European XFEL: Kino aus der Quantenwelt
Eine kleine Hütte, Sonnenstrahlen, die durchs Fenster fallen, ein netter Film am Abend – für viele Menschen sieht so der perfekte Urlaub aus. Für Christian Bressler ist es Alltag. Ganz außergewöhnlicher Alltag. Von Gemütlichkeit ist in Bresslers Hütte, wie der Forscher seinen Arbeitsplatz nennt, allerdings wenig zu spüren. Hartes Neonlicht fällt auf kahle Wände – zentimeterdicke Bleiplatten, die mit Stahl verkleidet sind. Auch die Strahlen, die die Hütte durch eine kleine Öffnung in der Wand erreichen, sind nicht unbedingt romantisch. Es ist harte, pulsierende Röntgenstrahlung.
Röntgenlaser der Superlative
Dafür kann Bressler mit einem ganz besonderen Unterhaltungsprogramm auftrumpfen: Molekülkino, direkt aus dem Innersten der Materie. Christian Bressler ist Gruppenleiter am European XFEL – einem Röntgenlaser der Superlative, der in den vergangenen acht Jahren zwischen Hamburg und dem schleswig-holsteinischen Städtchen Schenefeld aufgebaut worden ist. Ab September sollen dort, am Rand eines Gewerbegebiets, neben Maisfeldern und Autolackierereien, Sekunde für Sekunde 27 000 extrem helle Röntgenblitze mit einer Wellenlänge von weniger als einem zehnmillionstel Millimeter ankommen – etwa der Abstand von Atomen in einem Molekül.
Physiker, Biologen und Materialforscher wollen mit Hilfe der Blitze tief ins Innere der Materie blicken und dort zum Beispiel chemische Reaktionen filmen. Oder aber Verhältnisse erzeugen, wie sie auf fernen Planeten oder Sonnen herrschen. Ob all das klappt und wie sich die Anlage im Vergleich zur Konkurrenz schlägt, muss sich in den kommenden Jahren allerdings erst zeigen.
In Bresslers Hütte laufen Anfang August 2017 die letzten Vorbereitungen. Futuristisch anmutende Edelstahlapparaturen reihen sich aneinander, geschützt von transparenten Plastiklamellen. Überall verlaufen Kabel und Schläuche. Im Hintergrund brummt eine Vakuumpumpe. Der immense Aufwand ist nötig, um Molekülen bei der Arbeit zuzuschauen – zum Beispiel während chemischer Reaktionen oder bei der fehlerhaften Faltung von Proteinen, die für Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson verantwortlich gemacht wird.
Die Röntgenblitze des European XFEL, die im Abstand von 220 Milliardstelsekunden aufeinander folgen, fallen dazu auf eine Probe, deren Moleküle zuvor mit Hilfe eines Lasers angeregt wurden. Schnappschüsse aus der Nanowelt entstehen, aufgefangen von einer Röntgenkamera – "vom wahrscheinlich schnellsten Detektor auf diesem Planeten", wie Bressler es nennt. Hunderttausend- oder sogar millionenmal wiederholt sich das. Am Ende werden die Einzelbilder zu einem Film zusammengesetzt.
99,9999999 Prozent der Lichtgeschwindigkeit
Von der Quelle der Röntgenstrahlung bis zu Bresslers Hütte ist es ein weiter Weg: Die Reise beginnt 3,4 Kilometer von Schenefeld entfernt. Ein schnurgerader Betontunnel führt direkt in den Hamburger Stadtteil Bahrenfeld, zum Campus des Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY. Dort, sieben Stockwerke unter der Erde, bestrahlt ein Laser einen Metallblock aus Zäsiumtellurid.
Dabei werden Elektronen herausgeschlagen und abgesaugt. Sie landen in einem so genannten Linearbeschleuniger – 96 dottergelbe Rohre, ein jedes zwölf Meter lang. Die Module sind auf eine Temperatur von minus 271 Grad Celsius heruntergekühlt, nur zwei Grad über dem absoluten Nullpunkt. Das Material Niob, aus dem die innere Hülle des Beschleunigers besteht, verliert bei dieser Temperatur seinen Widerstand, es wird supraleitend. Angelegte Mikrowellen können ihre Energie somit fast verlustfrei auf die Elektronen übertragen. Die Teilchen erreichen 99,9999999 Prozent der Lichtgeschwindigkeit.
