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Körperbild: Im Kopf ein Spargeltarzan

Dass Menschen ihren Körper verzerrt wahrnehmen, ist nicht selten. Woran das liegt, weshalb vor allem Frauen betroffen sind und wann Handlungsbedarf besteht.
Ein Mann hebt im Fitnessstudio ein Gewicht an. Die Sonne scheint auf seinen muskulösen Oberarm

Malte Schuch geht fast jeden Tag zum Sport, manchmal zweimal. Im Fitnessstudio stemmt der 29-Jährige Gewichte, macht Sit-ups, trainiert an der Rudermaschine, bis ihm der Schweiß den Rücken runterläuft. Um den Muskelaufbau zu fördern, achtet er darauf, viele Proteine und Kohlenhydrate zu sich zu nehmen. Sein Körper scheint es ihm zu danken. Aus dem schlaksigen Teenager von einst ist ein muskulöser Mann mit breiten Schultern geworden. Schuch könnte zufrieden sein, ist es aber nicht. Schaut er in den Spiegel, fühlt er sich oft zu schmal. Aus Angst abzunehmen steigt er jeden Tag auf die Waage: »Die 90-Kilo-Grenze darf ich nicht unterschreiten«, sagt er – sie markiert für ihn die Grenze zum Schmächtigsein. Den Muskelpanzer, den er sich aufgebaut hat, nimmt er kaum wahr.

Um Malte Schuchs Anonymität zu wahren, sind sein Name und Details seiner Biografie verfremdet. Freunden und Familie hat er noch nie von seinen Gedanken erzählt. Dass Menschen ihren Körper verzerrt wahrnehmen, ist nicht selten. Es gibt zahlreiche psychische Erkrankungen, bei denen so genannte Körperbildstörungen Teil der Diagnose sind. Darunter Essstörungen – insbesondere die Anorexia nervosa –, aber auch Bulimie oder die körperdysmorphe Störung, kurz KDS. Bei der Anorexie oder Magersucht nehmen Betroffene, die in der Regel sehr dünn sind, ihren Körper dennoch als zu dick oder »zu viel« wahr. Ulrich Voderholzer, Chefarzt im Fachzentrum für Psychosomatik und Psychotherapie in der Schön Klinik Roseneck, berichtet von einer Patientin, die sich trotz ihres starken Untergewichts oft wie ein »Michelinmännchen« fühle, besonders nach den Mahlzeiten. Für Außenstehende sind solche Aussagen kaum begreifbar, wirken nahezu wahnhaft. Bei der KDS sind es hingegen einzelne Körperteile, die die Menschen zur Verzweiflung bringen. Manche finden ihre Nase oder ihren Mund zu groß, andere hadern mit ihrer Haut, ihren Augen oder den Haaren. Eine Unzufriedenheit, die mit der Zeit zur Obsession wird. Eine Unterform der KDS, die vermutlich auch Malte Schuch betrifft, ist die Muskeldysmorphie: Die Betroffenen haben das Gefühl, klein und schmächtig zu sein, obwohl sie eigentlich über die Maßen muskulös sind.

Doch auch bei gesunden Menschen stimmt die Körperwahrnehmung nicht immer mit den objektiven Fakten überein – besonders bei Frauen. So schätzen 29,2 Prozent der untergewichtigen Frauen ihr Gewicht als genau richtig ein. Mehr als ein Drittel der normalgewichtigen Frauen empfinden sich als zu dick. Insgesamt halten sich rund zwei Drittel der Frauen für zu dick und weisen damit eine negative Körperwahrnehmung auf, so ein Ergebnis des Berichts des Robert Koch-Instituts (RKI) »Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland« von 2020.

Die Unzufriedenheit mit dem Körper beginnt meist schon im Jugendalter, wie die Ernährungsstudie »EsKisMo II« vom RKI aus dem Jahr 2021 zeigt: 22 Prozent der Mädchen und zwölf Prozent der Jungen waren in den drei Jahren vor der Befragung mindestens einmal auf Diät, um Gewicht zu verlieren. Unzufriedenheit mit dem Körper ist freilich keine behandlungsbedürftige Störung. Doch sie gilt als Risikofaktor für zahlreiche psychische Erkrankungen, allen voran Essstörungen und Körperdysmorphie.

