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Kognition: Wie Licht das Denken beflügelt

Wenn die dunkle Jahreszeit beginnt, machen wir es uns gern mit Lichterketten oder Kerzen gemütlich. Dabei erhellt Licht nicht nur die Stimmung: Auch die Denkleistung kann profitieren – sofern Wellenlänge und Leuchtstärke stimmen.
Gesicht einer jungen Frau im Gegenlicht
Regelmäßige Spaziergänge im Tageslicht steigern Aufmerksamkeit, Konzentration und Merkvermögen.

Im Mai des Jahres 1999 rückten in einem niederländischen Altenheim Elektriker an, um im Gemeinschaftsraum neue Deckenleuchten zu installieren. Und zwar ziemlich kräftige: Rund 1000 Lux konnten die Lampen in eingeschaltetem Zustand erzeugen – das entspricht in etwa der Helligkeit, die in einem Fernsehstudio herrscht.

In den darauf folgenden Monaten wurden elf weitere Einrichtungen für Seniorinnen und Senioren lichttechnisch umgerüstet. Allerdings nicht alle auf dieselbe Weise: In manchen erstrahlten die Aufenthaltsräume nach dem Umbau ebenfalls in gleißendem Licht. In anderen dagegen verbaute man deutlich funzligere Leuchten, die gerade einmal auf 300 Lux kamen.

Die Ungleichbehandlung hatte Methode. Der Schlafforscher Eus van Someren, Professor am Netherlands Institute for Neuroscience in Amsterdam, wollte auf diese Weise eine wichtige Frage beantworten: Hat Licht einen Einfluss auf Verhalten, Stimmung und geistige Fähigkeiten älterer Menschen mit Demenz? Und lässt es sich gar zu therapeutischen Zwecken nutzen? Jeden Morgen um neun schalteten die Pflegekräfte dazu das Licht in den Aufenthaltsräumen ein. Abends um sechs löschten sie es wieder.

Aufenthaltsraum im Scheinwerferlicht

Insgesamt lief das Experiment über mehr als drei Jahre. 189 Hochbetagte absolvierten dabei regelmäßig verschiedene Tests. Und die Ergebnisse fielen viel versprechend aus: Bei den Versuchspersonen in der Lichtgruppe ließen depressive Verstimmungen nach. Zudem blieben sie länger in der Lage, alltäglichen Verrichtungen nachzugehen – etwa sich anzuziehen, sich zu waschen oder auf die Toilette zu gehen. Sie bauten zwar ebenfalls geistig ab, zeigten in entsprechenden Tests aber etwas bessere Leistungen als die Gruppen im Schummerlicht.

Dass wir Licht benötigen, um etwas zu sehen, weiß jedes Kind. Deutlich weniger bekannt ist dagegen, dass es noch für ganz andere Funktionen wichtig ist: Es sorgt dafür, dass unsere innere Uhr weder vor- noch nachgeht. Dadurch beeinflusst es nicht nur, wann wir wach sind und schlafen, sondern auch, wann Organe wie Leber oder Darm zu Höchstleistungen auflaufen. Immer mehr Studien dokumentieren inzwischen zudem, dass Licht sich auf Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnis auswirkt – also auf zentrale Aspekte der Kognition. Vielleicht ist es kein Zufall, dass wir schlauen Mitmenschen einen hellen Kopf attestieren, begriffsstutzige Zeitgenossinnen und -genossen dagegen als unterbelichtet bezeichnen.

In der Fachwelt spricht man von der nicht visuellen Wirkung von Licht auf Organismen. Doch wie kommt diese zu Stande? Wenn man Tieren die Augen entfernt, verstellt sich bei ihnen nach und nach die innere Uhr. Daher vermuteten Forscher und Forscherinnen schon sehr früh, dass die Photorezeptoren in der Netzhaut für die nicht visuellen Effekte verantwortlich sein müssen. Lange Zeit glaubte man, es gebe davon lediglich zwei verschiedene Sorten: zum einen die Stäbchen, die sehr helligkeitsempfindlich sind, aber keine Farben unterscheiden können; zum anderen die Zapfen, denen wir verdanken, dass unser Bild von der Welt bunt ist. Beide senden ihre Signale über Zwischenschritte an spezielle Neurone in der Retina, die Ganglienzellen. Hier findet bereits eine erste Verarbeitung der Lichtreize statt. Die Axone der Ganglienzellen bilden zusammen den Sehnerv, über den die Informationen in verschiedene Gehirnzentren gelangen.

