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Kita-Krise: »Für die Jüngsten ist die Situation besonders prekär«

Personalmangel, Stress, psychische Auffälligkeiten: In einem Brandbrief warnen 300 Experten vor dem Kita-Kollaps. Im Interview erklärt Mitautorin Rahel Dreyer, wie der Notstand das seelische Wohl von Personal, Kindern und Familien gefährdet.
Ein einzelner dunkler Krabbelschuh mit einem Froschkönig-Motiv liegt auf einem grünen Fußboden.
Kita-Notstand: Wer kann sich noch kümmern? Um die Kleinsten ist die Sorge am größten.

Frau Dreyer, in Ihrem Brandbrief vom Anfang des Monats warnen Sie die Politik vor einem kurz bevorstehenden Kita-Kollaps. Warum gerade jetzt?

Wir wollen mit unserem Brief auf das Kita-Qualitätsentwicklungsgesetz Einfluss nehmen, das aktuell in den Ausschüssen des Deutschen Bundestags final beraten wird. Das drängendste und auch gleichzeitig langfristig größte Problem ist der Fachkräftemangel mit all seinen negativen Folgen für Kinder, Erzieher und Familien.

Rahel Dreyer | Die Erziehungswissenschaftlerin ist Professorin für Pädagogik und Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre an der Alice Salomon Hochschule Berlin.

Beschreiben Sie bitte kurz die Situation!

Der Personalmangel verschärft sich immer weiter, die Arbeits- und Betreuungsbedingungen werden immer ungünstiger. Das alles war seit Jahren absehbar. Und nun gehen in den nächsten 15 Jahren mit den Babyboomern noch bis zu 40 Prozent der Beschäftigten in den Kitas in den Ruhestand. Parallel machen immer weniger Menschen eine Ausbildung zum Erzieher oder zur Erzieherin, auch an den Universitäten und Hochschulen gehen die Zahlen der Studierenden zurück. Das Personal steht jetzt schon unter Druck.

Die Folge davon?

Das alles wirkt sich negativ auf die Gesundheit aus. Aktuelle Studien belegen, dass pädagogische Fachkräfte in den Kitas zu den Berufsgruppen gehören, die am häufigsten krank sind. Dies geht vor allem auf Erkrankungen der Psyche zurück.

Wie wirkt sich das auf die Kinder aus?

Wir wissen durch verschiedene Studien, dass die psychische Gesundheit der Fachkräfte eine Auswirkung auf die psychische Gesundheit der Kinder hat und auch die Qualität der Interaktionen in den Gruppen beeinflusst – das heißt, wie die Fachkräfte in der Lage sind, überhaupt Beziehungen zu den Kindern zu gestalten. Wenn zudem Personalmangel herrscht und Gruppen überfüllt sind, trägt das dazu bei, dass auch Kinder gestresst sind. Hier kann man auch Formen von Erschöpfung und Unwohlsein bei den Kindern feststellen.

»Wenn Personalmangel herrscht und Gruppen überfüllt sind, trägt das dazu bei, dass auch Kinder gestresst sind«

Gibt es Unterschiede zwischen Krippen- und Kita-Kindern, und wie zeigen sie sich?

Ja, auf jeden Fall. Stressbelastung wirkt sich vor allem in den ersten drei Lebensjahren negativ aus. In diesem Alter sind Kinder besonders empfindsam, weil sie Stress noch nicht gut verarbeiten können. Sie lernen erst noch, sich selbst zu regulieren. Deswegen ist die Situation gerade für die Allerjüngsten besonders prekär.

Welche Folgen hat das für die langfristige psychische Entwicklung der Kinder?

Wir sehen jetzt schon eine Zunahme an psychischen Auffälligkeiten bei den Kindern. Hier gibt es verschiedene Studien, die im Kontext der Corona-Pandemie durchgeführt worden sind. Und wir wissen, dass sich dauerhafter Stress, gerade bei Kindern in diesem Alter, in dem sich das ganze Stressverarbeitungssystem noch entwickelt, negativ auf die kindliche Entwicklung auswirkt.

Sie schreiben in Ihrem offenen Brief an die Regierung auch, dass es durch die Kita-Krise zu Spannungen bis in den Familien kommt.

