Klimakrise: Alarmstufe Rot für unseren Heimatplaneten
Wenn in zwei Wochen Vertreter von mehr als 190 Staaten der Erde zum Weltklimagipfel im ägyptischen Scharm asch-Schaich zusammenkommen, wird Bilanz gezogen. Im Klimapakt von Glasgow hatten sich die Staaten im Jahr 2021 darauf verpflichtet, den Ausstieg aus der Kohle einzuleiten und die Subventionen für fossile Energieträger abzubauen. Bis zum Treffen in Ägypten sollten sie ihre Pläne nachschärfen, um das im Pariser Klimaabkommen vereinbarte 1,5-Grad-Ziel in Reichweite zu halten. Es besagt, dass sich die Erde bis 2100 um maximal 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit erhitzen soll.
Doch dieses Vorhaben gerät immer stärker in Gefahr, warnt ein Team internationaler Klimaexperten in einem nicht zufällig kurz vor Beginn des Gipfels vorgelegten Report. »Für die Erde gilt Alarmstufe Rot«, schreiben die Wissenschaftler. »Die derzeitige Politik führt dazu, dass sich der Planet bis zum Jahr 2100 um etwa drei Grad Celsius erwärmt, ein Temperaturniveau, das die Erde in den letzten drei Millionen Jahren nicht erlebt hat«, heißt es in der Analyse mit dem Titel »World Scientists' Warning of a Climate Emergency 2022«.
Darin analysiert ein internationales Forschungsteam, wie sich die wichtigsten Treiber des Klimawandels in den vergangenen Jahren entwickelt haben, und warnt vor den verheerenden Auswirkungen, die die menschlich verursachte Erderwärmung schon heute für die Natur habe. Anders als die Sachstandsberichte des Weltklimarats IPCC, die wegen ihres langen Entstehungsprozesses meist länger zurückliegende Zeitreihen bewerten, stützen sich die Forscherinnen und Forscher um den US-Ökologen William J. Ripple von der Oregon State University in ihrem im Fachjournal »BioScience« veröffentlichten Report auf sehr aktuelle Daten und beziehen auch die zahlreichen Naturkatastrophen aus dem Jahr 2022 bereits in ihre Bewertung ein.
16 von 35 Vitalzeichen der Erde auf Rekordhoch
Um zu analysieren, wie sich die Klimakrise aktuell entwickelt, greifen die Autoren und Autorinnen auf ein Modell von 35 Indikatoren – so genannte planetare Vitalzeichen – zurück, die für den Zustand des Planeten stehen. Variablen wie die Entwicklung des Wirtschaftswachstums, Passagierzahlen im Luftverkehr oder der Pro-Kopf-Energieverbrauch werden als Indikatoren für das Ausmaß klimabeeinflussender menschlicher Aktivitäten genutzt, während die Entwicklung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre, Messwerte zur Ozeanerwärmung oder Daten zum Verlust der weltweiten Belaubung als Gradmesser für die Folgen dieser Aktivitäten herangezogen werden.
16 der 35 analysierten Vitalzeichen verzeichnen laut Bericht historische Höchstwerte. So stellten die drei wichtigsten Treibhausgase – CO2, Methan und Lachgas – in diesem Jahr neue Rekorde für die Konzentration in der Atmosphäre auf. Die Kohlendioxidkonzentration etwa erreichte im März 418 ppm (Teile pro Million), die höchste jemals aufgezeichnete monatliche globale Durchschnittskonzentration. Hoffnungen auf einen dauerhafte Rückgang des Treibhausgasausstoßes nach dem starken Einbruch während der Corona-Pandemie wurden damit gründlich enttäuscht. Der niedrige Verbrauch fossiler Brennstoffe und die damit einhergehenden vergleichsweise geringen Kohlendioxidemissionen im Jahr 2020 erwiesen sich als »Ausreißer« auf dem Weg zu neuen Höhen.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wirft die Klimapolitik noch weiter zurück. »Wir sehen, wie in der EU mit Steuergeldern die Strom-, Diesel- und Benzinpreise gesenkt werden«, sagt der Koautor der Studie und Chef des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Johan Rockström, im Gespräch mit »Spektrum.de«. Das sei genau der falsche Weg, wenn man die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas beenden und den Ausstieg aus den fossilen Rohstoffen wirklich beschleunigen wolle.
