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Kognitive Reserve: Ein Puffer gegen Alzheimer

Das Gehirn mancher Menschen arbeitet selbst dann noch normal, wenn es bereits mit alzheimertypischen Ablagerungen übersät ist. Dahinter steckt ein Phänomen, das Forscher als kognitive Reserve bezeichnen. Was stärkt den unsichtbaren Schutzwall?
Seitenansicht eines diffus leuchtenden Gehirns unter einer Glaskuppel
Dinge wie Bildung, Bewegung und ausreichend Schlaf sind offenbar wie eine Schutzschicht für das Gehirn.

Früher habe ich nicht groß über Demenz nachgedacht. Doch als meine Mutter davon betroffen war, beherrschte das Thema plötzlich meine Gedanken. Seltsamerweise fiel mir die Krankheit – in ihrem Fall Morbus Alzheimer – erst auf, als sie mich aus heiterem Himmel fragte, wann wir uns zum ersten Mal getroffen hätten.

Das Ausmaß ihres kognitiven Verfalls war mir sicher unter anderem deshalb lange verborgen geblieben, weil ich ihren Zustand verleugnet hatte. Zweifelsohne konnte sie aber auch die rasch voranschreitenden Hirnschäden kompensieren, indem ihr Gehirn geschickte Umwege um die Schlaglöcher nahm, die die Krankheit ihm zugefügt hatte. Derartiges war ihr schon einmal gelungen: Nach einem Schlaganfall vier Jahre zuvor hatte meine Mutter das Lesen verlernt und die Fähigkeit im Anschluss durch harte Arbeit wiedererlangt.

Warum konnte diese Anpassungsfähigkeit der Demenz nicht standhalten? Die Frage brachte mich dazu, über meine eigene Widerstandsfähigkeit nachzudenken. Gibt es etwas, was man dem kognitiven Verfall entgegensetzen kann?

»Viele meiner Kollegen machten sich darüber lustig. Dass etwas wie Bildung alzheimertypischen Ablagerungen entgegenwirken kann, erschien ihnen weit hergeholt«Yaakov Stern, Neuropsychologe

Bereits seit rund drei Jahrzehnten wissen Forscherinnen und Forscher, dass das Gehirn mancher Menschen auch dann noch nahezu normal arbeitet, wenn es von Plaques – bestimmten Eiweißablagerungen – und anderen Schäden stark betroffen ist, die mit einer Demenz einhergehen. Dahinter steckt ein Phänomen, das als kognitive Reserve bezeichnet wird. Obwohl immer mehr Studien darauf hindeuten, wie wichtig diese Reserve ist, ist bislang unklar, wie genau sie funktioniert. Allmählich beginnen Wissenschaftler aber, die zu Grunde liegenden Mechanismen besser zu verstehen. Das könnte nicht nur neue Behandlungsmöglichkeiten bei Demenzerkrankungen eröffnen, sondern Menschen auch dabei helfen, ihr Denkvermögen bis ins hohe Alter zu schützen.

Der unsichtbare Schutzwall des Gehirns

Das Konzept der kognitiven Reserve entstand um das Jahr 1994 herum. Der Neuropsychologe Yaakov Stern von der Columbia University in New York entdeckte mit seinem Team, dass Menschen mit einer höheren Bildung oder einem intellektuell anspruchsvolleren Job seltener an Alzheimer erkrankten. Die Gruppe stellte damals die Hypothese auf, dass zusätzliche Jahre intellektueller Anstrengung »eine Reserve schaffen, die das Auftreten der Symptome verzögert«. Zunächst wurde diese Idee nicht ernst genommen. »Viele meiner Kollegen machten sich darüber lustig«, erzählt Stern. »Dass etwas wie Bildung den alzheimertypischen Ablagerungen entgegenwirken kann, erschien ihnen weit hergeholt.«

Stern nannte das Phänomen »kognitive Reserve«, um es von einem verwandten Konzept, der »Gehirnreserve«, abzugrenzen. Diese hatte Robert Katzman, der damals an der University of California in San Diego tätig war, einige Jahre zuvor definiert. Der Neurologe untersuchte das Gehirn älterer Pflegeheimbewohner nach deren Tod und stellte bei manchen von ihnen außerordentlich viele Plaques fest. Solche Proteinablagerungen sammeln sich in der Regel im Verlauf einer Alzheimererkrankung zwischen den Nervenzellen an. Die betroffenen Personen hatten dennoch zu den geistig fittesten 20 Prozent der Pflegeheimbewohner gehört: Ihre kognitiven Fähigkeiten waren genauso gut oder sogar besser gewesen als die jener Bewohner, deren Gehirn keine krankhaften Veränderungen zeigte. In Katzmans Augen hing das damit zusammen, dass ihr Denkorgan auch größer und schwerer war und entsprechend über eine größere Anzahl an Neuronen verfügte – es gab also mehr »Gehirnreserve«, um die durch die Plaques verursachten Schäden zu kompensieren.