Anschließend zwingen mehr als 17 000 Permanentmagnete, deren Nord- und Südpole abwechselnd angeordnet sind, die Elektronen auf einen engen Slalomkurs. Bei jeder Richtungsänderung geben sie unweigerlich Röntgenstrahlung ab. Nach getaner Arbeit werden die Elektronen entsorgt. Die Röntgenblitze hingegen landen – über ein unscheinbares, faustdickes Edelstahlrohr – in Bresslers Hütte, wo sie die Bilder aus der Quantenwelt zum Laufen bringen sollen.
Nebenan, in der Nachbarhütte, gibt sich Adrian Mancuso mit Stillleben zufrieden. Der Australier, leitender Wissenschaftler am XFEL (kurz für X-Ray Free Electron Laser, Freie-Elektronen-Röntgenlaser), will die Struktur einzelner Biomoleküle untersuchen. Theoretisch geht das auch mit konventionellen Röntgenquellen: Deren Licht trifft auf die Moleküle, es wird gestreut und von einem Detektor aufgefangen. Allerdings muss dabei sehr lange belichtet werden – so lange, dass sich das Molekül erhitzt. Es wird zerstört, noch bevor ein brauchbares Bild entsteht.
Die extrem kurzen und extrem hellen XFEL-Blitze, die weniger als 100 Billiardstelsekunden lang sind, haben dieses Problem nicht. Sie grillen zwar ebenfalls die Biomoleküle, zuvor entsteht aber ein ausreichend helles Streubild. "Diffraction before destruction" nennt Mancuso die Methode: Streuung vor Zerstörung. "Auf diese Weise können wir Strahlenschäden überlisten und den attackierten Proben ihre Geheimnisse entlocken", sagt der Physiker. Darauf setzt vor allem die pharmazeutische Forschung. Etwa 70 Prozent der Biomoleküle, die für neue Arzneimittel interessant sein könnten, lassen sich mit der neuen Methode analysieren.
Ein Prestigeprojekt deutscher Forschungspolitik
Die Erwartungen sind groß, der Druck ist es auch. European XFEL ist eines der Prestigeprojekte deutscher Forschungspolitik. Als sich der Wissenschaftsrat 2003 daranmachte, die Großforschung in der Bundesrepublik neu zu ordnen, sprangen vier Vorzeigeideen heraus. Zwei davon, das Forschungsflugzeug HALO und das Hochfeld-Magnetlabor in Dresden, sind längst im Dienst. Der Ionenbeschleuniger FAIR gilt wegen interner Streitereien als Sorgenkind und wird erst mit großer Verzögerung seinen Betrieb aufnehmen. Daher muss nun der XFEL zeigen, was in ihm steckt. 1,22 Milliarden Euro hat das Projekt, zu dem sich neun Länder zusammengeschlossen haben, bislang gekostet, die Inflation nicht berücksichtigt. Deutschland zahlt davon 58 Prozent.
Auch für das DESY steht viel auf dem Spiel: 2007 gab es den Teilchenbeschleuniger HERA auf, das damals größte deutsche Forschungsinstrument. Jahrelang waren in dem 6,3 Kilometer langen Ringbeschleuniger Elektronen und Protonen kollidiert. Doch es galt, Platz und Ressourcen für den XFEL frei zu machen – eine Technologie, die maßgeblich in Hamburg entwickelt wurde. Es war eine Wette auf eine ungewisse Zukunft.
Ob sie aufgeht, wird sich ab September 2017 zeigen. Dann geht es los, mit zunächst zwei Hütten und einem Jahr Verspätung. Vier weitere Experimentieranlagen sind geplant. Am hinteren Ende der großen Versuchshalle von Schenefeld steht eine davon, eine silbrig schimmernde Aluminiumkammer. Ein provisorisches Plastikzelt schützt sie vor dem Staub der Baustelle. Kabel, Kartons, Paletten liegen herum. Irgendwo dröhnt eine Bohrmaschine.