Blinde zeigen Pupillenreflex

Das war der Kenntnisstand bis zur Jahrtausendwende. Im Jahr 2002 erschien jedoch ein wissenschaftlicher Artikel, der die Fachwelt überraschte. Darin berichteten die US-Forscher David Berson, Felice Dunn und Motoharu Takao über die Entdeckung spezieller Ganglienzellen in der Netzhaut, die selbst Licht detektieren konnten. Es gab also neben Stäbchen und Zapfen einen dritten lichtempfindlichen Zelltyp. »Das war eine Revolution, ja fast ein Schock«, sagt Ludovic Mure, Forschungsgruppenleiter an der Universitätsklinik für Augenheilkunde des Inselspitals Bern. Dabei hatte der Genetiker Clyde Keeler an der Harvard University bereits in den 1920er Jahren eine eigentümliche Entdeckung gemacht: Er hatte festgestellt, dass sich die Pupillen von Mäusen, die wegen fehlerhafter Stäbchen und Zapfen blind waren, bei Lichteinfall dennoch verengten. Seine Kolleginnen und Kollegen hatten diese Beobachtung jedoch völlig ignoriert.

Heute nennt man die neu entdeckten Neurone »intrinsisch photosensitive retinale Ganglienzellen«, kurz ipRGCs. Sie empfangen und verarbeiten ähnlich wie normale Ganglienzellen Signale von Stäbchen und Zapfen. Zusätzlich bilden sie jedoch das Photopigment Melanopsin. Dadurch sind sie auch selbst dazu in der Lage, Licht wahrzunehmen, und zwar vor allem im blauen Bereich des Spektrums (das Empfindlichkeitsmaximum von Melanopsin liegt bei 460 bis 480 Nanometern Wellenlänge). Ohne ipRGCs könnten wir Licht nur zum Sehen nutzen: Sie sind nach heutigem Kenntnisstand die einzigen Zellen im Auge, die für die nicht visuelle Wirkung verantwortlich sind.

So prägt Sonnenlicht die Arbeit des Gehirns | Lange Zeit nahm man an, lediglich die Stäbchen und Zapfen in der Netzhaut (Retina) seien empfindlich für Licht. Inzwischen ist allerdings klar: Es gibt noch einen dritten Typ von Photorezeptoren, die intrinsisch photosensitiven retinalen Ganglienzellen (ipRGCs). Anders als die herkömmlichen retinalen Ganglienzellen (RGCs) enthalten sie das Photopigment Melanopsin. ipRGCs ermöglichen gemeinsam mit den RGCs, dass wir sehen können. Sie beeinflussen aber zusätzlich Vorgänge im Körper, die zwar vom Licht abhängen, jedoch nichts mit visueller Wahrnehmung zu tun haben. Studien zufolge wirkt sich ihre Aktivierung kurzfristig unter anderem auf die Stimmung, den allgemeinen Erregungszustand und die kognitive Leistung aus. Inwieweit auch die RGCs hier mitmischen (gestrichelte rote Linie), ist bislang nicht endgültig geklärt. Langfristig prägen durch Licht aktivierte ipRGCs zudem den zirkadianen Rhythmus und damit indirekt Gemütszustand und Denkvermögen.

Ihre Zahl ist nicht besonders groß. »Jedes Auge des Menschen enthält wahrscheinlich rund 7000 ipRGCs«, erklärt Mure. »Das sind nicht einmal drei Prozent aller Ganglienzellen. Also lächerlich wenig im Vergleich zu der Bedeutung, die sie für die Regulation unserer Physiologie und unserer Kognition haben.« Inzwischen weiß man, dass es verschiedene Sorten von ipRGCs gibt – in der Maus mindestens sechs, im Menschen mindestens vier. Sie übernehmen unterschiedliche Aufgaben; welche, ist aber oft noch nicht vollständig geklärt. Am besten untersucht ist der so genannte M1-Subtyp. Unter anderem synchronisiert er unsere innere Uhr und ist maßgeblich für die stimmungsaufhellende Wirkung von Licht verantwortlich.

