Neuer Brutvogelatlas: Klimawandel und Landwirtschaft setzen unsere Vögel unter Druck
Das Jahr 2020 gehörte auch in Europa zu den wärmsten seit Beginn moderner Aufzeichnungen. Überhaupt zeigt der Trend der Durchschnittstemperaturen auf dem Kontinent in den letzten Jahrzehnten deutlich nach oben. Und das hat Folgen für die Tier- und Pflanzenwelt zwischen Nordkap und Sizilien, Spanien und dem Ural. Der Klimawandel treibt unter anderem Europas Vögel immer weiter nach Norden. Der Verbreitungsschwerpunkt der fast 600 europäischen Vogelarten verschob sich in den vergangenen 30 Jahren im Mittel um 28 Kilometer nordwärts, also etwa um einen Kilometer pro Jahr. Das ist eines der wichtigsten Ergebnisse des neuen »Europäischen Brutvogelatlas« (EBBA2), für den erstmals die Vorkommen von Vögeln in allen europäischen Ländern einschließlich des europäischen Teils Russlands systematisch untersucht wurden.
Bei einigen Vogelarten verläuft das Tempo der Nordausbreitung sogar noch deutlich schneller. So erobert sich der schilfbewohnende Rohrschwirl (Locustella luscinioides) jährlich nordwärts mehr als sechs Kilometer neuen Lebensraum. Für einige Vogelarten bedeutet der Klimawandel aber nicht nur die Chance auf neue Siedlungsgebiete: Sie müssen sich auf die Klimaflucht nach Norden machen, weil es ihnen in den südlichsten Teilen Europas offenbar bereits zu heiß und vor allem zu trocken wird. So besiedelten Wachteln (Coturnix coturnix) innerhalb der vergangenen 30 Jahre zum ersten Mal sogar Schottland und Skandinavien; aus Teilen Griechenlands, Siziliens und Südspaniens sind sie dagegen verschwunden. Die kleinen Hühnervögel sind kein Einzelfall. In arktischen Regionen wurden gegenüber den 1980er Jahren jetzt 29 Vogelarten neu als Brutvögel registriert, die dort früher noch nicht leben konnten. Im äußersten Süden Europas verschwanden dagegen drei Vogelarten ganz.
Ursachen nicht immer eindeutig
»Der Norden Europas gewinnt Artenvielfalt hinzu, Regionen im Süden verlieren sie«, fasst der Ornithologe Sergi Herrando vom Katalanischen Institut für Ornithologie in Barcelona zusammen. »Allerdings sind die Ursachen dahinter nicht immer eindeutig und oft vielschichtiger als nur durch den Klimawandel«, fügt er hinzu. Daneben spielen vor allem Veränderungen in der Landnutzung nach Analysen der Ornithologen eine wichtige Rolle bei der Neuaufstellung der Vogelwelt. So intensiviert sich die Landwirtschaft in großen Teilen Europas weiter, und der Zusammenbruch der Sowjetunion hat in vielen Teilen Osteuropas zu einer stark veränderten Landnutzung geführt, die von der völligen Aufgabe der Bewirtschaftung bis hin zur Intensivlandwirtschaft nach mitteleuropäischem Vorbild reicht. Auch der Klimawandel selbst kann sehr unterschiedlich daherkommen und zumindest zeitweise Gewinner hervorbringen.
Zu diesen Vogelarten, die ihr Siedlungsgebiet wahrscheinlich maßgeblich mit Unterstützung der Erderwärmung stark ausweiten konnten, gehören Kuhreiher, Silberreiher, Zitronenstelze, Bienenfresser und Mittelmeermöwe: Arten, die ihren Verbreitungsschwerpunkt bisher vor allem in wärmeren südlichen und südöstlichen Regionen des Kontinents haben. Die zunehmende Erwärmung macht Europa zudem attraktiver für afrikanische und andere exotische Vogelarten, die sich natürlich hier ansiedeln oder ungezielt freigesetzt wurden. Mittlerweile brüten auf dem Kontinent 57 ursprünglich hier nicht vorkommende Vogelarten. Neben den durch die Haltung in Parks und Zoos eingeführten Nil- oder Kanadagänsen sind einige afrikanische Arten von allein gekommen, so der Haussegler (Apus affinis) – ein kleiner Verwandter des Mauerseglers – oder der Zwergflamingo (Phoeniconaias minor).