Warum sind so viele Menschen mit ihrem Körper unzufrieden? Wie entstehen Körperbildstörungen, wann wird die Fehlwahrnehmung pathologisch – und wie können Betroffene Frieden mit ihrem Äußeren schließen?

Die Körperwahrnehmung eines Menschen hat unterschiedliche Facetten. Um sich dem Thema zu nähern, verwenden Psychologen das Konzept des Körperbilds. »Das Körperbild eines Menschen sind das Bild, das er sich im Geist von der Größe und Form seines Körpers macht, sowie die Gefühle und Verhaltensweisen, die er bezüglich dieser Charakteristika entwickelt«, erklärt Andrea Hartmann Firnkorn, Professorin für experimentelle klinische Psychologie an der Universität Konstanz.

Das Körperbild entsteht aus einem Zusammenspiel zwischen der Person und dem Umfeld, in dem sie aufwächst. Dazu gehören nicht nur persönliche Erfahrungen, die sie im Lauf ihres Lebens bezüglich ihres Körpers macht, sondern auch die Schönheitsideale der Gesellschaft sowie kulturspezifische Einstellungen und Bemerkungen wichtiger Bezugspersonen. Die Gene könnten ebenfalls eine Rolle spielen. Menschen mit einem negativen Körperbild fühlen sich durch vorherrschende Schönheitsideale häufig unter Druck und sind auf Grund der wahrgenommenen Diskrepanz unzufrieden mit dem eigenen Körper. Personen mit einem positiven Körperbild sind zufrieden mit ihrem Körper und können ihn akzeptieren, wie er ist.

Davon abzugrenzen ist das Körperschema – die mentale Repräsentation des eigenen Körpers und seiner Ausdehnung im Raum, eine Art Körperbewusstsein, das sich teilweise bereits vor der Geburt bildet. Körperbild und Körperschema sind eng miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Das Körperbild bildet sich etwa zwischen den fünften und achten Lebensjahr aus. Im Gegensatz zum Körperschema ist es einem Menschen bewusst zugänglich. Er kann sagen, dass er seinen Rücken krumm oder die Nase zu klein findet. Das Körperschema hingegen ist unbewusst. Die Wissenschaft konzentriert sich daher meist auf das Körperbild eines Menschen.

Die Pubertät gilt als Risikophase, in der sich die Körperunzufriedenheit eines Menschen ausbildet

Dass Mädchen häufiger unzufrieden mit ihrem Körper sind als Jungen, liegt laut einer 2020 erschienenen Übersichtsarbeit des RKI zur Geschlechterrollenorientierung und Körperzufriedenheit im Jugendalter vermutlich unter anderem daran, dass sie sich in der Pubertät stärker vom Körperideal entfernen, das in westlichen Gesellschaften vor allem mit Schlankheit assoziiert ist: Der androgyne Kinderkörper entwickelt Rundungen. Jungen nähern sich während der Adoleszenz hingegen eher dem männlichen Ideal an: Die Muskelmasse nimmt zu und der Bart beginnt zu wachsen.

Die Erwartung, gut auszusehen, richtete sich zudem seit Jahrzehnten insbesondere an das weibliche Geschlecht. Ein Druck, der sich nun jedoch zunehmend auch bei Männern zeigt. »Mit der steigenden Anzahl von Bildern (idealer) Männerkörper in den Medien nimmt auch die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper zu«, stellt der RKI-Bericht fest. »In ein paar Jahren könnte es bei Männern eine ähnliche Entwicklung von Körperunzufriedenheit geben wie bei Frauen«, bestätigt Psychologin Hartmann Firnkorn. Denn je stärker Menschen ein für die meisten unrealistisches Schönheitsideal verinnerlichen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie mit ihrem eigenen Körper unzufrieden sind.