M1-ipRGCs sorgen auch dafür, dass sich unsere Pupillen bei Lichteinfall zusammenziehen. Für diesen Reflex arbeiten die Ganglienzellen eng mit den Zapfen und Stäbchen zusammen, von denen sie ebenfalls Informationen erhalten. »ipRGCs sind nicht sehr empfindlich für schwaches Licht, und sie reagieren zudem etwas träge«, erklärt Gilles Vandewalle, Neurowissenschaftler am interdisziplinären Forschungszentrum GIGA der Universität Lüttich. »Um die Retina bei einem abrupten Wechsel der Lichtintensität zu schützen, ist daher zusätzlich der Input der Stäbchen und Zapfen nötig.« Damit sich die innere Uhr mit dem Tageslicht synchronisiert, ist dagegen eine träge Reaktion vermutlich eher vorteilhaft – schließlich soll sie nicht von jeder vorbeiziehenden Wolke aus dem Takt gebracht werden.

»Unter Lichteinstrahlung waren viele Hirnregionen deutlich aktiver als bei Dunkelheit«Gilles Vandewalle, Neurowissenschaftler

Für die kognitive Wirkung von Licht scheint die intrinsische Lichtempfindlichkeit der ipRGCs eine zentrale Rolle zu spielen. In diese Richtung deutet beispielsweise eine Studie, die Vandewalle zusammen mit Kolleginnen und Kollegen 2013 veröffentlicht hat. »Wir haben untersucht, inwieweit Licht die Hirnaktivität vollständig blinder Menschen beeinflusst, bei denen jedoch die ipRGCs noch intakt sind«, erklärt er. Die Versuchspersonen, zwei Männer und eine Frau, absolvierten einen einfachen akustischen Test, mit dem sich die Aufmerksamkeit und die Leistung des Arbeitsgedächtnisses messen lässt. Dabei schauten sie auf ein LED-Panel, das entweder ausgeschaltet war oder in einem sehr hellen blauen Licht erstrahlte. Währenddessen zeichnete ein Magnetresonanztomograf die Aktivität ihres Gehirns auf.

Die Probanden wussten nicht, ob die LEDs an- oder ausgeschaltet waren. »Dennoch waren bei ihnen unter Lichteinstrahlung viele Hirnregionen deutlich aktiver als bei Dunkelheit«, resümiert Vandewalle das zentrale Ergebnis. Darunter seien vor allem solche gewesen, die an kognitiven Prozessen beteiligt sind. Schon zuvor hatten Fachleute bei Menschen mit normalem Sehvermögen zeigen können, dass blaues Licht die Leistung in Aufmerksamkeitstests verbessert. Das gilt nicht nur während der Beleuchtung: Auch wenn der Test direkt danach erfolgte, schnitten die Probandinnen und Probanden aus der Blaulichtgruppe besser ab als jene, die andersfarbigem Licht ausgesetzt waren.

Hellere Klassenräume, bessere Noten?

Womöglich könnten entsprechende Lichtsysteme sogar die Schulnoten verbessern. »Wir haben dazu bereits vor 15 Jahren zusammen mit der Firma Philips Versuche in Klassenräumen durchgeführt«, erklärt Michael Schulte-Markwort, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medical School Hamburg. »Bei Blaulicht waren die Kinder signifikant besser im Lesen und Rechnen.« Während Schulte-Markwort untersucht hat, wie die Lichtqualität während des Tests die Leistungen beeinflusste, ging es in einem ähnlichen Experiment in den USA um die Langzeitwirkung der Beleuchtung. Hier hatte man die Klassenräume von zwei 3. Klassen mit hellem Blaulicht ausgestattet, zwei weitere dagegen mit dunkleren rötlichen Leuchten. Zu Beginn des Versuchs und nach acht Monaten testeten die Fachleute, wie flüssig ihre kleinen Versuchspersonen lesen konnten. Die Schüler und Schülerinnen in den heller beleuchteten Räumen verbesserten ihre Leistung in dieser Zeitspanne um 36 Prozent, die Kontrollgruppen dagegen lediglich um 18 Prozent. Da es sich nur um vier Klassen handelte, ist die Aussagekraft des Experiments natürlich begrenzt – hier kann auch der Zufall mitgespielt haben. Es gibt einfach noch nicht genügend hochwertige Untersuchungen, um die Wirkung von Licht auf den Lernerfolg abschließend zu beurteilen.

