Klimawandel in Brasilien: Im Land der Extreme
Rudi Birck hat fast alles verloren. Die Läden des Inhabers eines Schuhgeschäfts und einer Versicherungsagentur in Eldorado do Sul am Guaíba, einem Zusammenfluss mehrerer Flüsse in Rio Grande do Sul, wurden erst im September 2023 überflutet. Doch schon im Frühling 2024 folgte die nächste Katastrophe. Als das Wasser erneut in sein Zuhause im Süden Brasiliens eindrang, packte der 62-jährige Birck das Nötigste ein und machte sich mit seiner Familie Anfang Mai auf in die Richtung Landesinnere gelegene Stadt Lajeado. Von dort konnte er erst einmal nicht zurück an den Ort, an dem er 40 Jahre gelebt hatte. Brücken in der Gegend waren eingestürzt, Straßen blockiert, Hilfsmittel gelangten kaum zu den Betroffenen.
Schwere Überschwemmungen nach heftigen Regenfällen haben in dem von deutschen Einwanderern geprägten Bundesstaat seit Anfang Mai 2024 »eine der größten Klimakatastrophen in der jüngeren Geschichte Brasiliens« ausgelöst, schreibt die Zeitung »El País«. Vielen Menschen erging es wie Birck.
Bis zu 600 Millimeter Regen gingen regional in vier Tagen nieder, wie der Klimatologe Francisco Eliseu Aquino, Leiter des Fachbereichs Geografie an der Bundesuniversität von Rio Grande do Sul in Porto Alegre, im Gespräch mit »Spektrum.de« sagt: »Das ist ein Drittel des durchschnittlichen Regens in Rio Grande do Sul eines ganzen Jahres, in einer Region mit einer Topografie, die extrem schlecht dazu passt.« In kurzer Zeit können Flüsse anschwellen und ganze Täler fluten.
Der Guaíba erreichte einen Rekordpegel von 5,33 Metern – mehr als während der Überschwemmungen von 1941, als es 20 Tage und länger durchregnete. Besonders die Stadt und der Großraum Porto Alegre sind betroffen. »Porto Alegre wurde verwüstet, so dass praktisch die gesamte Stadt ohne Trinkwasser, Strom und Lebensmittel ist«, berichtete die brasilianische Zeitung »O Globo« über »eine Situation von beispiellosem Leid«.
Ausgedehnte Fluten
Über 200 000 Personen mussten bis Mittwoch (8. Mai) nach Angaben des Zivilschutzes ihr Zuhause verlassen oder wurden in Sicherheit gebracht, unter ihnen rund 50 000 in Notunterkünften und zirka 160 000 bei Familienangehörigen oder Freunden.
»Ich weiß nicht einmal, ob ich noch ein Haus habe, in dem ich wohnen kann«, sagt Birck. »Wir sind am Boden zerstört. Jahrelange Arbeit in ein paar Stunden, Tagen verloren. Städte zerstört, Freunde und Familie verloren.« Immerhin seien er und seine Familie am Leben und könnten neu anfangen. Mindestens 95 Menschen starben bis zum 8. Mai, 131 Menschen werden vermisst, 372 wurden verletzt.
Der Flughafen in Porto Alegre, der von der deutschen Fraport AG betrieben wird, stellte Flüge vorübergehend ein. Sogar Warte- und Landebereiche waren überschwemmt. Weil medizinische Einrichtungen ebenfalls stark betroffen sind, wurde in der Stadt São Leopoldo, wo vor 200 Jahren offiziell die deutschsprachige Einwanderung nach Brasilien begann, ein provisorisches Krankenhaus eingerichtet.
Ferntransport
Der Amazonasregenwald macht sein Klima in Teilen selbst und recycelt über den kleinen Wasserkreislauf den Regen immer wieder neu. Auf diese Weise gelangt feuchte Luft vom Atlantik weit nach Westen Richtung Anden und bewässert so den größten Regenwald der Erde. Ein Teil der Feuchtigkeit wird über atmosphärischen Ferntransport sogar weit nach Südwesten in die zentralen Regionen Südamerikas befördert und stützt Ökosysteme und Landwirtschaft dort.