Millionenfacher Druck der Erdatmosphäre
Ende 2018, wenn das Experiment erstmals den Röntgenblitzen ausgesetzt wird, sollen hier Bedingungen herrschen wie auf anderen Planeten oder Sternen: Die Forscher wollen in der Aluminiumkammer, verborgen hinter einer meterdicken Wand aus Strahlenschutzbeton, den millionenfachen Druck der Erdatmosphäre erzeugen. "Bei solchen Verhältnissen reagieren die Dinge nicht mehr so, wie wir es von der Erde kennen", sagt Experimentleiter Ulf Zastrau. "Die Chemie wird sich verändern." Der Röntgenlaser soll die extremen Bedingungen allerdings nicht nur erschaffen, er soll auch helfen, die unbekannten Strukturen zu analysieren. "Das Ganze ist hochgradig komplex", ergänzt Zastrau. "Hoffentlich zahlt es sich aus."
Das hoffen auch die XFEL-Macher. In der weiträumigen Experimentierhalle wäre Platz für weitere Hütten – vorausgesetzt die Nachfrage ist da und das nötige Geld. Mehr als 60 Anträge für wissenschaftliche Experimente, so genannte Strahlzeit, sind für die erste Betriebsphase in Schenefeld eingegangen. Nur etwa zehn bis zwölf konnten berücksichtigt werden. Man hat sie anhand der wissenschaftlichen Qualität ausgewählt, nach "Exzellenz", wie XFEL-Geschäftsführer Robert Feidenhans'l hervorhebt. Eine Länderquote gibt es nicht.
Früher oder später soll auch die Industrie anklopfen
Langfristig könnte das jedoch zum Problem werden. Wenn XFEL-Länder wie Dänemark oder die Slowakei, die sich mit ein bis zwei Prozent an den Kosten der Anlage beteiligen, auf Dauer nicht zum Zug kommen, dürfte die Begeisterung schnell nachlassen, und damit auch die Bereitschaft, weiterhin Geld für den Röntgenlaser auszugeben. "Die Gefahr gibt es", räumt Feidenhans'l ein, "bei der Frage der Exzellenz wollen wir dennoch keinen Kompromiss eingehen und keinesfalls unsere Kriterien einschränken." Stattdessen sei denkbar, den kleineren Ländern gewissermaßen Nachhilfe beim Abfassen von Anträgen zu geben oder sie zu ermuntern, sich in größeren Gruppen mit höheren Chancen zusammenzuschließen.
Ermuntert werden muss auch die Industrie, die künftig in den Hütten gegen Bezahlung ihren privaten Forschungsaktivitäten nachgehen soll. Noch hat niemand angeklopft. "Das wird ein paar Jahre dauern", so Feidenhans'l. "Ich wäre allerdings enttäuscht, wenn die Industrie nicht kommen würde." Vor allem im Bereich der Strukturbiologie und der dort vorhandenen Möglichkeiten, neue Medikamente zu entwickeln, sieht der Däne großes Potenzial.
Konkurrenz aus den USA
Die Konkurrenz allerdings auch. In den USA und in Japan werden Röntgenlaser seit Langem betrieben; in der Schweiz und in Korea sind in den vergangenen Jahren neue Anlagen entstanden. Doch weder bei der Energie noch bei der Zahl der Röntgenblitze reichen sie an den European XFEL heran. "Dank unseres supraleitenden Beschleunigers haben wir den kräftigsten Röntgenstrahl und somit mehr Intensität als alle anderen Quellen zusammen", bemerkt Feidenhans'l.
In den USA entsteht derzeit allerdings ein neuer Röntgenlaser, der mit einer Million Blitze pro Sekunde selbst den European XFEL in den Schatten stellen soll – zunächst noch bei geringerer Energie. Pläne für einen Ausbau liegen aber in der Schublade, es fehlt nur das Geld. Im Jahr 2020 soll die US-Anlage, LCLS-II genannt, ihre ersten Röntgenblitze abfeuern. "Bis dahin", betont Feidenhans'l selbstbewusst, "haben wir die Welt für uns."
Offenlegung: Die Recherche am European XFEL wurde durch eine Einladung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft ermöglicht, welche die Reisekosten des Autors übernommen hat.
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