Was man ebenfalls noch nicht sicher weiß: auf welche Art und Weise Licht die Kognition verbessert. Eine Rolle spielt dabei vermutlich der Nucleus suprachiasmaticus, kurz SCN. Die nur stecknadelkopfgroße Ansammlung von Nervenzellen sitzt tief im Gehirn, direkt oberhalb der Kreuzung der Sehnerven. Dieser Positionierung verdankt sie ihren Namen (supra = oberhalb; chiasma = Kreuzung). Der Kern ist der zentrale Taktgeber im Körper: Er sorgt dafür, dass alles zur rechten Zeit geschieht; ganz ähnlich, wie ein Dirigent den Einsatz der Instrumente koordiniert. Die ipRGCs entsenden Axone direkt in den SCN. Von dort gelangen die Informationen unter anderem zur Zirbeldrüse. Diese produziert das auch als Schlafhormon bezeichnete Melatonin, allerdings nur dann, wenn der SCN ihr mitteilt, dass es gerade dunkel ist. Genau andersherum ist es mit dem Nebennierenrindenhormon Kortisol, das – ebenfalls unter der Kontrolle des SCN – vor allem morgens bei einsetzender Helligkeit gebildet wird.

Aufmerksamer dank Tageslicht

Während Melatonin uns müde macht, schärft Kortisol unsere Aufmerksamkeit. Beides dürfte für die bessere Leistung bei Licht in Laborversuchen und im schulischen Kontext mitverantwortlich sein. »Wenn Sie wacher und konzentrierter sind, schneiden Sie in aller Regel in Tests besser ab«, sagt Gilles Vandewalle. »Sie reagieren beispielsweise schneller und machen weniger Fehler.« Das sei wahrscheinlich der wichtigste Weg, über den Licht die Kognition beeinflusst. Es verbessert die Fähigkeit, zu denken oder Schlüsse zu ziehen, also eher indirekt, vermutet der Neurowissenschaftler. Er glaubt allerdings, dass der SCN nur für einen Teil dieses Effekts verantwortlich ist. Eine wichtige Rolle könnte dabei auch dem Hypothalamus zukommen, einem Bereich unterhalb der Großhirnrinde im so genannten Zwischenhirn.

Von Untersuchungen an Mäusen weiß man, dass die ipRGCs eine große Zahl von Nervenfasern in den Hypothalamus entsenden. Vandewalle hat kürzlich mit einem hochauflösenden Hirnscanner zeigen können, dass diese Region auch beim Menschen durch Licht stimuliert wird – allerdings nicht überall gleich: Bei großer Helligkeit laufen demnach vor allem die seitlichen und hinteren Bereiche des Hypothalamus zu Hochform auf. Dort sitzen Zellen, die den Nervenbotenstoff Orexin produzieren. Das Neuropeptid steuert unter anderem, wie wach wir uns fühlen. Licht kann also möglicherweise die Orexin-Herstellung fördern und so auf diesem Weg, ganz unabhängig vom SCN, unsere Aufmerksamkeit steigern. Noch ist das allerdings nicht viel mehr als eine Hypothese, zumal die Ergebnisse bislang nicht von Fachleuten begutachtet und offiziell publiziert wurden.

