Jahresrückblick: Klein aber fein
Die Nano- und Quantenphysik waren die Topthemen des zu Ende gehenden Jahres. Doch auch bei der Erforschung des Fließverhaltens von Honig gab es große Fortschritte.
Worüber haben sich Physiker und Techniker in den vergangenen Wochen und Monaten die Köpfe zerbrochen? Erwartungsgemäß lagen die Themen rund um die Nanotechnologie ganz vorn, dicht gefolgt von allen Formen der Quantenphysik, sei es die Verschränkung von allem mit allem, die "Teleportation" von Teilchen oder deren Zuständen oder das abhörsichere Übertragen von Nachrichten durch Kanalisationen oder über Berggipfel hinweg. Nicht ganz erwartet kam ebenso die Teilchenphysik auf das Siegertreppchen und erlangte die Bronzemedaille. Die diesjährige Verleihung des Physik-Nobelpreises für die "Asymptotische Freiheit der Quarks" trug ebenso zu diesem Erfolg bei wie die Entscheidung, den zukünftigen Linearbeschleuniger in supraleitender Technik zu bauen oder die nochmals genauere Bestimmung des Oszillationsverhaltens der Neutrinos und deren Masse.
Nano ist in
Doch die Goldmedaille im Ranking der Meldungen und Beiträge zu physikalisch-technischen Themen gebührt unangefochten der Nanotechnologie. Dort treffen sich derzeit offenbar alle Bedürfnisse der Forscher. Noch ist die Nanotechnologie zwar sehr grundlagenorientiert, doch haben die Wissenschaftler bereits sehr konkrete Anwendungen fest im Blick. Ein Ziel ist beispielsweise die Entwicklung von Garnen aus Nanofasern: Stoffe aus diesem Material wären deutlich strapazierfähiger als beispielsweise Kevlar oder Zylon, das heute in vielen stark beanspruchten Textilien enthalten ist. Mit Nanofasern will man künftig sogar kugelsichere Westen nähen.
Zusätzlich besitzen viele Nanogarne eine hervorragende elektrische Leitfähigkeit. Das gestattet das Herstellen so genannter funktionaler Kleidung, in die Batterien, Sensoren oder aktive elektrische Bauteile eingewoben werden können. Von solchen Jacken und Hosen träumt die Textilindustrie schon seit langem: Sie enthalten Unterhaltungsgeräte wie MP3-Player genau so wie Mobiltelefone oder Sensoren, die den Gesundheitszustand kranker Menschen überwachen und in Notsituationen umgehend selbsttätig Hilfe rufen.
Weitere Vorstöße in die Quantenwelt
Dass die Quantenphysik den zweiten Platz in der Beachtung erlangt hat, ist ebenfalls nicht verwunderlich. Auch dieses Forschungsgebiet traut sich allmählich in die Anwendung, nachdem alles, was mit Quanten zu tun hatte, viele Jahrzehnte als reine Grundlagenforschung sein Dasein fristete. Jetzt stehen Quantencomputer auf der Agenda der Wissenschaftler und Tüftler sowie die abhörsichere Übertragung von sensiblen Daten. Die Forscher haben im Jahr 2004 große Schritte auf diesem Weg zurückgelegt. So meldeten sie vor wenigen Wochen, dass es ihnen sogar gelungen sei, Zwischenergebnisse von quantenphysikalischen Berechnung zu prüfen, ohne die Kalkulation zu zerstören. Das war bislang einer der bedeutendsten Stolpersteine. Denn was nützt es, wenn eine Maschine ein Ergebnis ausspuckt, ohne zu wissen, ob das Resultat einwandfrei ermittelt wurde, weil Quantenfluktuationen das Ergebnis vielleicht verfälschten.
Noch purzeln für diese Forschungen kaum Nobelpreise, was aber eigentlich nur eine Frage der Zeit sein kann. Derzeit räumen dagegen die Teilchenphysiker regelmäßig die Stockholmer Medaillen ab. So auch in diesem Jahr, als die drei US-Amerikaner David Gross, David Politzer und Frank Wilczek den Physik-Nobelpreis für ihre Beiträge zum Standardmodell der Teilchenphysik erhielten. Sie entwickelten für die starke Kernkraft das Modell der asymptotischen Freiheit, ein Effekt, der allen bisherigen Anschauungen über die Kraftwirkung zuwiderlief.
Ehrwürdige Teilchen
Dazu postulierten sie, dass die Quarks – das sind die Urbausteine der Materie, aus denen beispielsweise die Protonen und Neutronen bestehen – sich um so stärker aneinander binden, je weiter sie sich voneinander entfernen. Physiker veranschaulichen diesen Sachverhalt gern mit einem Gummiband, bei dem man sich mehr und mehr anstrengen muss, je weiter man es auseinanderzieht – bis es schließlich reißt. Ähnlich stellen sich Physiker die Kraft zwischen Quarks vor. Die Teilchen sträuben sich so lange gegen die Trennung, bis die Energie, die man benötigt, um die Quarks auf Distanz zu bringen, ausreicht, um nach der berühmten Einstein´schen Formel E=mc2 neue Quarks und Antiquarks entstehen zu lassen. Diese verbinden sich flugs mit den bisherigen zu neuen Zweier- oder Dreierverbänden.
