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Klimawandel: »Wir werden ungeheure Veränderungen im Vogelzug sehen«

Der Klimawandel wird den Vogelzug komplett durcheinanderwirbeln, sagt der Ornithologe Peter Berthold: Zugvögel müssten zu Standvögeln werden und umgekehrt – oder buchstäblich auf der Strecke bleiben.
Störche bei der Rast in Israel
Weißstörche versammeln sich in großer Zahl auf ihrem Flug nach Afrika in Israel: Wir könnten die letzte Generation sein, die ein solches Schauspiel noch bewundern kann, sagt Peter Berthold.

Herr Berthold, seit Urzeiten staunen die Menschen über den Vogelzug. Dass tausende Vögel im Herbst wie auf Kommando verschwinden und dann im Frühjahr urplötzlich wieder auftauchen, das hat die Riten von Naturvölkern geprägt und sich in den ältesten Texten der Menschheit niedergeschlagen. Setzt der Klimawandel dem jetzt ein Ende?

Der Vogelzug wird nicht aufhören, aber er wird sein Gesicht überall grundlegend verändern. In einigen Regionen – wie zum Beispiel bei uns in Deutschland – werden sehr viel weniger Vögel über lange Strecken ziehen, weil sie es nicht mehr nötig haben. In anderen Regionen werden dagegen Arten, die heute ohne diese anstrengende und gefahrvolle Reise auskommen, nur dann der Hitze und Trockenheit entkommen können, wenn sie wenigstens für die heißeste Zeit des Jahres in kühlere Gebiete fliehen.

Peter Berthold | Peter Berthold (85) war langjähriger Leiter des Max-Planck-Instituts für Vogelforschung in Radolfzell und ist Autor einer dreistelligen Zahl wissenschaftlicher Arbeiten zum Vogelzug. Sein 1990 in erster Auflage erschienenes Übersichtswerk zum Thema gilt international bis heute als Standardwerk.

Wo könnten sich diese neuen Formen des Vogelzugs entwickeln?

Ich denke vor allem an Australien und Afrika. Dort sind viele Populationen aktuell sesshaft, weil es ihnen in den noch mäßig feuchten Savannengebieten relativ gut geht. Wenn diese Gebiete wie erwartet mehr oder weniger stark zu Wüsten werden, müssen die Vögel mindestens jahreszeitlich diese Gebiete verlassen, sonst würden sie sterben. Diese Trockenflucht werden wir wahrscheinlich auch um das Mittelmeer herum erleben. In den Sommermonaten werden dort viele Gebiete so stark ausdörren, dass die Vögel nach Norden ausweichen müssen und erst zur Brutzeit wieder zurückkehren.

Allein zwischen Europa und Afrika pendeln in jedem Jahr geschätzt rund 2,5 Milliarden Vögel. Wie sehen Sie die Zukunft des Vogelzugs bei uns?

Wenn sich die Temperaturen so erhöhen, wie das der Weltklimarat prognostiziert hat, dann werden viele Vögel zu Hause bleiben. Das sehen wir heute schon bei Kranichen, bei Staren, bei Hausrotschwänzen und vielen weiteren. Teile dieser Populationen ziehen bereits jetzt nicht mehr, und künftig wird sich das Ausmaß nur noch weiter reduzieren. Selbst in den gemäßigteren Zukunftsszenarien, die der Weltklimarat zu Grunde gelegt hat.

Der Klimawandel macht sich nicht nur an Start und Ziel bemerkbar, sondern auch unterwegs: Wissenschaftler haben gewarnt, dass jedes zweite Feuchtgebiet, das entlang des europäisch-afrikanischen Zugwegs liegt, in den kommenden Jahren austrocknen könnte, zumindest teilweise. Was bedeutet das für den Vogelzug?

Viele Vögel werden dann leider buchstäblich auf der Strecke bleiben. Besonders stark wird es diejenigen treffen, die von ihrer Biologie her unmittelbar an das Wasser gebunden sind. Watvögel wie Knutts oder Sanderlinge zum Beispiel. Aber Feuchtgebiete sind nicht nur für Wasservögel überlebenswichtig. Wenn Schwalben, die von Südafrika durch die Trockenregionen zu uns ziehen müssen, unterwegs weder Wasser noch Insekten finden, schaffen sie es nicht, den Zug zu überstehen. Die Prognose der Wissenschaft ist, dass wir durch die Klimaveränderung mehr als die Hälfte der jetzt lebenden Individuen vieler Arten verlieren werden. Wir werden eine Ausdünnung der Vogelbestände in einem ungeheuren Ausmaß erleben.