»Wir wissen heute, dass es eine ganze Reihe von Hirnzentren gibt, die von den ipRGCs angesteuert werden«, betont Manuel Spitschan, Professor für Chronobiologie und Gesundheit an der TU München und Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen. Er glaubt ebenfalls, dass Licht die kognitive Leistung vor allem über eine Steigerung der Aufmerksamkeit beeinflusst – doch vermutlich nicht nur: »Wahrscheinlich stimulieren die ipRGCs auch direkt neuronale Schaltkreise, die für bestimmte kognitive Fähigkeiten zuständig sind.« So gibt es Hinweise darauf, dass Helligkeit sich positiv auf das Erinnerungsvermögen auswirken könnte. In diese Richtung deuten zumindest Experimente, die Fachleute der US-amerikanischen Michigan State University mit tagaktiven Ratten durchgeführt haben. Sie teilten die Tiere zunächst in zwei Gruppen ein. Nachts standen die Käfige sämtlicher Nager zwölf Stunden lang im Dunklen. Tagsüber unterschieden sich die Lichtverhältnisse jedoch: Während eine Gruppe bei hellen 1000 Lux gehalten wurde, musste sich die andere mit dämmrigen 50 Lux begnügen.

Macht schummriges Licht vergesslich?

Nach vier Wochen testeten die Forschenden die Merkfähigkeit der Tiere. Dazu brachten sie ihnen bei, in einem kleinen Pool zu einer Plattform zu schwimmen, auf die sie klettern konnten. Das Wasser war weiß gefärbt und damit undurchsichtig. Die Ratten konnten die Plattform, die sich knapp unter der Oberfläche des Pools immer an derselben Stelle befand, also nicht sehen. Sie mussten sich dazu auf ihr Gedächtnis verlassen. Das Trainingsprogramm erstreckte sich über fünf Tage. Schon am zweiten Tag zeigten sich frappierende Unterschiede: Die Tiere, die unter 1000 Lux gehalten worden waren, taten sich deutlich leichter damit, die Plattform zu finden. Dieser Vorsprung blieb bis zum Abschlusstest bestehen.

Eine Hirnregion, die für die Merkfähigkeit zentral ist, ist der Hippocampus. Er sorgt unter anderem dafür, dass neu erlernte Informationen in das Langzeitgedächtnis überführt werden. Daher nahm die Arbeitsgruppe der Michigan State University diesen Hirnbereich genauer unter die Lupe. Unter anderem untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Menge eines Moleküls namens Brain-derived neurotrophic factor, kurz BDNF. Das Protein ist ein so genannter Nervenwachstumsfaktor; es beeinflusst die Neubildung von Neuronen und ihre Verschaltung. Unter dämmrigen Haltungsbedingungen produzierten die Ratten deutlich weniger davon. Bestimmte Nervenzellen im Hippocampus trugen auf ihrer Oberfläche zudem weniger Andockstellen für Synapsen. Sie konnten sich daher vermutlich nicht so gut vernetzen. Die gute Nachricht: Durch Dunkelheit ausgelöste Gedächtnisdefizite erwiesen sich als reversibel. Wurde die 50-Lux-Gruppe anschließend vier Wochen bei 1000 Lux gehalten, verbesserte sich ihr Erinnerungsvermögen drastisch. Auch die BDNF-Bildung sowie die Zahl der synaptischen Andockstellen normalisierten sich.

Lebensstart in völliger Dunkelheit

Möglicherweise macht Schummerlicht also auf lange Sicht vergesslich. Vielleicht hat die Beleuchtungsstärke, unter der wir aufwachsen, aber sogar noch eine zentralere Bedeutung für die Hirnentwicklung. Im Jahr 2022 hat ein Forscherteam Labormäuse genetisch so manipuliert, dass sie kein Melanopsin bilden konnten. Ihren ipRGCs fehlte damit jenes Photopigment, mit dem diese Ganglienzellen selbst Licht detektieren können. Schon wenige Tage nach der Geburt bildeten die Nager im Vergleich zu Artgenossen mit intakten ipRGCs deutlich weniger Synapsen in verschiedenen Bereichen der Hirnrinde. Derselbe Effekt trat auf, wenn unveränderte Mäuse direkt nach der Geburt in kompletter Dunkelheit gehalten wurden.