Die Rolle von Instagram, Snapchat und Co

Soziale Netzwerke wie Instagram sind daran nicht unschuldig. Zum Beispiel verdeutlichte ein Experiment der Psychologen Scott Griffiths und Ashleigh Stefanovski, dass Menschen, die eine Woche lang täglich zwei bis neun Inhalte des Hashtags »Thinspiration» oder »Fitspiration« zugespielt bekamen, anschließend unzufriedener mit ihrem Körper waren als zuvor. »Ob dieser Effekt am Ende anhält, geht aus der Studie nicht hervor«, gibt Hartmann Firnkorn zu bedenken. Dennoch steht für sie außer Frage, dass die gestiegene Verfügbarkeit von Bildern vermeintlicher Idealkörper durch soziale Medien eine Verzerrung der individuellen Wahrnehmung des durchschnittlichen Körpers fördert. Vor allem weil Menschen, die sich einmal für diese Ideale interessieren, durch Algorithmen immer mehr vom Gleichen zugespielt bekommen. Echokammer wird dieser Effekt in den Kommunikationswissenschaften genannt. Zum Beispiel wenn die Nutzenden nur gut trainierte Frauen mit Sixpack in ihrem Instagram-Account zu sehen kriegen und keine untrainierten oder übergewichtigen Personen mehr. Es findet also eine Selektion statt, die die Gefahr birgt, die Wahrnehmung einzuengen.

Snapchat dysmorphia

Durch die Nutzung sozialer Medien ist ein weiteres Phänomen der Wahrnehmungsverzerrung entstanden: Snapchat dysmorphia. Die permanente digitale Bearbeitung von Selfies führt bei manchen Menschen offenbar dazu, dass sie mit ihrem Körper nicht mehr zufrieden sind. Schönheitsoperationen scheinen eine Lösung zu bieten. Die plastische Chirurgin Michelle Yagoda erzählte der »Huffington Post« im Jahr 2018 beispielsweise, dass viele Veränderungen, die ihre Kunden sich wünschen, dem entsprechen, was die Filter bieten. Die Snapchat dysmorphia wird in der Wissenschaft seitdem immer wieder erwähnt. Gute Studien zu dem Phänomen gibt es allerdings noch nicht.

Gleichzeitig wächst gerade eine Generation von Eltern heran, die bereits selbst mit diesen Schönheitsidealen aufgewachsen sind. Um herauszufinden, welchen Einfluss etwa Mütter auf das Körperbild ihrer Töchter haben, erfassen Wissenschaftler unter anderem die Augenbewegungen. Ein Team um die Psychologin Anika Bauer hat diese bei 41 Mutter-Tochter-Paaren aufgezeichnet. Die Töchter waren im Schnitt 16 Jahre alt, die Mütter 48. Zu Beginn der Studie kreuzte jede Testperson in einem Fragebogen an, welche drei Körperregionen sie bei sich selbst positiv bewertet und welche negativ. Anschließend sah sie sich ein Foto von sich selbst an. Eine Kamera nahm dabei die Augenbewegungen auf. Das Ergebnis: Das Verhalten von Müttern und Töchtern ähnelte sich stark. Bei Müttern, deren Blick auffallend schnell auf negativ bewertete Körperregionen fiel und dort einige Zeit verweilte, verhielten sich die Töchter beim Betrachten des eigenen Fotos ähnlich.

Makel im Fokus

Dass sich die Augen als Erstes auf die als unliebsam empfundenen Zonen richten, bezeichnet die Wissenschaft als verzerrte Aufmerksamkeitslenkung. »Die Art und Weise, wie Menschen ihren Körper betrachten, und das mentale Bild, das sie innerlich von ihrem Körper haben, verstärken sich wechselweise«, erläutert Hartmann Firnkorn. Personen mit einem positiven Körperbild konzentrieren sich auf Aspekte ihres Körpers, die ihnen gefallen, oder sie widmen allen Regionen in etwa gleich viel Aufmerksamkeit. Solche mit einem negativen Körperbild fokussieren sich stattdessen auf die Bereiche, die sie selbst ablehnen. Bei Menschen mit Magersucht, Bulimie oder Körperdysmorphie ist dieses Phänomen besonders ausgeprägt, wie unterschiedliche Studien zeigen.

Von der Mutter zur Tochter

Die Ergebnisse von Anika Bauer deuten darauf hin, dass ein negatives selektives Aufmerksamkeitsmuster von Mutter zu Tochter weitergegeben werden kann. »Das könnte genetische Faktoren haben«, vermutet die Psychologin Hartmann Firnkorn. »Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich hier um ein Lernen am Modell handelt.« Kinder beobachten ihre Eltern oder andere nahe Bezugspersonen sehr genau und ahmen bestimmte Verhaltensweisen nach. Das legt auch eine Umfrage unter mehr als 300 weiblichen Teenagern nahe. Töchter von Müttern, die Diät halten, waren häufiger mit ihrem Körper unzufrieden und kontrollierten das eigene Gewicht häufig.

