Verhalten: Können Tiere trauern?
Kaeli Swift trägt eine tote präparierte Krähe in den Händen. Die Krähenforscherin läuft an die Stelle, an der sie seit einigen Wochen eine Gruppe Amerikanischer Krähen (Corvus brachyrhynchos) mit Erdnüssen anlockt. Sobald sie sich nähert, wird es laut im Geäst. Die Vögel rufen und krakeelen, sammeln sich im nächsten Baum und beobachten den starren Körper aus gewisser Distanz. Swift ist sich sicher: Sie reagieren auf den toten Artgenossen.
Rabenvögel haben einen schlechten Ruf. Als Aasfresser und typischer Wintervogel sind sie Sinnbild für Trauer und Tod. Einige Erkenntnisse weisen jedoch darauf hin, dass sie den eigenen Toten durchaus nicht gleichgültig gegenüberstehen. Damit stehen Krähen im Tierreich womöglich nicht allein da: Die Hinweise häufen sich, dass wir Menschen mit unseren Totenkulten und unserem Trauerempfinden nicht so einzigartig sind, wie wir bisher vermutet haben.
Immer wieder tauchen Berichte und Videos von Vögeln und Säugetieren auf, die ihre Artgenossen zu betrauern scheinen. Eine Schwertwalkuh trägt ihr totes Junges tagelang auf der Schnauze herum. Eine Gruppe Elefanten besucht eine Elefantenleiche. Wissenschaftler versuchen zu verstehen, ob der Schein trügt: Sind Tiere überhaupt in der Lage, das Konzept Tod zu verstehen? Was machen Tiere, wenn sie mit toten Artgenossen konfrontiert sind? Mit diesen Fragen beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Feld der vergleichenden Thanathologie – die Wissenschaft des Todes und des Totenkults.
Ausgestopfte Falken und Freiwillige in Masken
2015 veröffentlichte Kaeli Swift eine Studie, in der sie zeigen konnte, dass die Vögel an dem Ort, an dem die tote Krähe aufgetaucht war, dem Futter fernblieben und sich verhielten, als wäre dort ein Jäger unterwegs. Mit Hilfe von Falkenmodellen und vielen Freiwilligen in Masken wies sie außerdem nach, dass die Krähen sich an den Träger der Vogelleiche erinnerten: Das Auftauchen der maskierten Helfer beantworteten die Tiere noch wochenlang mit starkem Rufen. Brachten diese einen Falken mit, den Feind aller Krähen, reagierten sie noch heftiger. Setzten die Helfer eine neue, für die Krähen fremde Maske auf, hatte ihr Besuch hingegen keine Wirkung. Swift schloss daraus: Die Tiere beobachten die Ursache für den Tod des Tiers und lernen vom Ableben der Artgenossen. Sie versuchen so, Gefahren zu vermeiden. Die große Frage aber bleibt: Heißt das auch, dass die Tiere Trauer fühlen?
Wir Menschen haben eine Vielzahl von Riten entwickelt, mit denen wir unsere Toten bestatten und unserer Trauer Ausdruck verleihen. Meist wird auf die eine oder andere Weise bei den Verstorbenen gewacht, und die Angehörigen spenden sich gegenseitig Trost. Kinder entwickeln oft erst mit etwa zehn, elf Jahren ein Konzept vom Tod. Menschen verstehen den Tod als unwiderruflichen Zustand, der jedem Lebewesen irgendwann bevorsteht. Auch dass der tote Organismus nicht mehr funktioniert, nicht mehr reagiert, nicht mehr denkt und fühlt, gehört zu unserem Todeskonzept – genauso, wie der Tod eine Ursache hat, sei es Organversagen, Alter, Unfall oder Krankheit.
Diese Subkonzepte des Todes beschreibt James Anderson von der Kyoto University in einer Studie von 2018. Jeden dieser Aspekte müssen Kinder erst lernen – vermittelt durch die Kultur, in der sie aufwachsen. Forscher wie Anderson vermuten, dass im Tierreich am ehesten die Schimpansen dazu in der Lage wären, Emotionen wie Trauer an den Tag zu legen: Schließlich wird bei unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, ein Selbstkonzept vermutet, das mit dem erwachsener Menschen vergleichbar ist.
Trauern Affen, die ihr totes Junges mit sich herumtragen?
Bis heute haben Primatenforscher Schimpansen nur selten dabei beobachten können, wie sie auf erwachsene tote Artgenossen reagieren. James Anderson beschreibt eine solche Situation 2008 in einem Safaripark in Schottland: Eine Gruppe von vier Affen kümmerte sich um eine kranke Schimpansin, versuchten sie während des Sterbens zu schütteln und schauten nach Lebenszeichen. Nach dem Tod von »Pansy« lausten die Affen sich öfter, was Anderson als trösten deutet, waren zeitweise aggressiv und lethargisch – als würden sie trauern. Viel genauer belegt ist ein Verhalten, das Primatologen nicht nur bei Schimpansen, sondern auch bei anderen Affenarten wie Makaken beobachtet konnten: Affenmütter tragen ihre verstorbenen, mumifizierten Jungen manchmal noch wochenlang mit sich umher. Sie pflegen sie, halten die Fliegen davon ab, Eier in sie zu legen. Ist das ein Trauermechanismus, der auf ein komplexes Todeskonzept hinweist?