Die Abholzung des Regenwaldes unterbricht dieses Recycling jedoch zunehmend und schwächt den Feuchtetransport: Über den Rodungsgebieten sind die Temperaturen höher, der Bewölkungsgrad niedriger, und mehr Wasser fließt oberflächlich ab, statt über die Vegetation wieder verdunstet zu werden. Davon ist letztlich auch der Ferntransport betroffen. Weniger Niederschlag erreicht die landwirtschaftlichen Gunsträume im Südwesten Brasiliens, in Argentinien und Paraguay.
Brasilien, das größte und bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas, leidet zunehmend unter Naturkatastrophen, die durch den Klimawandel ausgelöst oder verstärkt werden. 2022 etwa starben mehr als 200 Menschen in Petrópolis in der Nähe von Rio de Janeiro durch Erdrutsche, die starker Dauerregen ausgelöst hatte. Im März 2024 litten die Bewohner von Rio selbst unter einer ungewohnten Hitzewelle. Und seit 2023 hält eine extreme Dürre Teile des Amazonasbeckens sowie das Feuchtgebiet Pantanal im eisernen Griff. Die schweren Überschwemmungen in Rio Grande do Sul, einem der am höchsten entwickelten und wohlhabendsten Bundesstaaten des Landes, bilden deshalb nur einen weiteren, neuen Höhepunkt. »Es ist die schlimmste Katastrophe in der Geschichte von Rio Grande do Sul. Vielleicht sogar eine der größten Katastrophen in der jüngeren Geschichte des Landes«, sagte Eduardo Leite, der Gouverneur des Bundesstaates, der den Katastrophenzustand ausrief.
Historische Fluten
Diese Überschwemmungen seien wegen der Zahl der betroffenen Personen, der Fläche und der Schäden historisch, so Klimatologe Francisco Aquino, der sich derzeit vor Gesprächsanfragen fast nicht retten kann und dabei noch Familienangehörige mit Trinkwasser versorgt: »Dutzende Städte wurden komplett zerstört, einige von diesen Städten zum dritten Mal in weniger als zehn Monaten.« 50 Menschen starben etwa im September vergangenen Jahres infolge von Überschwemmungen vor allem im Vale do Taquari, wo Aquino geboren wurde und eine brasilianische Variante des Hunsrücker Dialekts gesprochen wird.
Für Klimatologe Aquino hat »dieses Ereignis absolut die Charakteristika des Klimawandels«, wie er sagt. Vor allem wenn man in Betracht ziehe, dass die Ozeane und die Atmosphäre 2024 heißer sind als 2023, das bereits ein Rekordjahr war. »Wir befinden uns in einer Phase des Übergangs von El Niño zu La Niña, was größere Niederschläge wahrscheinlicher macht«, sagt Aquino. »Aber dass diese Niederschläge höher ausfallen als bei anderen El Niños, das erklären wir mit dem Klimawandel.«
Klimawandel verstärkt meteorologische Phänomene
Hinzu komme eine atmosphärische Blockade mit einem Hochdruckgebiet inklusive Hitzewelle im Zentrum Brasiliens, die die Kaltfront und die atmosphärische Instabilität über dem Süden auf ihrem Weg stoppt, vor Ort aufrechterhält und so zu anhaltendem und intensivem Regen führt. Es sei ungewöhnlich, dass diese Phänomene zusammenkommen, so der Meteorologe. Aber sie dürften sich zunehmend häufen: In einem 2023 veröffentlichten Report weisen Fachleute des Weltklimarats (IPCC) auf einen Zusammenhang zwischen starken Regenfällen in der als südöstliches Südamerika bezeichneten Region, zu der Rio Grande do Sul gehört, und dem vom Menschen verursachten weltweiten Klimawandel hin.
