Multiferroika: Kleine Ordnung mit großer Wirkung
Um ein Magnetfeld aufzuspüren, genügt meist schon eine einfache Kompassnadel. Dreht sie sich wie von allein, dann, weil ein äußeres Magnetfeld auf sie einwirkt. Dass bestimmte Materialien – namentlich Eisen – diese Eigenschaft aufweisen, ist schon seit Jahrtausenden bekannt. Eisen, lateinisch ferrum, gab denn auch dem Phänomen seinen Namen: Als Ferromagnetismus bezeichnen es Forscher, wenn sich die magnetischen Momente eines Materials in Anwesenheit eines äußeren Magnetfelds entlang der Feldlinien ausrichten.
In den vergangenen Jahrhunderten stießen Wissenschaftler darüber hinaus auf eine Reihe ganz ähnlicher Eigenschaften, die sie auf Grund ihrer Verwandtschaft allesamt mit der Vorsilbe "ferro-" versahen. Bei der Ferroelektrizität beispielsweise richten sich die elektrischen Dipole in einem Kristall abhängig von einem äußeren elektrischen Feld aus. Auf beiden Phänomenen baut eine Vielzahl technischer Anwendungen auf. Nur machen sich Ingenieure dabei immer nur eine einzelne dieser Eigenschaften zu Nutze.
Denn Materialien, die von Natur aus mehrere dieser ferroischen Ordnungen nutzbar vereinen, sind Mangelware. Dabei ließen sich solche so genannten Multiferroika theoretisch für unterschiedlichste Zwecke ausbeuten – in neuartigen "Spintronic"-Chips, als Datenspeicher, vor allem jedoch als hochgenaue Magnetfeldsensoren.
Weltweit suchen Wissenschaftlerteams daher nach Verfahren, Materialien mit multiferroischen Eigenschaften künstlich zu erzeugen. So auch Forscher der Universität Kiel, die ein solches im Frühjahr 2012 veröffentlichten. Es soll künftig der Hirnforschung einen genaueren Blick in unser Denkorgan erlauben.
Auch dort spielt die Messung von Magnetfeldern eine wichtige Rolle: Aktive Nervenzellen lösen kleinste elektrische Impulse aus, die wiederum schwache Magnetfelder erzeugen – messbar mit herkömmlichen Geräten wie dem Magnetenzephalografen (MEG). Deren Sensoren verlangen jedoch nach einer Kühlung auf extrem niedrige Temperaturen, was das Verfahren verteuert und auf das Labor beschränkt. Hier hofft die Forschergruppe um Dirk Meyners, Eckhard Quandt und Enno Lage nun Abhilfe schaffen zu können. [1]
Klug kombiniert
Sie kombinierten dazu zwei Werkstoffe mit unterschiedlichem ferroischem Verhalten zu einem Verbundmaterial: "Die Sensoren setzen sich aus etwa 100 Schichten zusammen, wobei jede nur wenige Nanometer dick ist", erklärt Meyners. Etwa die Hälfte dieser Lagen besteht aus einer Legierung aus Kobalt, Eisen, Bohr und Silizium, die sich unter dem Einfluss des Magnetfelds verformt – magnetostriktiv nennen Forscher diese Eigenschaft.
Schichten aus Aluminiumnitrit reagieren dann auf diese Verformung. Sie sind piezoelektrisch, das heißt, werden sie verformt, erzeugt das eine elektrische Spannung. Misst man sie, kann man indirekt auf die Stärke des Magnetfelds zurückschließen.
Weitere Schichten aus Mangan-Iridium erzeugen ein stützendes Magnetfeld innerhalb des Komposits. Das biete einen großen Vorteil gegenüber vergleichbaren Verbundmaterialien, die andere Forscherteams entwickelt haben, sagt Meyners: "An diese muss bislang immer ein weiteres Magnetfeld angelegt werden, das die Signale des Felds im Gehirn überlagert. Dadurch können sie nicht beliebig dicht gepackt werden." Die Magnetfelder würden nicht nur das Messsignal, sondern auch sich gegenseitig stören.
Mit dem magnetoelektrischen Material der Kieler Wissenschaftler dürfte dieses Problem der Vergangenheit angehören. Die Sensoren können theoretisch so dicht nebeneinander angeordnet werden, dass sich präzise Karten der Magnetfelder im Gehirn zeichnen lassen. Eine Realisierung dieser Geräte stehe allerdings noch nicht unmittelbar bevor, heißt es von den Forschern.
In ersten Tests hat das Komposit seine Tauglichkeit unter Beweis gestellt. "Zwar können unsere neuen Sensoren schwache Magnetfelder noch nicht so gut auflösen wie die alten Systeme. Wir sind aber zuversichtlich, sie schon in den nächsten Jahren ersten Anwendungstests unterziehen zu können", erläutert Meyners.
Vielseitigkeit in der Natur
Multiferroika lassen sich also mittels Nanotechnologie aus ferromagnetischen und ferroelektrischen Stoffen herstellen – sei es mit einer nanometerdünnen Schichtabfolge wie in den Kieler Magnetsensoren, sei es mit eingebetteten Kugeln oder Zylindern. Die passgenaue Struktur auf der Nano- und Mikroebene zu wählen, ist dabei ein entscheidendes Element beim Design der Materialeigenschaften. Noch naheliegender erscheint es natürlich, nach Stoffen zu suchen, die die multiferroischen Eigenschaften von Haus aus mitbringen.
