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Wahlprognosen: Können die aktuellen Umfragen noch falschliegen?

Ja, sagt Helmut Küchenhoff, Professor für Statistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sein Team vom Statistischen Beratungslabor berechnet unter anderem die Chancen für mögliche Mehrheiten: Reichen die Stimmen für eine schwarz-gelbe Koalition? Und welche Überraschungen könnten uns bevorstehen?
Blick in die Kristallkugel

Herr Professor Küchenhoff, gibt es noch einen Grund, am Wahlsieg von CDU/CSU zu zweifeln?

Der Wahlsieg ist zwar sehr wahrscheinlich, aber eine kleine Restunsicherheit bleibt.

Trotz eines Vorsprungs von weit über zehn Prozent?

Erstens kann auch in den Tagen vor der Wahl noch einiges passieren, was die Stimmung im Land verändert. Zweitens beruhen die Umfragen auf Zufallsstichproben, und diese bilden die Gesamtheit der Wähler mal mehr, mal weniger gut ab. Drittens sind die Umfrageergebnisse manchmal verzerrt, etwa weil mancher die Teilnahme verweigert oder nicht wahrheitsgemäß antwortet. Das sind schon drei Quellen der Unsicherheit, und dazu kommt, dass sich ein beträchtlicher Teil der Wahlberechtigten erst kurz vorher entscheidet, für wen oder ob er überhaupt seine Stimme abgibt. Deshalb kann man aus den aktuellen Umfrageergebnissen, so deutlich sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, keine hundertprozentig sichere Prognose ableiten.

Wie wahrscheinlich ist es denn, dass Merkel Kanzlerin bleibt? 99 Prozent?

Nur, wenn man außer Acht lässt, dass in der kommenden Woche noch etwas passieren könnte, was die Stimmung beeinflusst! Ein Team um den Mannheimer Politologen Thomas Gschwend bezieht auch diese Möglichkeit mit ein. Sie sagen deshalb: CDU/CSU werden mit einer Wahrscheinlichkeit von 96 Prozent die stärkste Kraft (Stand 15. September). Unsere Münchner Arbeitsgruppe beschränkt sich auf die aktuelle Stimmungslage. Damit kommen wir tatsächlich auf eine Wahrscheinlichkeit von über 99 Prozent.

Experten werfen den Medien vor, sie würden Umfragedaten nicht korrekt wiedergeben oder falsch interpretieren. Wie genau formuliert man Umfrageergebnisse denn richtig?

Oft werden einfach die Stimmenanteile der Parteien und die Anzahl der Befragten angegeben. Das ist korrekt, aber dazu melden Umfrageinstitute in der Regel noch das so genannte Konfidenzintervall, das in der Öffentlichkeit häufig unter den Tisch fällt. Bei den etablierten Parteien handelt es sich um einen Bereich von plus/minus zwei bis drei Prozent. In diesem Intervall liegt mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit der wahre Stimmenanteil, den die betreffende Partei erhalten würde, wenn zu diesem Zeitpunkt Wahl wäre. Unser Team berechnet stattdessen die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Partei beziehungsweise ein Parteienbündnis mindestens einen bestimmten Stimmenanteil erreicht. Das sind zwei verschiedene Vorgehensweisen, um Unsicherheiten in Zahlen auszudrücken.

Online-Rechner zu den Wahlumfragen 2017

Koalitionsrechner zum Stimmungsbild (LMU)

Die Arbeitsgruppe vom Statistischen Beratungslabor erstellt keine Wahlprognosen im engeren Sinn. Unter Leitung von Helmut Küchenhoff berechnen die Münchner die Wahrscheinlichkeiten für verschiedene Wahlausgänge allein anhand der aktuellen Umfragedaten.

Wahlprognosen (Universität Mannheim)

Das Team um den Politologen Thomas Gschwend entwickelt Prognosen zum Wahlausgang aus aktuellen Umfragedaten sowie Regelmäßigkeiten vergangener Wahlen.

Welche Arten von Unsicherheiten fließen hier mit ein?

Diese Wahrscheinlichkeiten bilden die zufälligen Abweichungen der Stichprobe von der Grundgesamtheit ab. Anders gesagt: Wenn man 1000 Teilnehmer zufällig auswählt, spiegeln ihre Antworten meist nicht genau die Millionen Wahlberechtigten wider. Deshalb schwanken die Stimmenanteile je nach Stichprobe mehr oder weniger in die eine oder andere Richtung. Je mehr Menschen man befragt, desto kleiner werden diese Abweichungen. Das bezieht aber nicht mit ein, dass sich bis zum Wahltag noch etwas ereignen könnte, was die Meinung der Wähler beeinflusst. Deshalb spricht man bei den Umfragedaten von einem Stimmungsbild und nicht von einer Wahlprognose.

Und wie ist es mit systematischen Fehlern, zum Beispiel, wenn Anhänger bestimmter Parteien seltener ans Telefon gehen oder nicht antworten möchten?

Solche Verzerrungen versuchen die Institute auf anderem Weg auszugleichen. Beispielsweise prüfen sie, ob ihre Stichprobe die Wähler in Alter und Geschlecht adäquat abbildet, und wenn nicht, korrigieren sie die Umfragedaten entsprechend. Wie sie das genau machen, ist geheim. Wenn sich Ergebnisse verschiedener Institute unterscheiden, beruht das also auf zufällig unterschiedlichen Stichproben und auf verschiedenen Korrekturverfahren. Und natürlich kann auch die Befragungsmethode das Antwortverhalten beeinflussen.

