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Anatomie: Knochenleim

Knochenleim? Man nehme ein paar überzählige Gebeine, entfette und koche sie, lasse das Ganze ausquellen, trockne zu Pulver - und gebrauchsfertig mit Wasser anrührbar ist die älteste Pappsubstanz der Menschheit. Mit dem nun entdeckten innovativen Hightech-Kleber im Knocheninneren hat diese althergebrachte Leimsiederei allerdings fast gar nichts zu tun.
Man erkennt es an Redewendungen aus Volkes Stimme: Der gemeine Knochen ist ein wenig unterschätzt. Ein Mensch und sprichwörtlicher "Alter Knochen" gehört zum alten Eisen, offenbar aber keinesfalls in eine dynamisch verantwortungsvolle Position – irgendwie wegen angeblich starrsinnig verknöcherter Sturheit. Echte, alte Knochen werden dagegen höchstens dem Hund zum Fraß vorgeworfen. Wenn der Köter nicht selbst zum alten Eisen zählt und sich daran die Zähne ausbeißen könnte.

Aber bitte, ein wenig mehr Achtung angesichts der biologischen Bedeutung und genialen Konstruktion unseres Innenskeletts: In der Rolle stützender Hartsubstanz erfüllt der gute, alte Knochen seine Funktion als stiller Star getreulich, ohne im wissenschaftlichen Rampenlicht zu stehen. Das ändert sich erst, sobald er schmerzt, versagt und schwindet – wie etwa bei der Osteoporose, unter der allein in Deutschland wohl rund sechs Millionen Menschen leiden, meist über 60-jährige Frauen. Bei den Betroffenen wird die Dichte der Knochen geringer, die Wirbelsäule krummer und die Knochensubstanz porös: Brüche wie die gefürchtete Hüftfraktur häufen sich.

Bruchstelle eines menschlichen Knochens | In der elektronenmikroskopischen Aufnahme der Bruchstelle eines menschlichen Knochens sind mineralisierte Kollagen-Fibrillen zu erkennen.
Bislang noch nie ganz genau geklärten strukturellen Verantwortlichen für diese und andere Knochenleiden waren nun Forscher um George Fantner von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara mit dem Rasterkraft-Mikroskop auf der Spur. Die Forscher interessierten sich nicht für die sprichwörtliche Starre, sondern vielmehr für das, was Knochenfibrillen im Innersten elastisch zusammenhält. Sie fanden, was trotz vieler Jahre molekularbiologisch-biochemischer Knochenleserei noch nie strukturell erkundet worden war: eine Art internen Knochenleim zwischen den mineralisierten Fasern, aus denen sich ein Knochen zusammensetzt.

Klebefäden halten die Fibrillen zusammen | Einzelne Kollagen-Fibrillen werden durch eine kaugummiartige Klebesubstanz (Pfeile) zusammengehalten, wie das Elektronenemikroskop belegt.
Der interzelluläre Knochen-Klebstoff muss hinter dem Geheimnis der Bruchfestigkeit und Haarriss-Resistenz lebender Knochen stecken, meinen die Wissenschaftler nach einem Belastungsexperiment im Mikro-Maßstab. Dabei zogen sie in einer kalzium- und natriumreichen Salzlösung zwei winzige benachbarte Plättchen eines Säugetierknochens gemächlich auseinander, maßen die dafür aufzuwendenden Kräfte und beobachteten den sich auftuenden Spalt zwischen den Knochenfibrillen im Mikroskop.

Sichtbar werden dort beim Auseinanderziehen kaugummiähnliche Fäden, die länger werden und nach und nach einzeln reißen – wobei jedes Mal ein befreiter Ruck durch die Kraftmesser aufgezeichnet wird, bis sich beide Plättchen endgültig voneinander lösen. Pressten die Forscher dann beide wieder zusammen, kleben sie auch wieder – und das Spiel kann aufs Neue beginnen.

Hypothese zum molekularen Mechanismus des Knochenklebers | Eine Hypothese zum molekularen Mechanismus der interzellulären Klebesubstanz: Bindungen zwischen fädigen Proteinen sowie den mineralisierten Fibrillen helfen dabei, eine Belastung elastisch abzufedern.
Molekulare Grundlage des Klebeeffekts dürften Bindungen in der Knochenmatrix, also der organischen Klebesubstanz zwischen den Fibrillen sein, meinen die Wissenschaftler, ohne dies jedoch auf molekularem Niveau detailliert untersucht zu haben. Wahrscheinlich bilden einzelne lang gestreckte, polymere Zucker-Eiweißketten – so genannte Proteoglykane –, oder aber Osteopontin-Proteinfasern untereinander viele, unter Zug nachgebende Verknüpfungen. Die fädigen Knäuel der Matrixmoleküle sorgen mit ihrer zähen, zusammenhaltenden Konsistenz und zusätzlichen Bindungen zu den mineralisierten Hydroxy-Apatit-Knochenplättchen jedenfalls für eine gummiartige Kittmasse im Knochen. Diese erfüllt auch den Anspruch, als Schockabsorber elastisch auszufedern. Und sie kann wohl, eingedenk ihrer relativen Flexibilität, auch einmal entstandene Haarrisse auffüllen und deren Ausbreitung verhindern. Ohne ihren Kitt, so das Resümee, wäre unser Knochen eine zwar feste, aber zudem extrem starre und brüchige Konstruktion.

Das Prinzip klebriger molekularer Schockabsorber ist übrigens weder Ingenieuren ganz neu, noch eigentlich den Wissenschaftlern um Fantner – sie hatten vor sechs Jahren verblüffend ähnliche Substanzen derselben Konsistenz bereits an verblüffend anderer Stelle im Tierreich gefunden: in den Schalen von Meerohren, einer entwicklungsgeschichtlich altmodischen Meeresschnecke, wo offensichtlich ganz ähnliche Struktureigenschaften gefragt sind und daher ebenfalls die elastische molekulare Schockabsorber-Eigenschaft einer Klebesubstanz zwischen mineralisierten Fibrillen genutzt wird. Hier (im Meerohr) wie dort (im Menschen) dürfte die Substanz zudem selbstheilend Risse schließen und verhindern. Vielleicht liefert die neue Erkenntnis nur einen Mosaikstein mehr auf dem Weg zum Verständnis der Osteoporose – jedenfalls aber ist sie eine "fundamentale neue Entdeckung", meint der ebenfalls beteiligte Physiker Paul Hansen, auf dem Gebiet der Knochenforschung, das schon seit Zeiten von Galileo wissenschaftlich beackert wird.

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