Gefahr für Arktisbewohner
Bedrohlich wird der Klimawandel vor allem für Arten, die ohnehin schon auf die kalten Regionen des Nordens spezialisiert sind und für die ein weiteres Ausweichen damit nicht möglich ist. So verringert sich der Lebensraum des hocharktischen Odinshühnchens (Phalaropus lobatus) beständig. Gleiches gilt für schneeabhängige Hochgebirgs-Vogelarten, deren Flucht nur begrenzt möglich ist.
»Klimawandel und Veränderungen in der Landnutzung sind wohl die bestimmenden Größen für die Veränderungen«, sagt auch die Managerin des Atlas-Projekts Verena Keller von der Schweizerischen Vogelwarte in Sempach. »Insgesamt scheint es aber so, als spiele die veränderte Landnutzung für die Veränderungen bei den Vögeln eine noch größere Rolle als der Klimawandel – zumindest bisher.«
Das spiegelt sich in der Liste der »Verlierer« der letzten drei Jahrzehnte wider. Für Vögel, die zum Überleben auf strukturreiche Gebiete im stark landwirtschaftlich genutzten Offenland oder auf feuchte Wiesen und Weiden angewiesen sind, wie Ortolan, Großtrappe, Uferschnepfe oder Kampfläufer, schrumpfte der Lebensraum drastisch zusammen. Insgesamt konnte zwar mehr als jede dritte Vogelart ihre Verbreitung in den letzten Jahrzehnten ausweiten. Dem stehen aber 25 Prozent der Arten gegenüber, deren Vorkommen sich massiv verkleinert hat. Der Lebensraum des nur in Europa lebenden und global vom Aussterben bedrohten Seggenrohrsängers (Acrocephalus paludicola) etwa ist weiter kleiner geworden und beschränkt sich jetzt überwiegend auf kleine Gebiete in Polen und Weißrussland. Bei etwa 40 Prozent der Vogelarten konnten keine generellen großräumigen Veränderungen festgestellt werden.
Waldvögel profitieren von Verbesserungen
Zu den »Gewinnern«, die neue Lebensräume für sich erschließen konnten, gehören vor allem im Wald lebende Vogelarten. Diesen Trend haben auch andere wissenschaftliche Arbeiten in den vergangenen Jahren immer wieder bestätigt. Er dürfte zumindest teilweise auf einen Effekt zurückzuführen sein, der bis zum letzten Weltkrieg reicht. Vielerorts wurden die Wälder in Europa in den Hungerjahren nach dem Krieg stark dezimiert und erst in den folgenden Jahrzehnten aufgeforstet. Je älter diese Wälder werden, desto besseren Lebensraum bieten sie Vögeln.
Dort, wo die Forstwirtschaft besonders intensiv ist, räumen Vögel allerdings ebenfalls in großem Umfang das Gebiet. »Die Wirkung einer geänderten Landnutzung kann die Folgen des Klimawandels überlagern, und manchmal wirken beide auch zusammen«, sagt Keller. So erklärt sich möglicherweise die stark geänderte Verbreitung des Sperlingskauzes, einer kleinen, auch am Tag aktiven Eule, die in den verlassenen Höhlen des Buntspechts vor allem in Nadelwäldern brütet. Der Klimawandel ließe erwarten, dass sie ihren Lebensraum wie andere Arten stark in den zunehmend schneefreien Norden ausweitet. Tatsächlich schrumpft er aber zusammen, weil in Teilen Skandinaviens Wälder kaum mehr sind als Holzfabriken, in denen Bäume nur noch selten alt werden können.