Um herauszufinden, ob es sich bei Vätern und Söhnen ähnlich verhält, führte Anika Bauer mit Kolleginnen 2022 eine weitere Studie durch. Anders als vermutet, fand das Team diesmal keinen Zusammenhang. Das könnte daran liegen, dass die befragten Söhne mit im Schnitt knapp 15 Jahren ein Jahr jünger waren als die Töchter in der Untersuchung zuvor, mutmaßen die Psychologinnen. Jungs kommen in der Regel gut ein Jahr später in die Pubertät. Und die gilt als Risikophase, in der sich die Körperunzufriedenheit eines Menschen ausbildet. Möglich sei jedoch, dass Väter einen geringeren Einfluss auf das Körperbild ihrer Söhne haben und dieses auch bei Jungen stärker von der Mutter geprägt werde, erklären die Wissenschaftlerinnen. Studien hierzu gibt es allerdings noch nicht.

Für Malte Schuch hatte sein Vater zwar einen Einfluss: »Er hat immer viel Sport getrieben und auf seinen Körper geachtet«, erinnert sich der 29-Jährige. Ausschlaggebend für die Unzufriedenheit mit seinem Körper waren für ihn aber die Hänseleien in der Schule. »In meiner Jugend war ich recht schmächtig«, erzählt er. Seine Eltern und Geschwister hatten das nicht kommentiert – seine Mitschüler schon. »Sie machten sich über meine dünnen Arme lustig.« Manche nannten ihn Spargeltarzan. Als er dann zu studieren anfing, begann er immer mehr zu trainieren. Er wollte nun mehr Raum einnehmen. Die inneren Verletzungen, die er durch das Mobbing erlitten hatte – und über die er nie mit jemandem sprach –, versuchte er mit Muskelmasse auszugleichen. Seine breiten Schultern gaben ihm sein Selbstvertrauen zurück.

Den Einfluss von Mobbing auf die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper untersuchten schon 2014 zwei Wissenschaftlerinnen an der North Dakota State University in Fargo (USA). Sie befragten 80 Mädchen und 78 Jungen zwischen 12 und 16 Jahren. Abwertende Äußerungen über den Körper kamen eher von Mitschülern als von den Eltern oder Geschwistern, waren insgesamt jedoch selten. Wenn das Aussehen negativ kommentiert wurde, waren die betroffenen Mädchen unzufriedener mit ihrem Körper, während bei den Jungen der Wunsch nach Muskeln wuchs.

»Nur wenn ich hübsch bin, werde ich geliebt«

Mitunter können sogar vermeintlich gut gemeinte Kommentare einen negativen Effekt haben: »Je mehr Anerkennung junge Menschen etwa für ihren hübschen Körper oder flachen Bauch bekommen, desto mehr knüpfen sie ihren Selbstwert an ihr Äußeres«, sagt Psychologin Hartmann Firnkorn. Dadurch könnten Glaubenssätze entstehen wie »Nur wenn ich hübsch bin, werde ich geliebt« oder »Nur wenn ich schlank bin, gehöre ich dazu«.

So abwertend, wie Menschen mit KDS oder Essstörung mit ihrem Körper umgehen, so sehr malträtieren sie sich in der Regel auch allgemein selbst

Die meisten Menschen kommen mit ihrer Körperunzufriedenheit klar. Sie ist vorhanden, dominiert aber weder den Alltag noch ihr Gemüt. »Dass ein negatives Körperbild pathologisch wird, ist wie das Entstehen der Körperunzufriedenheit multifaktoriell und hängt somit stark von der individuellen Lebensgeschichte ab«, sagt Chefarzt Ulrich Voderholzer. Wird die Unzufriedenheit zur Krankheit, braucht es eine Therapie. Das Problem sei nur, dass viele Betroffene sich aus Scham nicht trauten, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Einige nähmen ihre Krankheit auch gar nicht als solche wahr und suchten stattdessen nach anderen Lösungen.