Sind die Prognosen am Wahlabend selbst genauer?

Ja, unter anderem, weil nach der Wahl nicht nur 1000 Menschen befragt werden, sondern 100 000 in mehreren hundert Wahllokalen. Die ersten Hochrechnungen um 18 Uhr sind deshalb schon sehr präzise. Dazu kommt: Bei Telefonumfragen erwischt man manche Wähler vielleicht gar nicht oder weiß nicht, ob sie am Ende wirklich wählen gehen. Wer aber aus dem Wahllokal kommt, hat tatsächlich gerade gewählt. Allerdings stellen hier die Briefwähler einen Unsicherheitsfaktor dar.

Auch bei diesen Umfragen kann also etwas schiefgehen?

Beim knappen Sieg von Schröder 2002 gab es so einen Lapsus. Die Hochrechnungen eines Instituts um 19 Uhr besagten noch, dass Stoiber gewonnen habe. Der Fehler kam dadurch zu Stande, dass die Ergebnisse aus Bayern schneller eingingen als aus anderen Regionen. Der Bayern-Bonus für Stoiber wurde zwar herausgerechnet, doch bei dieser Wahl fiel er stärker aus als üblich; die Korrektur war also zu schwach. Daraus hat man gelernt: Wenn es sehr knapp wird, hält man sich mit Prognosen besser zurück. Bei den folgenden Bundestagswahlen haben sich frühe Prognosen aber immer als richtig erwiesen, zum Beispiel, wenn es darum ging, wer die Fünfprozenthürde schafft.

Ihre Arbeitsgruppe hat einen Koalitionsrechner entwickelt: Er zeigt, mit welcher Wahrscheinlichkeit zwei oder drei Parteien genug Stimmen bekommen, um gemeinsam zu regieren. Wie genau kommen Sie zu Ihren Schätzungen?

Wir fassen zunächst die aktuellen Ergebnisse von sieben großen Umfrageinstituten zusammen, indem wir sie nach der Anzahl der Befragten gewichten. Diese "gepoolten" Umfragedaten sind unsere Grundlage: Damit simulieren wir dann mittels statistischer Verfahren 50 000-mal den möglichen Wahlausgang und bekommen so eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für die Stimmenanteile. Würde Schwarz-Gelb in 20 000 der 50 000 der Fälle eine Mehrheit bekommen, so entspräche dies einer Wahrscheinlichkeit von 40 Prozent, dass sie gemeinsam regieren können.

Wahrscheinlichkeiten für eine schwarz-gelbe Koalition bei der Bundestagswahl 2017 (Stand: 19.9.2017) |

Die Münchner Arbeitsgruppe um den Statistiker Helmut Küchenhoff erstellt auf Basis des aktuellen Stimmungsbilds aus den Umfragen die Chancenverteilung für mögliche Wahlergebnisse. Wenn die Stimmen von CDU und FDP kombiniert werden, ergibt sich daraus eine Verteilung für die Wahrscheinlichkeit, dass sie gemeinsam eine regierungsfähige Mehrheit erlangen (mit freundlicher Genehmigung von Helmut Küchenhoff und Kollegen vom Statistischen Beratungslabor der Universität München).

Entwicklung der Chance auf schwarz-gelbe Mehrheit im Verlauf eines Jahres (Stand: 19.9.2017)
Entwicklung der Chance auf schwarz-gelbe Mehrheit im Verlauf eines Jahres (Stand: 19.9.2017) | (mit freundlicher Genehmigung von Helmut Küchenhoff und Kollegen vom Statistischen Beratungslabor der Universität München)

Und welche Koalitionen sind demnach denkbar?

Für Schwarz-Gelb reicht es nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 2,6 Prozent. Für eine Jamaica-Koalition kommen wir auf 97,4 Prozent, da haben wir die Chancen für Schwarz-Gelb aber schon herausgerechnet, weil es in diesem Fall keine Notwendigkeit gäbe, die Grünen mit ins Boot zu holen. Für Rot-Rot-Grün kommen wir bei unserem aktuellen Stimmungsbild auf weniger als 0,1 Prozent. Die Kollegen aus Mannheim errechneten vergangene Woche mehr als 4 Prozent, weil ihr Modell eine Prognose für den Wahlausgang durchführt und die Ergebnisse vergangener Wahlen miteinbezieht.

Welche Überraschungen könnten uns noch bevorstehen? Sollten wir mit Parallelen zwischen Trump- und AfD-Wählerschaft rechnen?

Es ist immer schwierig, das Verhalten der Wähler angesichts neuer Alternativen vorherzusagen. Die Umfrageergebnisse für die AfD schwanken stärker als bei den übrigen großen Parteien, und es ist noch unklar, wie sich ihre Anhänger in Umfragen verhalten. Bei den etablierten Parteien weiß man, wie sich Verzerrungen durch Nichtbeantwortung oder Nichterreichbarkeit korrigieren lassen. Das ist relativ kompliziert, und man kann dabei auf ganz unterschiedliche Weise vorgehen. Experten glauben, dass die Trump-Anhängerschaft wegen mangelhafter Korrekturen unterschätzt wurde. Für die AfD fehlen ebenfalls die nötigen Erfahrungswerte. Insofern sind Überraschungen gewiss auch hier zu Lande nicht auszuschließen.

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