Ein bürgerwissenschaftliches Mammutprojekt
Die zehnjährigen Arbeiten für den Atlas waren das bisher umfassendste Kartierungsprojekt für Vögel in Europa. Von den Azoren bis zum Ural durchkämmten mehr als 120 000 freiwillige Beobachter über einen fünfjährigen Erfassungszeitraum 48 Länder. Die Erfassungen dauerten fünf Jahre. Dazu wurden insgesamt mehr als elf Millionen Quadratkilometer Fläche in Raster von je 50 mal 50 Kilometern aufgeteilt und die darin lebenden Vogelarten nach einheitlichen wissenschaftlichen Standards erfasst. Die gewonnen Daten stellten die leitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler denen eines kleineren Vorgängerprojekts (EBBA1) mit Erfassungsprogrammen aus den 1980er Jahren gegenüber, um die Veränderungen zu ermitteln. Die Daten aus Deutschland stellte der Dachverband Deutscher Avifaunisten (DDA) bereit, der für die Bundesregierung seit vielen Jahren das wissenschaftliche Monitoring der Vögel in Deutschland betreibt. »EBBA2 ist eines der größten Citizen-Science-Projekte zur Biodiversität, das es weltweit jemals gegeben hat«, sagt Keller. »Wir wissen jetzt mehr über die Verbreitung der Vögel in Europa als jemals zuvor in der Geschichte, und vieles ist überraschend.«
Einer dieser überraschenden Befunde des Mammutprojekts ist die Tatsache, dass die allermeisten Vogelarten innerhalb Europas nur einen vergleichsweise kleinen Teil besiedeln. Arten wie Kolkrabe, Kohlmeise, Haussperling, Kuckuck oder Bachstelze, die so gut wie flächendeckend in allen Ländern Europas vorkommen, sind die Ausnahme. Mehr als die Hälfte aller Arten existiert auf weniger als zehn Prozent der Fläche. »Das bedeutet natürlich, dass jedes einzelne Land eine besondere Verpflichtung hat, die bei ihm vorkommenden Vögel selbst zu schützen, und nicht auf die anderen verweisen kann«, sagt Keller. Eine gesamteuropäische Verantwortung sehen die Forscherinnen und Forscher dagegen für die 60 Vogelarten, die es weltweit fast nur in Europa gibt, sowie die 40 Arten, die ausschließlich hier vorkommen. Darunter fallen Rotmilan, Seggenrohrsänger und der unter anderem in Deutschland im Schwarzwald und den Alpen lebende Zitronenzeisig.
Auch gute Nachrichten
Der Atlas hält zudem einige positive Nachrichten bereit. »Die Wiederbesiedlung von früher verlassenen Gebieten durch den Seeadler zeigt, dass Schutzgebiete und das Verbot der Jagd auf Greifvögel wirken können«, sagt Kokoordinator Petr Voříšek von der tschechischen Ornithologischen Gesellschaft. Weitere Erfolgsgeschichten des Vogelschutzes schreiben die heimlich im Schilf von Seen lebende Rohrdommel oder der vor allem in Feuchtgebieten und an den Küsten verbreitete Säbelschnäbler. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die besonders bedrohten Arten in ganz Europa weiter an Boden verlieren.
Die Ergebnisse des Atlas sind nicht allein für Vogelkundler interessant. »Die Daten zur Verbreitung von Vogelarten werden als die besten Biodiversitätsindikatoren in der Europäischen Union angesehen und spielen eine wichtige Rolle bei der Festlegung von Strategien zum Erhalt der Natur wie dem European Green Deal«, sagt Maria Luisa Paracchini vom Wissenschaftlichen Dienst der EU-Kommission. Vor allem bei der von der Kommission für das Jahr 2021 angekündigten Vorlage verbindlicher Ziele für die europaweite Renaturierung von Ökosystemen würden die neuen Daten eine wichtige Rolle spielen, betont sie.
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