Betreuung gelingt, weil sich bei den Mbendjele nicht nur die biologischen Eltern um die Kinder kümmern. Stattdessen ist die ganze Gemeinschaft daran beteiligt. »Allomütter«, wie die Forscher die helfenden Hände nennen, leisteten im Zeitraum der Beobachtung 40 bis 50 Prozent der Fürsorge. Nicht nur Frauen, auch Männer und ältere Kinder waren zur Stelle, wenn die Kleinen etwas brauchten, hielten oder fütterten sie. Ein solches Netzwerk umfasste etwa 14 Allomütter pro Kind.
Möglicherweise, meint Nikhil Chaudhary, verteilte sich also lange Zeit die Last der Kinderbetreuung auf viele Schultern: »Mehr als 95 Prozent unserer Evolutionsgeschichte waren wir Jäger und Sammler. Deshalb könnten uns Gesellschaften, die heute noch so leben, Hinweise darauf geben, für welche Betreuungssysteme Kinder und ihre Mütter psychologisch ausgestattet sind.« Allerdings, so der Anthropologe, solle man die Erkenntnisse auch nicht vorschnell verallgemeinern. Immerhin hätten sich viele Aspekte unserer Psyche so entwickelt, dass wir nicht starr auf eine Art zu leben festgelegt seien, sondern uns durchaus flexibel an unterschiedliche Bedingungen anpassen könnten. Inwiefern das auf die Erziehung und frühe Bindungserfahrungen zutrifft, wird aktuell noch erforscht.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.