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Botanik: Klare Grenzen

Ein Esel ist ein Esel, und ein Pferd ein Pferd. Wenn die beiden gemeinsam Nachwuchs zeugen, hat der Mensch nachgeholfen. Denn in der Tierwelt, so die weit verbreitete Meinung, sind natürliche Bastarde eher selten. Pflanzen hingegen zeigen weitaus mehr Lust auf Seitensprünge mit Verwandten, so ein ebenfalls häufiger Eindruck. Beides ist falsch.
Pflanzenwelt
Viertes Semester, Montagnachmittag, Übung "Pflanzensoziologie". Wir stehen in einem netten Auwäldchen, unter dem Arm diverse Bestimmungsbücher, mit denen wir den Weiden-Arten auf die Schliche zu kommen versuchen. Einige Wochen später dasselbe Spiel, nur haben wir diesmal auf einer Waldlichtung Brombeeren vor der Nase. Nach anderthalb Stunden Frust trotz ausdrücklicher Spezialliteratur und Hilfe ist für viele von uns zumindest eines klar: Weiden und Brombeeren auf Artniveau zu bestimmen, überlassen wir lieber den Experten und denen in der Gruppe, die es werden wollen.

Neben der Debatte um Blattform und -farbe entbrannte dabei auch häufig die alte Diskussion, wie berechtigt denn überhaupt der Artstatus für so manche Weide und Brombeere ist, wenn sie mit anderen Arten gemeinsame, womöglich selbst fruchtbare Nachkommen zeugt – und damit diese Grenzen der biologischen Artdefinition eindeutig überschreitet. Darf sie dann noch als eigene Spezies betrachtet werden?

Manche Forscher gehen sogar noch weiter: In ihren Augen funktioniert das biologische Artenkonzept im Reich der Botaniker überhaupt nicht. So scheint nicht nur Hybridisierung in der Pflanzenwelt weitaus verbreiteter zu sein als bei Tieren. Auch sich asexuell vermehrende Exemplare oder äußerlich kaum, aber genetisch durch Vervielfältigung des Erbguts deutlich zu unterscheidende Vertreter gehorchen ebenfalls nicht den Regeln der gegenüber anderen abgeschotteten Fortpflanzungsgemeinschaft mit Mehrfach-Generationsgarantie.

Doch der Schein trügt, sagen nun Loren Rieseberg, Troy Wood und Eric Baack von der Universität von Indiana in Bloomington. Die Wissenschaftler hatten sich dem Problem von der statistischen Seite genähert und zuerst einmal die Literatur zur Bastardisierung bei Pflanzen gewälzt. Sie wählten dabei nur Arbeiten von numerischen Taxonomen, die anhand des Vergleichs möglichst vieler, vor allem äußerer Merkmale Arten zu bestimmen suchen: Was übereinstimmt, gehört in einen Topf, was abweicht, in einen anderen.

Aus den 218 aufgepürten Studien extrahierten die Wissenschaftler alle möglichen Angaben zu Lebensweise und Fortpflanzungsformen sowie der systematischen Einordnung. Sie ermittelten, inwieweit sich innerhalb verschiedener Pflanzengattungen – die aus mehreren Arten bestehen – Gruppen finden, die sich äußerlich nicht unterscheiden. Denn solche Cluster wären laut numerischer Taxonomie dann als eigenständige Spezies aufzufassen.

Tatsächlich konnten sie bei über achtzig Prozent der beschriebenen Pflanzengattungen solche Cluster feststellen – doch nur etwa die Hälfte dieser Gruppen hatte den Rang einer Spezies. Bei den Tieren lagen die Zahlen ähnlich: Für knapp neunzig Prozent der Gattungen fanden die Forscher entsprechende Cluster, doch ebenfalls nur die Hälfte der Cluster fand sich als Art wieder.

Verantwortlich für die meisten Fehleinschätzungen war dabei offenbar der Drang übereifriger Taxonomen, bei geringen Unterschieden lieber einen Artstatus zu vergeben, statt eine gewisse Variation innerhalb einer Spezies zuzulassen, schließen Rieseberg, Wood und Baack aus ihrer Datenanalyse. Dazu spielten Asexualität und Polyploidie eine entscheidende Rolle für die mangelnde Übereinstimmung von äußerlicher Ähnlichkeit oder Differenz und Artstatus. Merkwürdigerweise aber hatte die Neigung zu hybridisieren keinen Einfluss auf taxonomische Probleme.

Um den Vorwurf einer zu kleinen Datenmenge zu entgehen, wiederholten die Wissenschaftler ihre Analyse mit fast 900 Tier- und Pflanzenarten, für die ihnen sowohl Angaben zur äußerlichen Erscheinung als auch zur Bastardisierung vorlagen. Und stellten fest: Wer sich nicht miteinander fortpflanzt, unterscheidet sich in drei Viertel der Fälle auch im Aussehen deutlich – bei Pflanzen. Die rein auf Äußerlichkeiten beruhende Arteinschätzung stehe damit auf recht sicheren Füßen, befinden die Autoren.

"Botaniker sind von einigen 'botanischen Horrorgeschichten' wie Löwenzahn, Brombeeren oder Eichen übermäßig beeinflusst"
(Rieseberg et al.)
Bestehende Pflanzenarten erwiesen sich damit meist deutlicher als eigenständig, reproduktiv isolierte Einheiten denn Tiere – hier nämlich schotteten sich nicht einmal vierzig Prozent der untersuchten Gruppen gegen verwandte Arten ab. So wiesen Farne die geringste Hybridisierungsneigung auf, während Vögel sich am meisten noch untereinander mischten und wiederum fruchtbaren Nachwuchs hervorbrachten. Hybridisierung wäre damit entgegen bisheriger Ansichten eher ein zoologisches denn ein botanisches Problem. "Botaniker sind von einigen 'botanischen Horrorgeschichten' wie Löwenzahn, Brombeeren oder Eichen übermäßig beeinflusst", schließen die Wissenschaftler. Dabei machten diese noch nicht einmal ein Prozent des Ganzen aus.

Ob allerdings diese Ergebnisse so manch kritischer Überprüfung standhalten werden, bleibt abzuwarten. So geben die Wissenschaftler selbst schon zu bedenken, dass die numerische Taxonomie zwar vor einigen Jahren sehr beliebt war, inzwischen jedoch längst von moderneren Methoden abgelöst wurde. Auch nicht zu vergessen ist, dass der Untersuchungsansatz, reproduktive Eigenständigkeit durch mangelnde Hybriden nachzuweisen, die Frage vorab wirkender Isolationsmechanismen nicht berücksichtigt. Zudem besteht das Problem, ob überhaupt ausreichend Genaustausch zwischen entfernt wachsenden potenziellen pflanzlichen Paarungspartnern stattfindet, konnten die Forscher mit dieser Methode nicht analysieren. Und natürlich bleibt noch immer die Frage ungelöst, wieso einer Spezies dieser Rang zustehen soll, wenn sie fruchtbare Nachkommen mit anderen Arten zeugen kann – wer hier das biologische Artkonzept konsequent anwendet, müsste ihr diese Eigenständigkeit eigentlich absprechen.

Zumindest der Eindruck aber, in der Pflanzenwelt produziere bereitwillig jeder mit jedem jederzeit wieder fruchtbaren Nachwuchs, ist wohl doch durch Einzelbeispiele zu stark verzerrt und damit falsch: Brombeeren, Weiden und Co sind nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Doch damit tröstete uns auch schon vor Jahren die Dozentin.

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