Operationen lindern das Leid nicht

Besonders schwer wiegend ist dies bei Menschen mit einer körperdysmorphen Störung. Die meisten lehnen ihre Nase, den Mund oder die Haut so sehr ab, empfinden die betreffenden Körperstellen als dermaßen hässlich und eklig, dass sie nicht mehr in die Schule oder zur Arbeit gehen, sich von Freunden und Familie zurückziehen und sich sozial isolieren. Viele entwickeln dann zusätzlich eine Depression, auch Suizidgedanken sind weit verbreitet. »Ein häufiger Lösungsversuch sind Schönheitsoperationen«, berichtet Voderholzer. Einer Übersichtsarbeit des Verhaltenstherapeuten David Veale und Kollegen von 2016 zufolge haben etwa zwei Prozent der Bevölkerung eine KDS. Von den Menschen, die kosmetische Chirurgie in Anspruch nahmen, waren tatsächlich rund 13 Prozent von einer KDS betroffen. Laut einer 2024 veröffentlichen Metaanalyse mit mehr als 10 000 Personen war bei 18,6 Prozent der Patienten von ästhetischer und rekonstruktiver plastischer Chirurgie eine körperdysmorphe Störung gegeben. »Das Problem ist, dass kosmetische Eingriffe das Leid meist nicht lindern«, weiß Voderholzer. Oft fühlen die Betroffenen sich danach sogar noch schlechter: Der erhoffte Erfolg bleibt aus, sie lehnen den Körperteil weiter ab – und das Gefühl der Ausweglosigkeit steigt.

Bei der Muskeldysmorphie vermutet Psychologin Hartmann Firnkorn ebenfalls eine hohe Dunkelziffer: »Das Fitnessstudio oder allgemein der Bereich des Bodybuildings ist wie ein eigenes Milieu«, und ergänzt: »Seinen Körper mittels Kraftübungen, Ernährung, mitunter auch Medikamenten zu perfektionieren, ist hier teilweise normal.« Bis Betroffene ihr Verhalten hinterfragen oder überhaupt Leidensdruck verspüren, kann es dauern. Manche tun es auch nie.

Bei Menschen mit Magersucht ist es häufig das Umfeld, das interveniert. »Spätestens wenn die Tochter immer schmaler wird, drängen die Eltern sie, zum Arzt zu gehen«, weiß Voderholzer. Mitunter merken Betroffene sogar selbst, dass sie ein Problem haben. Denn je mehr die Essstörung fortschreitet, desto einnehmender werden meist auch die Gedanken: Der Fokus wird immer enger und irgendwann dreht sich alles nur noch um das Thema Essen – oder Nichtessen. Um das Gewicht zu kontrollieren, treiben einige Betroffene auch exzessiv Sport. Zum Teil wiegen sie sich bis zu fünfmal am Tag, um sicherzugehen, dass sie nicht zunehmen. »Die Waage wird gewissermaßen zum Stimmungsbarometer«, sagt Psychiater Voderholzer. »Sinkt die Kilozahl, empfinden viele ein Gefühl von Kontrolle und Leistungsfähigkeit, das sie in ihrer Selbstwahrnehmung ansonsten vermissen.« Dann werde der eigene Körper zur letzten Bastion, um Grundbedürfnisse erfüllen zu können. Daran zeige sich, wie sehr Menschen mit Magersucht den Bezug zu ihrem Körper verloren haben.

Die verzerrte Wahrnehmung korrigieren

Wie lässt sich ein verzerrtes Körperbild berichtigen? »Für Menschen mit Essstörung oder Muskeldysmorphie geht es oft erst mal darum, dass sie ihre verzerrte Wahrnehmung realisieren«, erklärt Voderholzer. Seilübungen helfen hierbei als Realitätscheck. Bei der Übung formen die Betroffenen etwa die Vorstellung von ihrem als zu dick empfundenen Bauch mit Seilen auf dem Boden nach. Anschließend wird nachgemessen und der wirkliche Bauchumfang danebengelegt. »Die Diskrepanz ist für viele ein erster Weckruf, durch den sie erkennen, dass ihre Wahrnehmung sie trügt«, so Voderholzer. Bei Menschen mit KDS geht es ebenfalls um Einsicht. »In Gesprächen kann herausgearbeitet werden, welche Anzeichen vielleicht dafür sprechen, dass andere Leute den an einem selbst wahrgenommenen Makel nicht als schlimm empfinden«, erläutert Hartmann Firnkorn. Oft ginge es auch darum, andere Erklärungsmöglichkeiten zu finden: Könnte es beispielsweise noch einen weiteren Grund geben, warum die Menschen auf der Party gelacht haben, als die betroffene Person den Raum betrat? »Auf diese Weise erkennen viele Menschen mit KDS langsam, dass ihre eigene Wahrnehmung und Interpretation nicht unbedingt der Realität entsprechen«, sagt die Psychologin.