»Die Wahrscheinlichkeit ist leider sehr groß, dass diese Ereignisse häufiger und intensiver auftreten werden«, sagte die ehemalige Vize-Präsidentin des IPCC, Thelma Krug. In Rio Grande do Sul treffen regelmäßig tropische und polare Wettersysteme aufeinander, wodurch ein Muster entsteht, das Perioden mit intensiven Niederschlägen und solche mit Trockenheit umfasst. Und die Tendenz geht dahin, dass sich dieser Wechsel mit zunehmender Intensität fortsetzt. Auch die Klimatologin Mercedes Bustamante, die an einigen Berichten des IPCC mitwirkte, meint: »Dies ist eine Region, in der wir laut Klimamodellen viel mehr Extreme erleben werden.«
Politischer Unwille
Die Regierungen der einzelnen Bundesstaaten ignorieren diese Warnungen jedoch. »Solange die Bedeutung von Anpassung an den Klimawandel nicht verstanden wird, werden sich diese Tragödien weiterhin ereignen, schlimmer werden und häufiger auftreten«, sagt Suely Araújo, Koordinatorin für öffentliche Angelegenheiten bei dem brasilianischen Klimanetzwerk: »Es ist das neue Normal.« Eduardo Leite, der Gouverneur von Rio Grande do Sul, meint dagegen, dass es nun nicht an der Zeit sei, nach Schuldigen zu suchen. Stattdessen fordert er ein Wiederaufbaupaket im Stil des Marshallplans. Wie oft bei Unglücken und Katastrophen in Brasilien und Lateinamerika ist die Solidarität hinterher groß. Doch gibt es immer mehr Zweifel an der Bereitschaft Porto Alegres, sich auf zukünftige Überschwemmungen vorzubereiten.
Vergessenes Ökosystem
Der Cerrado ist eine artenreiche Savanne, die sich südlich des Amazonasregenwaldes anschließt. Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde hier überwiegend Rinderhaltung praktiziert, doch ersetzten riesige Felder für Soja und andere Feldfrüchte diese Nutzung weitgehend. Die Rinderzucht wurde nach Norden ins Amazonasbecken abgedrängt, wo die Brandrodung immer neue Weiden schaffen soll. Inzwischen gelten zwei Drittel des Cerrado als mehr oder weniger stark geschädigt, während nur ein kleiner Prozentsatz unter Schutz steht. In der nationalen und internationalen Politik richtet sich das Augenmerk allerdings vor allem auf Amazonien, weshalb die Zerstörung des Cerrado nahezu ungebremst weitergeht.
Auch Rudi Birck bedauert, dass sein Bundesstaat nicht mehr Präventivmaßnahmen ergriffen hat. Und es wächst die Wut angesichts der Opfer, die die schweren Überschwemmungen gefordert haben. »Porto Alegre hat im Jahr 2023 keinen einzigen Centavo in den Hochwasserschutz investiert«, schrieb die Lokalzeitung »Zero Hora« auf ihrer Titelseite. Klimatologe Francisco Aquino fordert deshalb, dass »die Entscheidungsträger in Brasilien und in der Welt dringend eine Klimapolitik für das kommende Jahrzehnt umsetzen«. Bislang sei es über Jahre hinweg oft so gewesen, dass brasilianische Stadträte und Abgeordnete die Umweltgesetzgebung sogar eher abgeschwächt hätten, wenn es zur Abstimmung kam – zu groß der Druck der Agrarlobby.
Ökosysteme wie die Pampa oder der Cerrado, wo die natürliche Vegetation stark zerstört worden sei, würden im Gegensatz zum Amazonasgebiet zudem in Vergessenheit geraten. »All das hat dazu geführt, dass wir bei extremen Regenfällen schnell Erosion und Überschwemmungen haben«, so der Klimaforscher. In Rio Grande do Sul wurde für die zweite Maiwoche wieder Regen angesagt. Birck und viele andere Menschen können nur darauf hoffen, dass er bald wieder aufhört.
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