Viele Familien sind am Limit. Während der Corona-Pandemie gab es bereits erhebliche Einschränkungen durch die Kitaschließungen. Nun sind häufig die Öffnungszeiten reduziert oder gar Gruppen oder ganze Einrichtungen geschlossen. Verschiedene Studien belegen, dass es zu erhöhten Spannungen und auch einem Anstieg an Gewalt in den Familien gekommen ist.

Es werden auch wieder Rufe laut, dass Eltern, meist die Mütter, ihre Kleinkinder ohnehin besser zu Hause betreuen sollen, damit diese eine gute Bindung bekommen: Was sagt die Bindungsforschung zur Betreuung unter Dreijähriger?

Es gibt internationale Längsschnittstudien, aus denen deutlich wird, dass sich Kinder, die schon früh institutionell betreut werden, im Allgemeinen nicht anders entwickeln als Kinder, die bis zum dritten Lebensjahr ausschließlich zu Hause aufwachsen. Gerade Kinder aus sozialen Problemlagen profitieren aber von qualitativ hochwertigen Bildungsangeboten einer Kita. Am Ende hängt es immer von mehreren Faktoren ab, wie sich die Kindertagesbetreuung auf das Kind auswirkt.

Nämlich?

Zum Beispiel: Wie alt ist das Kind, wenn es in die Betreuung kommt? Wie viele Stunden am Tag bleibt es dort? Wie viele Kinder sind noch in der Gruppe? Es zeigt sich aber auch, dass die Qualität der Kita einen Einfluss hat. Die Gruppengröße spielt dabei ebenso mit hinein wie die Häufigkeit, mit der Betreuungspersonen wechseln. All das wirkt sich auf das kindliche Wohlbefinden und damit auch auf die Bildungsprozesse der Kinder aus.

»Dauerhafter Stress, gerade bei Kindern in diesem Alter, in dem sich das ganze Stressverarbeitungssystem noch entwickelt, wirkt sich negativ auf die kindliche Entwicklung aus«

Und wie steht es mit der Mutter-Kind-Bindung?

Studien zeigen, dass die Bindungsqualität zur Mutter durch eine Kita oder ähnliche Formen der familienergänzenden Betreuung in der Regel nicht beeinflusst wird. Allerdings hat man auch festgestellt: Wenn die Mutter beispielsweise eine geringe Feinfühligkeit aufweist und ihr Kind dann zusätzlich noch auf eine qualitativ schlechte Kita schickt, mit großen Gruppen und ständigem Wechsel der Bezugspersonen, dann steigt auch das Risiko einer unsicheren Bindung zur Mutter. Genau deshalb ist es besonders wichtig, dass man qualitativ hochwertige Angebote vorhält.

Was weiß die Forschung zu den längerfristigen Auswirkungen?

Tatsächlich gibt es Studien, die nahelegen, dass Kinder, die früh in Betreuung kamen und einen Großteil des Tages dort verbracht haben, später Probleme mit der sozialen und emotionalen Anpassung haben. Das wird nur leider häufig fehlinterpretiert. Es bedeutet nämlich nicht, dass die nichtelterliche Betreuung in der Kita oder Tagespflege automatisch zu Verhaltensschwierigkeiten führt. Denn zu allen Zeitpunkten im Leben eines Kindes haben die familiären Bedingungen einen ungefähr vierfach höheren Einfluss auf die Entwicklung des jungen Menschen als die Institution. Das ist ein zentrales Ergebnis dieser Forschung.

Mit anderen Worten: Der entscheidendere Faktor sind die Eltern?

Der Umgangsstil der Eltern – und vor allen Dingen die psychische Verfassung der Mutter und auch ihre Feinfühligkeit gegenüber dem Kind – hat einen wesentlich größeren Effekt auf das Verhalten des Kindes als die Tatsache, dass das Kind in einem hohen Zeitumfang von anderen betreut wird. Und für Kleinkinder, die eine unsichere Bindungsqualität zu einem oder auch zu beiden Elternteilen aufweisen, scheint eine sichere Bindung mit einer stabilen, professionellen Betreuungsperson in der Kita oder Tagespflege sogar hilfreich zu sein. Es gibt auch Nachfolgeuntersuchungen bis in die frühen Schuljahre, die nachgewiesen haben, dass diese Kinder ein höheres Selbstwertgefühl und ein besseres Sozialverhalten aufweisen als unsicher gebundene Kinder ihres Alters, die ausschließlich durch ihre Eltern betreut wurden.