Es ist daher unmöglich, einzelne Quarks zu erzeugen. Verwunderlich ist gleichzeitig deren Eigenschaft, sich in einem bestehenden Teilchen – sagen wir in einem Proton – nahezu frei zu bewegen, als wirke gar keine Kraft auf sie ein. Das heißt: Je weniger man an den Quarks zerrt, desto freier verhalten sie sich. Aber wehe, wenn man versucht, sie zu separieren.
Derartige Erkenntnisse gewinnen Experimentatoren mit Hilfe gewaltiger Maschinen, Beschleuniger genannt. Dass im Jahr 2004 viel von Teilchenphysik die Rede war, liegt unter anderem daran, dass eines der weltweit bedeutendsten Forschungszentren dieser Art einen runden Geburtstag feierte. Trotz seiner mittlerweile 50 Jahre fühlt sich das CERN in Genf aber nicht dem alten Eisen zugehörig. Ganz im Gegenteil: Derzeit entsteht dort mit dem Large Hadronen Collider LHC die mit einem Umfang von 27 Kilometern modernste und größte Teilchenschleuder der Welt. Hadronen sind übrigens Gebilde, die aus Quarks bestehen, die sich ja so sehr dagegen sträuben, dass man sie trennt. Vielleicht kann der LHC ja mehr Licht in dieses Dunkel bringen, wenn er ab 2007 seinen Betrieb aufnimmt.
Viele werden jetzt wahrscheinlich sagen: "Na, ein Forschungsgerät mit einem Umfang von 27 Kilometer – das ist aber gewaltig. Und lässt sich wohl kaum überbieten!" Denkste! Die Gemeinde der Teilchenforscher hat in diesem Jahr bereits die Weichen gestellt für die nächste Generation an Beschleuniger. Die geplante Maschine soll zwar schnurstracks gerade verlaufen, aber mindestens 30 Kilometer lang sein. Wo dieses Monstrum gebaut werden soll, ist noch unklar. Sicher ist nur: Es soll mit supraleitender Technik arbeiten – ein Vorschlag, der vom Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY favorisiert wurde.
Mensch und Maschine
Den undankbaren vierten Platz – von Sportlern gern als Holz- oder Eisenmedaille bezeichnet – belegten Berichte über neue mikroskopische Verfahren sowie über die Kerntechnik. Letzteres verwundert ein wenig. Offenbar scheint das Interesse an der Kernenergie wieder anzuziehen – oder angezogen zu werden. Dabei wies die Berichterstattung wieder alle Schattierungen auf: Von der Inbetriebnahme des Neutronenflussreaktors in Garching bei München für die Grundlagenforschung bis zur Meldung, dass der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sogar im hohen Norden von Schweden mittlerweile gut 800 Menschen zu Opfer fielen.
Ebenfalls nachdenklich stimmten viele die Schlagzeilen über einen Mann – und zwar nicht, weil er etwas Bahnbrechendes herausgefunden hatte, sondern auf Grund seines Verhaltens: Dem Physiker Jan Hendrik Schön wurde vorgeworfen, er habe Forschungsergebnisse gefälscht. Als nach und nach immer mehr seiner Verfehlungen ans Licht kamen, hat ihm mittlerweile die Universität Konstanz sogar seinen Doktortitel wieder entzogen.
Einer deutschen Schülergruppe raubte das schlechte Vorbild offenbar nicht die Motivation: Beim Physik-Weltcup im australischen Brisbane belegten sie Platz zwei hinter einem Team aus Polen. Einziger Wermutstropfen: Das Jahr davor stand das deutsche Team noch ganz oben auf dem Siegertreppchen. Und obwohl die elf Freunde unserer Fußball-Nationalmannschaft sich bei der diesjährigen Europameisterschaft bereits früh von den Bolzplätzen in Portugal verabschieden mussten, konnten wir im Jahr 2004 einen deutschen Fußballweltmeister feiern. Die FU-Fighters der Freien Universität Berlin standen in der Liga der kleinen Roboter im Endspiel des RoboCups und gewannen gegen das Team der Universität Queensland, Australien. Welch ein Erfolg! Allerdings – sind die Maschinen wirklich schon besser als Ballack und Co?
Und noch eine Meldung über menschenähnliche Maschinen konnte einen beunruhigen. So berichteten britische Forscher, sie hätten einen Roboter entwickelt, der seine eigene Energie produziert, indem er Fliegen verspeist. Zwar muss er bislang noch von Hand gefüttert werden. Aber wo soll das hinführen? Und wann beginnt er, sich nach Liebe zu sehnen, Sex zu haben und sich zu vermehren?
Manchmal nimmt die Forschung eben abstruse Formen an. Den Vogel aber hat ein französischer Physiker mit englisch klingendem Namen abgeschossen – im übertragenen Sinne versteht sich, schließlich berichten wir hier von Physik und nicht von Biologie. Neil Ribe vom Institut de Physique du Globe in Paris ersann eine allgemeingültige Formel zur Berechnung des Fließverhaltens von Honig. Fast 50 Jahre brauchte er, um die zähe Masse mit Hilfe eines theoretischen Modells bestehend aus 17 eindimensionalen Differenzialgleichungen und 19 Randbedingungen in den Griff zu bekommen. Glück dem, der sich morgens mit einem Müsli und Milch begnügt.
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