Analytik: Medizinische Diagnose aus der Hosentasche
Sie fühlen sich krank und schlapp. Für einen schnellen Abgleich geben Sie einen Tropfen Blut auf eine Blu-ray-Disk, schieben diese ins Laufwerk – und an Stelle eines Videos sehen Sie Ihre wichtigsten Blutwerte. Sie können natürlich auch das kreditkartengroße Stück Papier nehmen, das Ihnen Ihr Hausarzt ausgedruckt hat, den Tropfen Blut darauf geben und dort ablesen, ob Ihre Werte im grünen Bereich sind. Oder wenn Sie einen entsprechenden Adapter besitzen, lassen Sie doch Ihr Smartphone im Urlaub Ihre Infektion bestimmen und das Resultat direkt an Ihren Arzt daheim übermitteln. Was utopisch klingt, sind drei Ansätze für kostengünstige Biosensoren, die mittlerweile das Prototypenstadium abgeschlossen haben. Sie einen zwei Ziele: Patienten die Hoheit über ihre eigenen Gesundheitswerte zu verschaffen und die Kosten für das Gesundheitssystem zu senken.
Noch in den 1980er Jahren kostete ein Gerät zur Blutzuckerüberwachung bei Diabetikern 10 000 Euro. Heute sind tragbare Lösungen Standard, die zwischen fünf und zehn Euro kosten. Dadurch wurden Diabetiker zu Managern ihrer Krankheit, die jederzeit in wenigen Minuten ihren Blutzuckerwert bestimmen können. "Die Werte gehören nicht dem Krankenhaus oder dem Arzt – es sind unsere!", betonte unlängst Anthony Turner, Direktor des Zentrums für Biosensoren und Bioelektronik an der schwedischen Universität Linköping, in einer Fachdiskussion beim European Open Science Forum in Kopenhagen. Turner war es, der 1987 das amperometrische, tragbare Blutzuckermessgerät entwickelte, dessen Kern heute der erfolgreichste Biosensor der Welt ist. Er wolle, sagte Turner in Kopenhagen, dass Menschen bequem zu Hause exakt wissen können, wie es um ihre Werte steht – und nicht lange auf die Rückmeldung eines Arztes warten müssen, der dann oft die Werte nur ungenau als "gut" oder "schlecht" beschreibe.
Komplettes Labor in der Hosentasche
Auf dem Weltkongress für Biosensoren Ende Mai in Melbourne hat der britische Biosensorpionier Turner demonstriert, dass seine Forderungen nicht länger Zukunftsmusik sind. Dort stellte er ein Stück Pappe von der Größe einer Kreditkarte vor, auf das sein Team schichtweise ein komplettes elektrochemisches Biolabor gedruckt hat. Es umfasst eine Schicht aus Pedot-Molekülen – ein leitfähiges Polymer – und eine Elektrolytschicht für das Anzeigefeld, Mikrochips, Biosensoren aus vernetzbarer Polymertinte, eine Batterieschicht aus Mangan-Zinkoxid, die eine Spannung von drei Volt liefert, und eine Schicht zur Beschriftung. Fünfmal kann damit auf Knopfdruck je ein Tropfen Blut auf einen bestimmten Parameter untersucht werden.
Die Materialkosten beschreibt Turner als "Bruchteile heutiger tragbarer Geräte – bei gleicher Leistung". Millionenfach produziert, würde jede Testkarte nur wenige Cent kosten. Entscheidend für die geringen Kosten ist die heutige Möglichkeit, die Enzymelektroden, aus denen der Biosensor besteht, zu drucken, statt sie in Handarbeit herzustellen.
Turner sieht eine Reihe Anwendungsmöglichkeiten für sein "Papierlabor": Die Selbstdiagnose von Diabetes, Nierenerkrankungen oder Infektionen der Harnwege wäre eine davon. Pflegepersonal und Ersthelfer könnten Patienten auf einen Herzinfarkt testen. Oder Erkrankte, die nach einer Transplantation oder Krebstherapie nach Hause entlassen wurden, können kontrollieren, ob ihr Zustand stabil bleibt. Noch allerdings sucht Turner nach einem Partner für die Kommerzialisierung. "Das gesamte Gesundheitssystem muss überdacht werden", fordert der Forscher. "Die Ausrichtung der Medizin auf den Patienten – sie hat nie das Krankenhaus verlassen."
Filippo Bosco von der Technischen Universität von Dänemark verfolgt ein ähnliches Ziel wie Turner, hat aber vor allem Entwicklungsländer im Blick. "70 Prozent aller durch Diabetes bedingten Todesfälle ereignen sich in Entwicklungsländern", sagt der Nanotechnologe. Bosco kritisiert, dass Forscher häufig tolle Biochips entwickeln, diese meist aber in extrem teuren Laborgeräten ausgelesen werden müssten. Er selbst arbeitet mit Nanoresonatoren, deren Messgeräte wegen der benötigten hohen Auflösung extrem teuer waren. Bosco suchte daher eine Methode, die einfach, günstig und robust ist. Fündig wurde er zuerst beim DVD- und dann beim Blu-ray-Spieler. "Die Geräte haben eine sehr hohe optische Auflösung, sind extrem kompakt und sehr günstig", erläutert Bosco.