»Viele Familien sind am Limit«

Wir sprachen schon über den Fachkräftemangel. Bezogen auf die Kitas fehlen laut Familienministerin Lisa Paus bundesweit bis zu 90 000 Erzieherinnen und Erzieher.

Und dabei wissen wir seit 20 Jahren, dass wir in Richtung eines Personalmangels steuern. Damals wurde das immer noch ein bisschen dementiert und gemeint, das kriegen wir alles hin. Doch es war klar, dass die Bedarfe wesentlich höher sein könnten als kalkuliert, wenn wir den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz einführen. Das hat die Politik unterschätzt. Man ist von etwa 35 Prozent Betreuung bei den unter Dreijährigen ausgegangen. Wir sehen jedoch, dass die Inanspruchnahme deutlich höher ist.

Wie ließe sich die Situation zum Wohle aller verbessern?

Ganz wichtig ist, dass man das Finanzvolumen für die Kindertagesbetreuung auf keinen Fall reduziert, sondern dass vielmehr zusätzliche Mittel für Qualitätssteigerungen fließen. Vor allem sollte nun das im Ampel-Koalitionsvertrag vereinbarte Kita-Qualitätsentwicklungsgesetz mit bundesweiten Qualitätsstandards und einer kontinuierlichen Finanzierung des Bundes verabschiedet werden.

Was können Kitas selbst tun, um ein gesundes Arbeitsklima zu schaffen? Wo sind die Eltern gefordert? Wo der Gesetzgeber?

Es gibt natürlich neben Belastungen auch immer moderierende Faktoren. Der Arbeitgeber kann hier etwa Unterstützung durch betriebliches Gesundheitsmanagement bieten. Vom Gesetzgeber könnte man verlangen, dass die Rahmenbedingungen verbessert werden, was die Gruppengröße oder den Personalschlüssel anbelangt. Zudem ist es wichtig, dass Eltern mit den Fachkräften zusammenarbeiten.

Immer wieder wird gefordert, auch fachfremde Personen in Kitas einzusetzen. Der Städtetag Baden-Württemberg etwa hat vorgeschlagen, Großeltern in Kitagruppen einzusetzen. Was halten Sie von derartigen Ideen?

Wir werden nun eine mehrjährige Übergangsphase der Mangelverwaltung haben. Gefragt sind kurzfristige, aber auch mittel- und langfristige Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen. Denn wir können nicht schnell genug neues Personal bekommen. Ich finde es nicht dramatisch, wenn Großeltern unterstützen, sofern das auch im Kontext einer Zusammenarbeit mit Familien erfolgt. Aber wenn man jetzt ausschließlich auf solche Maßnahmen setzt, werden wir dem Personalmangel natürlich nicht beikommen. Wichtig ist auch, dass man für fachfremde oder geringer qualifizierte Personen keine neuen Sackgassenberufe schafft, sondern dass man dafür sorgt, dass Quereinsteigende die Möglichkeit haben, sich zur pädagogischen Fachkraft weiterzuqualifizieren. Außerdem ist es wichtig, dass man zusätzliche Kapazitäten zur Einarbeitung und auch Anleitung neuer Fachkräfte bereitstellt.

Wie kann es gelingen, Personallücken zu schließen, ohne Abstriche bei der Ausbildungsqualität der Neueingestellten zu machen?

Eine Maßnahme wäre, dass man pädagogische Fachkräfte entlastet, indem man die Verwaltungs- und hauswirtschaftlichen Aufgaben von Assistenz- oder Verwaltungskräften erledigen lässt. Dadurch könnten sie sich wirklich auf ihre pädagogische Kernarbeit am Kind konzentrieren. Zudem müsste eine schnellere Entbürokratisierung von Genehmigungs-, Abrechnungs- und Antragsverfahren erfolgen, die vor allen Dingen die Kita-Leitungen übermäßig belasten und sie von ihren Kernaufgaben abhalten. Mittel- und langfristig würde ich dafür plädieren, dass man die Ausbildungskapazitäten erhöht. Dabei sind die Studiengänge der Kindheitspädagogik deutlich auszubauen. Das ist eine bislang viel zu wenig genutzte Ressource. Und langfristig muss man zudem an das Thema Positions- und Entlohnungsgefüge in den Kitas rangehen, damit man das Berufsfeld attraktiver macht.

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