Langfristig könne der Krieg jedoch genau dabei helfen. »Wir sehen jetzt, wie zerstörerisch es sowohl für die Volkswirtschaften als auch für den Planeten ist, auf dem Schoß autokratischer Herrscher zu sitzen, die im Besitz fossiler Brennstoffe sind«, warnt Rockström. Es gelte, mit Hilfe der erneuerbaren Energien unabhängig zu werden und auf diese Weise wirtschaftlich und sozial widerstandsfähige und nachhaltige Volkswirtschaften zu schaffen.
Mit der Hitze kommt das Dengue-Virus
Doch das ist Zukunftsmusik. Noch zeichnet sich mit Blick auf die Erderwärmung der Analyse zufolge keine Trendumkehr ab. Das laufende Jahr sei auf dem besten Weg, erneut eines der wärmsten seit Beginn der Aufzeichnungen zu werden. Die in den Weltmeeren gespeicherte Wärmeenergie stieg erneut stark an und befindet sich auf einem Rekordhoch. Die Dicke des Gletschereises und die grönländischen Eismassen verzeichnen dagegen die niedrigsten bisher gemessenen Werte. Auch die Zahl der extrem heißen Tage hat sich seit 1980 fast verdoppelt. Damit einher gehen extreme Dürren, Überschwemmungen und großflächige Waldbrände sowie eine zunehmende Ausbreitung des durch Mücken übertragenen Dengue-Virus. Mittlerweile lebt fast die Hälfte der Weltbevölkerung in Gebieten, in denen das Virus zirkuliert.
Die für eine Trendumkehr in der Klimakrise nötige Energiewende kam in den letzten Jahren der Analyse zufolge zwar voran, jedoch nicht annähernd in einem Tempo, das die Forschenden hoffnungsvoll stimmen würde: Obwohl die weltweite Erzeugung von Solar- und Windenergie zwischen 2020 und 2021 um knapp ein Fünftel anstieg, ist sie dem Report zufolge immer noch etwa 18-mal niedriger als der Verbrauch fossiler Brennstoffe. Ein rasches Umdenken zeichnet sich angesichts von mehr als 400 laufenden oder geplanten Projekten zur Gewinnung fossiler Brennstoffe mit einem potenziellen Kohlendioxidausstoß von mindestens einer Gigatonne nicht ab. Die Emissionen allein dieser Projekte summieren sich auf etwa das Doppelte des maximalen Kohlenstoffbudgets, das eingehalten werden müsste, um die 1,5 Grad-Marke zu halten.
Diese Entwicklungen bleiben nicht ohne Folgen. »Häufigkeit und Schwere der klimabedingten Katastrophen scheinen gerade deutlich zuzunehmen«, sagt William J. Ripple. In einer Übersicht listen die Forschenden allein für das Jahr 2022 mehrere Dutzend Umwelttragödien auf, die sie dem Klimawandel zuschreiben. So gehören etwa die Hitzewellen und die Waldbrände in Deutschland in diesem Sommer sowie die ausgetrockneten Flussbetten in zahlreichen europäischen Ländern dazu. Tragischerweise, so hebt Ripple hervor, zahlten aber diejenigen Länder einen besonders hohen Preis, die am wenigsten zur Katastrophe beigetragen hätten. Vor der Megaflut in Pakistan, die im Sommer ein Drittel des riesigen Landes unter Wasser setzte, mussten 33 Millionen Menschen fliehen, darunter 16 Millionen Kinder.
Furcht vor Kipppunkten
Die größte Sorge aber bereiten den Forschern die Hinweise auf eine zunehmend unkontrollierbare Entwicklung des Klimawandels, indem Kipppunkte überschritten werden. Es gebe Hinweise darauf, dass die starke Zunahme von Waldbränden nicht in linearer Verbindung zum Anstieg der Temperaturen steht. »Während die Temperaturen auf der Erde aktuell noch nach oben schleichen, könnten Häufigkeit und Ausmaß von Klimakatastrophen nach oben springen«, warnen die Forscher. Das erhöhe zum Beispiel das Risiko drastisch, dass zeitgleich in mehreren Regionen der Erde die Ernten ausfallen könnten und es zu einer beispiellosen globalen Nahrungsmittelkrise kommt.