»Verlustgefühle sind nicht das Gleiche wie Trauer«, erklärt Kurt Hammerschmidt vom Primatenzentrum in Göttingen. Auch einige der Berberaffen, mit denen der Forscher arbeitet, trugen die Leichen ihrer verstorbenen Jungen weiter am Körper. »Wir konnten bisher kein Verhalten beobachten, das darauf hinweist, dass die Affen ein Konzept davon haben, was Tod bedeutet. Die Tiere versammeln sich nicht einmal, wenn ein ranghohes Gruppenmitglied stirbt. Sie ignorieren das regelrecht«, erklärt Hammerschmidt.
Das Verhalten gegenüber den Jungen ließe sich auch mit einem Verlustgefühl erklären, so der Forscher. Die Tiere verstehen nur langsam, dass das Junge nicht mehr lebt, und ihre mütterlichen Instinkte wirken weiter, bis die Stillhormone versiegen. »Wenn ein Jungtier der Mutter weggenommen wird, reagiert sie erst sehr aufgeregt und im Anschluss depressiv«, beobachtete Hammerschmidt. »Dem Tier fehlt etwas«, schließt er daraus: Die Bedürfnisse des Muttertiers werden nicht erfüllt, wenn ihr Junges weg ist, und das ruft negative Emotionen hervor. Hammerschmidt zweifelt daran, dass diese Makaken darüber hinaus verstehen, dass es ein bestimmtes Tier in ihrem Umfeld ist, die stirbt. »Wenn wir eine solche Art von emotionaler Tiefe bei Tieren annehmen, ist sie am wahrscheinlichsten bei Menschenaffen zu finden«, urteilt der Forscher, der insbesondere die Kommunikation von Affen untersucht.
Wie kann man erkennen, was ein Tier fühlt?
Ob Tiere wie Krähen, Elefanten oder Menschenaffen solche kognitiven Todeskonzepte haben, lässt sich schwer nachweisen, genauso wenig, ob sie Trauer empfinden. »Das ist die Millionen-Dollar-Frage«, sagt Kaeli Swift dazu. Denn diese Art der Forschung hat ein grundlegendes Problem, das schon Charles Darwin erkannte: Es gibt kein Mittel, die Emotionen von Tieren direkt und objektiv zu erfassen. Mit Fragebogen kommen die Forscher nicht weit. Die Verhaltensforschung und auch die Neurowissenschaften sind darauf angewiesen, Vergleiche zu menschlichen Emotionen anzustellen, Annäherungen zu finden, Hinweise darauf zu sammeln, was unseren Trauerkonzepten nahekommen könnte. Oft führt das aber in eine von Verhaltensforschern gefürchtete Falle: den Anthropomorphismus. Dieser Vermenschlichungsfalle zu entkommen, ist nicht immer leicht.
Ein Beispiel: Eine Hummel liegt in einem Bett aus rosa Blütenblättern. Ameisen tragen weitere herbei und legen sie neben der Hummel ab. Zeigt das beliebte Video auf Youtube eine von Ameisen organisierte Hummelbeerdigung? Wohl kaum. Aus einer menschlichen Perspektive sieht es vielleicht nach Trauerfeier aus – mit Blumenkranz und Arrangement. Dass Ameisen sich für die Überreste einer Hummel interessieren, außer um sie als Nahrung zu verarbeiten, ist allerdings ziemlich abwegig. Wahrscheinlicher ist, dass die tote Hummel auf dem Eingang des Ameisennestes liegt und die Tiere somit die Blumenblätter nicht mehr in den Bau hineintragen können, wie der australische Ökologe Mark Elgar auf dem Portal »ScienceAlert« erklärte.
Letztendlich ist die Frage, was genau eine Krähe beim Anblick eines toten Artgenossen empfindet, eher philosophischer als biologischer Natur. Der Ausdruck und die Wirkung der Emotionen auf die Umwelt von Tieren können wiederum erforscht werden, ohne auf deren Innenleben zu schließen. Zum Beispiel in einem evolutionären Zusammenhang: Warum sollte Trauerverhalten überhaupt entstehen? Welchen Vorteil hat ein trauerndes Tier? Biologen wie Swift und Elgar beantworten solche Fragen mit Beobachtung und Experiment. So stützen Swifts bisherige Ergebnisse die These, dass Trauerverhalten bei Krähen entstanden ist, um aus dem Tod eines Artgenossen zu lernen und Gefahren, etwa Räuber oder Krankheiten, in Zukunft besser zu erkennen.
Soziale Insekten wie Ameisen und Bienen führen zwar keine Begräbnisse durch und empfinden wahrscheinlich auch keine Trauer. Viele solche Tierarten entfernen aber tote Artgenossen aus dem Bau; diese Nekrophorese dient wahrscheinlich ebenfalls dem Selbstschutz. Das kann heißen, dass sie die Insektenkörper vergraben, aus der Kolonie herausschleppen oder aber verspeisen, um den Bau vor Keimen zu schützen. Dabei reagieren sie lediglich auf chemische Signale: beispielsweise Ölsäure, die manche toten Insekten verströmen.
Bis vor Kurzem bestand die Forschung an Trauer und Tod von Tieren bestenfalls aus Anekdoten über trauernde Affen, Wale und Elefanten, und nur wenige Forscher wagten sich auf dieser Basis an Vergleiche mit menschlichem Verhalten heran. Die vergleichende Thanatologie, wie sie etwa Swift betreibt, findet nun Wege, Verhaltensweisen zu deuten, ohne in die alte Vermenschlichungsfalle zu tappen, und hebt dieses Feld somit aus der reinen Spekulation. »Lange Zeit galt die Möglichkeit, dass Tiere trauern oder Ähnlichkeiten mit menschlichem Verhalten zeigen, als lächerlich«, sagt die Forscherin. »Es ist interessant zu sehen, dass sich das heute zu einem legitimen Wissenschaftsgebiet gewandelt hat.«
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