Diese existieren durchaus. Tatsächlich reagiert sogar jedes rein magnetische Material immer auch ein wenig elektrisch, allerdings nur äußerst schwach. Und selbst viel versprechende Materialien zeigen beide Eigenschaften meist nur bei unterschiedlichen Temperaturen. Oder sie treten nur nahe dem absoluten Nullpunkt gemeinsam auf, was eine aufwändige und teure Kühlung erfordern würde.
Ein Forscherteam aus Frankfurt und Augsburg beobachteten nun erstmals multiferroische Eigenschaften in einem so genannten Ladungstransfersalz, einer Klasse von kristallinen Festkörpern aus organischen Molekülen [2]. "Schon allein das war erstaunlich", erzählen Michael Lang und Jens Müller von der Uni Frankfurt am Main, "da Ladungstransfersalze schon lange bekannt und Gegenstand intensiver Forschung sind."
Magnetische und elektrische Ordnung bedingen sich gegenseitig
Vor allem aber gelang es dem Team, eine Erklärung zu entwickeln, wie diese Eigenschaften der Salze mikroskopisch zu Stande kommen. Die Forscher glauben, es mit einem bisher unbekannten Phänomen zu tun zu haben: Die magnetischen Momente seien zunächst auf Dreiecken angeordnet. "Eines zeigt nach unten, das zweite nach oben, und das dritte weiß nicht, was es machen soll", veranschaulichen Lang und Müller den mikroskopischen Zustand. Eine Verschiebung der elektrischen Ladungen im Material bewirkt nun auch eine Bewegung der Dreiecke, und die magnetischen Momente richten sich endgültig aus.
So weit zumindest die Theorie. Sollte sie sich bestätigen, würde hier die Ferroelektrizität den Ferromagnetismus auslösen. Bisher war nur der umgekehrte Effekt bekannt: Spiralförmig angeordnete magnetische Momente können elektrische Ladungen im selben Material verschieben.
Die Entdeckung des Mechanismus bleibt zunächst vor allem für die Grundlagenforschung interessant, da er nur bei eisigkalten 26 Kelvin auftritt. Viele Eigenschaften der Salze lassen sich jedoch leicht einzeln verändern, und so können Grundlagenforscher an ihnen einzelne Phänomene wie in einem Baukastensystem in Reinkultur studieren. Zudem sind die Verbindungen bei kalten Temperaturen supraleitend. Daher ist nicht auszuschließen, dass der Mechanismus durch den Modellcharakter der Stoffklasse auch für technische Anwendungen wichtig wird.
Die Eigenschaften von Multiferroika machen sie auch zu viel versprechenden Kandidaten für neue Generationen von ultradichten Datenspeichern. Bei heutigen Festplatten bestehen die einzelnen Bits aus magnetischen Momenten, die durch Umklappen ihrer Ausrichtung von 0 zu 1 geschaltet werden. Da jedes einzelne ein Magnetfeld besitzt, das die Felder der Nachbarn stören würde, können sie jedoch nicht beliebig dicht aufeinanderfolgen. Der Verkleinerung von Datenträgern ist damit eine natürliche Grenze gesetzt.
Ideen für kleinere Datenspeicher
Sebastian Loth vom Center for Free Electron Laser Science in Hamburg und seine Kollegen setzten daher auf das Prinzip des Antiferromagnetismus, als sie der Frage nachgingen, wie klein man einen Datenspeicher bauen kann: Mit einem Rastertunnelmikroskop gelang es ihnen, zwölf Eisenatome mit antiparallelen magnetischen Momenten auf einer Kupfernitritoberfläche so zu platzieren, dass sie als ein digitales Bit funktionierten [3]. Ein kurzer Stromstoß auf das erste Atom genügte, um alle Momente schlagartig in die Gegenrichtung umklappen zu lassen und damit aus einer digitalen Null eine Eins zu machen. Zudem kombinierten sie erfolgreich acht solcher Einheiten auf einer Fläche von gerade 4 mal 16 Nanometern zu einem Byte.
Doch in Computern können die atomaren Speicher noch nicht verbaut werden: "In unseren Experimenten haben wir der Technologie schätzungsweise um 20 Jahre vorausgegriffen", betont Loth. "Aber antiferromagnetische Materialien sind keine Seltenheit. Auch wenn unser Nanospeicher nur bei wenigen Kelvin stabil war, kann ich mir vorstellen, dass das Prinzip der antiparallelen Ordnung auch mit mehr Atomen und bei Raumtemperatur funktionieren kann."
Multiferroische Materialien könnten zudem das digitale Lese-und-Schreib-Verfahren revolutionieren. Heute stecken in Leseköpfen Elektromagnete, in denen permanent elektrischer Strom fließt, der durch die magnetischen Momente geändert wird. Multiferroika hingegen könnten – genau wie in den Magnetsensoren – selbst einen Spannungspuls erzeugen. Für den Schreibvorgang müsste der Kopf lediglich selbst magnetisiert sein. Das würde theoretisch den Stromverbrauch von Computern senken und auch weniger Kühlung erfordern. Dieses Prinzip ist aber noch nicht anwendungsreif – es gehört wie der antiferromagnetische Nanospeicher zu den Ideen für eine grundsätzlich neue Computertechnologie der nächsten Jahrzehnte.
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