Diese eingeschränkte Vernetzung der Neurone in den ersten Lebenstagen brachte langfristige kognitive Einbußen mit sich: Wenn neugeborene Mäuse zunächst zwei Wochen ohne Licht aufgezogen wurden und danach unter normalen Tag-Nacht-Bedingungen, zeigten sie im Alter von zwei Monaten gravierende Lerndefizite. Die Ergebnisse verleiten zu der Spekulation, dass genügend Licht auch bei menschlichen Säuglingen für eine gesunde Hirnentwicklung entscheidend ist. Manuel Spitschan von der TU München hält es jedoch für voreilig, Ergebnisse aus Tierexperimenten eins zu eins auf unsere Spezies zu übertragen. »Wir sammeln momentan Effekte; wir sind aber noch meilenweit davon entfernt, genau zu verstehen, welche Mechanismen dabei im Gehirn ablaufen. Vor allem wissen wir nicht, wie stark die Wirkung von Licht tatsächlich ist.« In Laborstudien würden die Bedingungen mit Absicht so gewählt, dass die Effekte besonders deutlich hervorträten. »Im wirklichen Leben sind sie sicher kleiner.«

»Wer täglich eine Schachtel Zigaretten raucht, fünf Bier trinkt und sich dazu noch ungesund ernährt, dem dürfte selbst eine 1000-Lux-Tageslichtlampe wenig helfen«Manuel Spitschan, Chronobiologe

Dennoch glaubt er, dass die Bedeutung von Licht lange unterschätzt wurde – sei es für einen gesunden Schlaf-wach-Rhythmus, für ein korrektes Timing der physiologischen Prozesse im Körper oder für die Kognition. Licht könne sicher zu einer besseren geistigen Fitness beitragen, aber eben nur als ein Faktor unter vielen: »Wer täglich eine Schachtel Zigaretten raucht, fünf Bier trinkt und sich dazu noch ungesund ernährt, dem dürfte selbst die 1000-Lux-Tageslichtlampe am Arbeitsplatz vermutlich wenig helfen.«

»Licht ist wichtig, aber sicher nicht alles«, meint auch Christian Cajochen, Leiter des Zentrums für Chronobiologie an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Er rät zu einer Art Lichthygiene: Drei bis vier Stunden vor dem Zubettgehen keine zu hohen Lichtdosen, insbesondere von Blaulicht. Morgens dagegen möglichst schnell die Sonne suchen – beispielsweise auf dem Weg zur Arbeit eine Station früher aus dem Bus steigen und den Rest zu Fuß gehen. Und natürlich regelmäßige Pausen im Tageslicht machen. Kurz: am Tag Licht tanken und in der Nacht Licht vermeiden. »Vielen dürfte das nicht neu sein.«

Einen Punkt hat Cajochen dann allerdings doch noch, der wohl nicht allen geläufig ist. Er hat vor einiger Zeit zusammen mit Kollegen und Kolleginnen eine Studie zum Grauen Star durchgeführt. Bei dieser Erkrankung wird die Linse eines oder beider Augen trüb. Häufig tauscht man bei den Betroffenen die matte Linse gegen ein Pendant aus Kunststoff aus. Medizinerinnen und Mediziner raten dabei oft zu Varianten, die blaues Licht blockieren. »Zumindest in der Schweiz wird dieses Modell oft als wirksamer Schutz vor Makuladegeneration angepriesen, obwohl es dafür keine wissenschaftlichen Belege gibt – es ist einfach ein gutes Geschäft«, sagt er. »Wir haben aber gezeigt, dass diese ›blue blockers‹ sowohl den Tiefschlaf als auch die kognitive Leistung beeinträchtigen. Aus chronobiologischer Sicht würde ich also ganz klar zu normalen Linsen raten, die lediglich UV abhalten.«

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  • Quellen

Aranda, M. L., Schmidt, T. M.: Diversity of intrinsically photosensitive retinal ganglion cells: Circuits and functions. Cellular and Molecular Life Sciences 78, 2021

Mahoney, H. L., Schmidt, T. M.: The cognitive impact of light: Illuminating ipRGC circuit mechanisms. Nature Reviews Neuroscience 25, 2024

Mure, L. S.: Intrinsically photosensitive retinal ganglion cells of the human retina. Frontiers in Neurology 12, 2021

Riemersma-van der Lek, R. F. et al.: Effect of bright light and melatonin on cognitive and noncognitive function in elderly residents of group care facilities: a randomized controlled trial. JAMA 299, 2008

Soler, J. E. et al.: Light modulates hippocampal function and spatial learning in a diurnal rodent species: A study using male nile grass rat (Arvicanthis niloticus). Hippocampus 28, 2017

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