Besonders faszinierend ist der Zug von Vögeln, die in großen Gruppen gemeinsam über riesige Distanzen hinweg fliegen und sich dabei zu Hunderttausenden an Rastplätzen einfinden. Wie sehen Sie die Zukunft dieses Phänomens?

Wir sind vermutlich eine der letzten Generationen, die das gewaltige Spektakel solcher Massenansammlungen von Langstreckenziehern bewundern können. An den Konzentrationspunkten des Vogelzugs – wie an der Straße von Gibraltar, am Bosporus oder in Israel – werden sich deutlich weniger Tiere einfinden. Wir beobachten das schon heute. Kraniche und Störche beispielsweise bleiben einfach in ihren Brutgebieten oder zumindest in der Nähe. Das wird sich fortsetzen. Es kann sein, dass aus dem Weißstorch, der heute oft noch 10 000 Kilometer bis nach Südafrika fliegt, ein reiner Standvogel wird, der gar nicht mehr wegzieht.

»Für Vögel in Australien, Südafrika oder dem Mittelmeerraum gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder sie werden Zugvögel, oder sie werden verschwinden«

Warum ist das so?

Aus zwei Gründen: Für immer mehr Arten lohnt es sich nicht mehr, die Strapazen und Risiken des Vogelzugs einzugehen, weil sie in milden, schneearmen Wintern auch in ihrer näheren Umgebung ein Auskommen haben. Der zweite Grund ist, dass es für viele Vogelarten einfach von ihren physiologischen Voraussetzungen her nicht mehr möglich sein wird, den immer trockener werdenden Kontinent Afrika erfolgreich zu durchwandern.

In welchem Zeitraum rechnen Sie damit, dass es grundlegende Änderungen im Vogelzug gibt?

Wenn wir sehen, welche großen Veränderungen sich bereits in der jüngsten Vergangenheit vollzogen haben, wissen wir, dass es schnell gehen kann. Viele Vogelarten haben ihre Zuggewohnheiten innerhalb weniger Generationen stark verändert. Das heißt, wir müssen schon in den nächsten Jahrzehnten bis in spätestens 50 Jahren mit ungeheuren Veränderungen rechnen.

Wenn Vogelarten versuchen, der Erwärmung über ein Vorrücken in den Norden zu entkommen, macht das dann Länder wie Deutschland zumindest zeitweise artenreicher?

Das ist durchaus denkbar. Seit einigen Jahrzehnten hält der Trend an, dass Arten aus dem Süden zu uns einwandern. Felsenschwalben, Alpensegler oder im großen Stil die Bienenfresser: Diese Arten sind gerade dabei, bei uns heimisch zu werden oder haben es schon geschafft. Da kann noch eine ganze Reihe weiterer Arten dazukommen. Die Trockengebiete im Mittelmeerraum und Nordafrika werden sich schneller und stärker ausdünnen als bei uns. Deshalb wird es sicherlich noch für einige Zeit Verschiebungen im Artenspektrum geben. Aber auch die Flucht nach Norden hat natürlich Grenzen. Spätestens am Polarmeer ist Schluss für Landvögel.

Es gibt Vogelarten, die das ganze Jahr am selben Ort bleiben. Halten diese Standvögel im Klimawandel länger durch?

Dort, wo der Klimawandel nicht allzu stark durchschlägt mit Hitze und Dürre, werden sie einen Vorteil haben. Wenn sie jedoch in Australien, Südafrika oder auch im Mittelmeerraum leben, gibt es für sie nur zwei Möglichkeiten. Entweder sie werden Zugvögel und machen sich mindestens saisonal auf den Weg, oder aber sie werden verschwinden.

Unser jetziges Vogelzugsystem ist über Jahrtausende am Ende der letzten Eiszeit entstanden. Hat es seitdem jemals so große und schnelle Verschiebungen gegeben, wie wir sie heute in Ansätzen erleben und für die nahe Zukunft erwarten?

Nein. Das Anthropozän, das Zeitalter des Menschen, verändert dieses grundlegende Muster der Natur in einem Maß wie seit dem Ende der letzten Eiszeit nicht mehr. Wir erleben gerade den Beginn der nächsten großen Etappe beim Versuch der Natur, sich den geänderten Gegebenheiten auf dem Planeten anzupassen.

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