»Die Einsicht, dass wir uns unbeherrschbaren und potenziell katastrophalen Risiken nähern, ist nicht deutlich genug ausgeprägt«Johan Rockström, Resilienz- und Klimaforscher
»Das Bewusstsein für den vom Menschen verursachten Klimawandel ist weltweit hoch«, sagt Klimaforscher Rockström. »Aber die Einsicht, dass wir uns unbeherrschbaren und potenziell katastrophalen Risiken nähern, ist nicht deutlich genug ausgeprägt.« Für Rockström muss der Klimagipfel in wenigen Wochen deshalb der Moment sein, »in dem die Verhandlungsführer ein für alle Mal erkennen, wie wichtig die globale Obergrenze von 1,5 Grad ist«. Werde die Marke überschritten, sei es wahrscheinlich, dass mehrere große Kipppunkte überschritten werden und beispielsweise das abrupte Auftauen des borealen Permafrostes droht. »Und wir haben – bereits jetzt, bei einer Erwärmung um 1,2 Grad – ein Jahr mit extremer Dürre und starker Hitze, mit Überschwemmungen und Stürmen erlebt. Die Folgen werden Schritt für Schritt immer unkontrollierbarer.«
Klimaschutz, Naturschutz, Gerechtigkeit
Die Forscher stellen sich in ihren Handlungsempfehlungen hinter einen Ansatz, wie ihn zuletzt auch der Weltklimarat empfohlen hat. Dort heißt es, der Klimawandel sei Folge einer ökologischen Überausbeutung des Planeten, die die Regenerationsfähigkeit der Ökosysteme übersteige. »Wir müssen die Übernutzung in den Griff bekommen und gleichzeitig die Klimaschutzmaßnahmen verstärken.« Schlüsselfaktoren seien daher neben der Vermeidung nahezu aller Emissionen aus fossilen Brennstoffen ein besserer Schutz der Natur, eine deutliche Reduzierung des Konsums und der Verschwendung durch die globale Mittelschicht, vor allem in den wohlhabenden Ländern. Auch Zugang für Mädchen und Frauen zu mehr Bildung und Rechten sowie die Umsetzung einer nachhaltigen ökologischen Ökonomie, die soziale Gerechtigkeit gewährleistet, müssten Teil des Klimaschutzes werden. Daneben empfehlen sie, auch technische Möglichkeiten besser zu erforschen, wie sich der Atmosphäre Kohlendioxid entziehen lässt.
»Die Staats- und Regierungschefs müssen zeigen, dass sie verstanden haben, dass wir uns in einer wirklichen Krise befinden, und sich auf durchgreifende politische Initiativen verpflichten, die der Schwere der Krise angemessen sind«William J. Ripple, Ökologe
»Dass die Naturkatastrophen zunehmen, zeigt, dass wir uns mitten in einer globalen Krise befinden, die noch weitaus schlimmer ausfallen könnte, wenn wir so weitermachen wie bisher«, warnen die Expertinnen und Experten. Und womöglich an die Adresse der Klimaunterhändler in Scharm asch-Schaich gerichtet, erklären sie: »Heute steht mehr auf dem Spiel als jemals zuvor seit Entstehung unseres Klimasystems vor mehr als 10 000 Jahren – wir stehen am Abgrund und haben die Möglichkeit, das Leben auf der Erde immens zu verändern.« Gleichzeitig gelte es, angesichts der düsteren Lage nicht in Passivität zu verfallen. »Anstatt die Hoffnung zu verlieren, müssen wir die ökologische Zerstörung beenden und sofort massive Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels und zur Anpassung daran ergreifen.«
Die Studienautoren formulieren hohe Erwartungen an die Klimapolitik in den nächsten Jahren. »Die Zukunft der Menschheit hängt von der Kreativität, der Moral und dem Durchhaltevermögen der Menschen ab, die heute auf diesem Planeten leben«, schreiben sie in ihrem Ausblick. Nur so lasse sich Schaden begrenzen, die Natur bewahren und unsägliches menschliches Leid vermeiden. Vom bevorstehenden Gipfel in Ägypten erhofft sich Ökologe Ripple ein Signal in diese Richtung. »Die Staats- und Regierungschefs müssen zeigen, dass sie verstanden haben, dass wir uns in einer wirklichen Krise befinden, und sich auf durchgreifende politische Initiativen verpflichten, die der Schwere der Krise angemessen sind.« Vorsichtige Hoffnung schöpft er aus einem der 16 Rekordwerte seines Vitalzeichen-Modells: »Wie beobachten, dass immer mehr Regierungen den Klimanotstand ausrufen. Das ist ein ermutigendes Zeichen – auch wenn wir noch einen langen Weg vor uns haben.«
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