»Methoden wie die Spiegelkonfrontation helfen Menschen mit Körperbildstörungen, ihren Körper realistischer wahrzunehmen und weniger abzulehnen«Ulrich Voderholzer, Psychiater

»Methoden wie die Spiegelkonfrontation helfen Menschen mit Körperbildstörungen, ihren Körper realistischer wahrzunehmen und weniger abzulehnen«, erklärt Chefarzt Voderholzer. Während der Konfrontation stellen die Betroffenen sich vor den Spiegel und gehen zusammen mit ihrem Therapeuten von Kopf bis Fuß alle Körperteile einmal durch. Entscheidend ist, dass sie für alle Körperteile neutrale Begriffe finden und jedem gleich viel Aufmerksamkeit widmen. »Das Gehirn soll dadurch lernen, den Körper wieder als Ganzes wahrzunehmen«, so Voderholzer. Mitunter helfe es, Alltagsrituale wie das permanente Checken im Spiegel zu reduzieren oder die Waage aus der Wohnung zu verbannen. Die Spiegelkonfrontation ist jedoch kein Allheilmittel, sondern lediglich ein Baustein: »Wichtig ist vor allem die langfristige psychotherapeutische Begleitung«, betont der Psychiater. »Zu verstehen, woher die Erkrankung kommt, hilft vielen Menschen, sich besser anzunehmen.« Denn so abwertend, wie Menschen mit KDS oder Essstörung mit ihrem Körper umgehen, so sehr malträtieren sie sich in der Regel auch allgemein selbst. Das zu begreifen und sich selbst wieder mehr wertzuschätzen, sei daher ein wichtiges Ziel der Psychotherapie.

Was dem Mädchen, das sich wie ein Michelinmännchen fühlte, am Ende half, kann Voderholzer nicht sagen. Wie alle Patienten durchlief sie viele verschiedene Therapieformen: Neben den Körperübungen nahm sie an Gruppengesprächen teil, wurde über die Hintergründe der Erkrankung aufgeklärt und ging zur Psychotherapie. Dass sie am Ende ihres Klinikaufenthalts geheilt war, bezweifelt er. »Je stärker die Körperbildstörung, desto langwieriger ist meist auch die Therapie«, gibt Voderholzer zu bedenken. Auf dem Weg zur Heilung ist die Klinik für fast alle Betroffenen erst der Anfang.

Malte Schuch hat bislang keine Therapie gemacht. Er befindet sich im Zwiespalt: »Die meiste Zeit fühle ich mich wohl, wozu der Sport beiträgt«, sagt er. Dass er sein Gewicht mindestens einmal am Tag kontrolliert, nimmt der junge Mann allerdings selbst als krankhaft wahr. Je mehr er mit sich im Reinen ist, desto weniger Bedeutung hat die Zahl auf der Waage: »Inzwischen kann ich das Schwanken der Kilos einigermaßen aushalten.« Solange er nicht unter die 90-Kilo-Grenze rutscht, ist für ihn so weit alles in Ordnung. Ganz ausschließen will Schuch eine Therapie allerdings nicht. Denn er merkt, dass der Sport – so gerne er ihn auch macht – mittlerweile zu viel Raum einnimmt. Darunter leidet zum Beispiel sein Studium. Dass er das selbst wahrnimmt, ist schon ein erster Schritt, findet er.

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  • Quellen

Arkenau, R. et al.: Familial transmission of attention allocation towards one’s own and a peer’s body: An eye-tracking study with male adolescents and their fathers. PLOS ONE 17, 2022

Griffiths, S., Stefanovski, A.: Thinspiration and fitspiration in everyday life: An experience sampling study. Body image 30, 2019

Hartmann, A. et al.: Faced with one’s fear: Attentional bias in anorexia nervosa and healthy individuals upon confrontation with an obese body stimulus in an eye‐tracking paradigm. Brain and Behavior 10, 2020

Kaleeny, J. D., Jeffrey E. J.: Body dysmorphic disorder in aesthetic and reconstructive plastic surgery – a systematic review and meta-analysis. Healthcare 12, 2024

Robert Koch-Institut: Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gemeinsam getragen von RKI und Destatis, 2020

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