Mit Hilfe der Unterhaltungselektronik
Sein Team erweiterte das Gerät um eine zentrifugale Mikrofluidik, die Reagenzien, Pufferlösungen und Proben kontrolliert zusammenführt, sowie um Mikro- und Nanosensoren. "Unsere neue Nachweistechnik basiert auf der Rotation magnetischer Nanoteilchen. Das ist wunderbar kompatibel mit der Blu-ray-Technik", erläutert der Forscher. Die größte Herausforderung liege daher darin, die Assays für die Antigen-Antikörper-Bindung zu entwickeln und zu optimieren sowie die richtige Dosis-Wirkungs-Kurve zu implementieren. Die kommerzielle Herstellung eines solchen "Blu-ray-Lesegeräts" koste voraussichtlich rund 100 Euro, schätzt der Nanotechnologe. Eine Testscheibe soll je nach Land ein bis drei Euro kosten.
Mit dem Start-up "Blusense Diagnostics" hat Bosco inzwischen Testscheiben für alle wichtigen Parameter bei Typ-2-Diabetes entwickelt: HbA1c, Kreatinin, Cholesterin, Serumalbumin. Ebenfalls realisiert sind inzwischen Tests für bakterielle Infektionen, die über den Marker CRP erkannt werden, sowie ein Nachweis für Denguefieber. Weitere Überlegungen gibt es für Tests auf Herz- und Lebererkrankungen sowie auf Prostatakrebs.
Das System funktioniert denkbar einfach: einen Tropfen Blut auf die Scheibe geben, sie ins Gerät einlegen, und 15 Minuten später ist das Ergebnis verfügbar – weltweit. Denn zum Blusense-Konzept gehört, dass die Daten per Bluetooth, Wi-Fi oder USB-Kabel und letztlich per Mobilfunk übertragen werden können. Der Bluttest kann fernab eines Krankenhauses durchgeführt und nur Minuten später von einem Mediziner an einem ganz anderen Ort ausgewertet werden. Bosco hofft, dass auf diese Weise in den Entwicklungsländern weit mehr Menschen als bislang rechtzeitig auf Diabetes getestet – und in Folge auch behandelt – werden können. Läuft die Zulassung nach Plan, kommt das System in zwei Jahren auf den Markt. Einen Partner für die industrielle Produktion hat Bosco bereits gefunden.
Prostatakrebsnachweis in kürzester Zeit
Die Ortsungebundenheit der Messung von Blutparametern steht auch für Samuel Sia im Mittelpunkt. Dem Biophysiker der Columbia University in New York ist es mit seinem Team gelungen, verschiedene Labortests so zu verkleinern, dass sie in einen Adapter für Mobiltelefone passen. Da schon heute Vitalzeichen und Fitnessparameter per Smartphone gemessen werden können, sei das eine logische Weiterentwicklung, findet Sia. "In unserem jüngsten Prototyp haben wir ein 100 000-Dollar-ELISA-Gerät (ein antikörperbasiertes Nachweisverfahren, Anm. d. Red.) mit moderner Verbraucherelektronik miniaturisiert in etwas, was weniger als 100 Dollar kostet", schildert der Forscher. Während sein Kollege Vincent Linder den gemeinsamen Ansatz genutzt hat, um ein Gerät zu entwickeln, das in nur fünf Minuten Prostatakrebs nachweisen kann, hat sich Sia den Entwicklungsländern zugewandt.
In Ruanda, wo mangelnde medizinische Versorgung dazu führt, dass viele tausend HIV-infizierte Menschen nicht als solche diagnostiziert sind, hat Sia den "mChip" an rund 200 Infizierten erprobt. Ein Tropfen Blut aus der Fingerspitze wird auf das Gerät gegeben. Im Inneren erkennen enzymgebundene Antikörper auf einem Chip mit Mikrofluiden, ob HI-Viren in der Probe vorhanden sind, Fotodetektoren messen die Reaktion. Das Ergebnis gibt es in nur 15 Minuten. Die Verlässlichkeit bei positiven Proben liegt Sia zufolge bei 100 Prozent. Falsch-positive Ergebnisse treten bei weniger als jeder 100. negativen Probe auf. Damit ist der Test gängigen Schnelltests überlegen, die vor allem schwach positive Proben oft nicht erkennen und mehr falsch-positive Ergebnisse produzieren.
Während der "mChip" auf dem Feld der HIV-Schnelltests nicht allein ist, hat er doch ein Alleinstellungsmerkmal: Mit nur einem Tropfen Blut soll er bis zu zehn verschiedene Infektionen gleichzeitig untersuchen können. Das spart Zeit und Geld, zumal die Ergebnisse über das Mobiltelefon verschlüsselt in die Cloud und damit aus dem Busch ins Krankenhaus gesendet werden können. All das läuft automatisch ab dem Knopfdruck ab, der die Analyse startet. "Das minimiert Anwenderfehler", sagt Sia – und qualifiziert damit praktisch jeden für die Benutzung.
20 Dollar soll der Handyadapter kosten, zwei bis fünf Dollar der Chip für einen Test auf bis zu zehn Infektionskrankheiten. "Man kann eine Diagnose nicht ohne Arzt behandeln. Aber warum soll man den Menschen nicht erlauben, die Diagnose selbst vorzunehmen und über ihren Körper Bescheid zu wissen?", fragt Sia. Jetzt hofft er auf die Zulassung des "mChip".
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