Stern vergleicht die kognitive Reserve mit der Software eines Computers: Sie ist etwas, was im Lauf des Lebens aufgerüstet werden kann. Die Gehirnreserve stellt hingegen gewissermaßen die Hardware dar.

Früher galt die Gehirnreserve als fixe Größe, doch diese Ansicht hat sich im Lauf der Zeit geändert. So gibt es inzwischen nicht nur Hinweise darauf, dass im Gehirn während des gesamten Lebens neue Neurone gebildet werden. Mittlerweile kennen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch zahlreiche Faktoren, die die Funktionsweise unserer »Hardware« beeinflussen können: Bestimmte Lebensstil- und Umweltfaktoren helfen dabei, das Gehirn in einem guten Zustand zu halten. Wahrscheinlich ist es eine Kombination aus solchen Instandhaltungsmaßnahmen, der Gehirnreserve und der kognitiven Reserve, die manchen Menschen dabei hilft, bis ins hohe Alter hinein mehr von ihrer geistigen Leistungsfähigkeit zu bewahren.

Was den Puffer vergrößert

Die schützende Wirkung der kognitiven Reserve belegen mittlerweile mehrere Studien. Für eine Untersuchung aus dem Jahr 2020 begleiteten Forscher beispielsweise mehr als 12 000 Menschen, die zu Beginn mindestens 50 Jahre waren. Wie sich herausstellte, trugen viele Aspekte zu einer größeren kognitiven Reserve und damit zu einem geringeren Demenzrisiko bei, erklärt die Demenzexpertin Dorina Cadar von der Brighton and Sussex Medical School in Großbritannien, die an der Auswertung der Daten beteiligt war. Dazu zählten unter anderem Bildung, Beruf, Freizeitgestaltung und soziales Engagement.

Bislang ist es nicht gelungen, die kognitive Reserve mit Hirnscans sichtbar zu machen oder sie direkt zu messen – obgleich Stern bestimmte Netzwerke identifizierte, die an ihrem Aufbau beteiligt sein könnten. Um abzuschätzen, wie groß der geistige Puffer bei einer einzelnen Person ist, greifen Fachleute deshalb zum Beispiel auf kognitive Leistungstests zurück. Mit Hilfe solcher und weiterer Indikatoren haben sie inzwischen einige Faktoren ausfindig gemacht, die die kognitive Reserve offenbar beeinflussen.

Manche davon sind glücksabhängig. So bestimmen unsere Gene etwa maßgeblich mit, wie hoch unser IQ ist, und ein hoher IQ geht wiederum mit einer größeren kognitiven Reserve einher. Es gibt aber auch Stellschrauben, an denen wir selbst drehen können. Wer beispielsweise ab der Lebensmitte ein reges Sozialleben pflegt, könnte im Alter eine bessere geistige Leistungsfähigkeit und ein um bis zu 50 Prozent geringeres Demenzrisiko haben.

Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen, ist mental herausfordernd: Man muss sich Gesichter, Namen und ihren Kontext merken, einen Austausch am Laufen halten, Fragen stellen, Humor einsetzen und auf Signale des Gegenübers achten. »Da passiert vieles auf einmal«, erklärt der Psychiater Andrew Sommerlad vom University College London. Das beansprucht das Gehirn, hat gleichzeitig aber auch eine stresslindernde Wirkung.

Stress, Übergewicht und eine unausgewogene Ernährung können sich hingegen negativ auf die Reserve auswirken, da sie entzündliche Vorgänge im Gehirn fördern und so seine Arbeitsweise beeinträchtigen. »Es kann die Glukose nicht effektiv verwerten, die Nervenaktivität gerät durcheinander«, sagt Craig Ritchie, Geschäftsführer und Gründer von Scottish Brain Sciences, einer privaten Forschungseinrichtung. Dadurch verstärken sich die Auswirkungen des »Inflammagings«: So bezeichnen Fachleute stille, chronische Entzündungen, die mit steigendem Alter unweigerlich zunehmen.

Erholsamer Schlaf ist eine weitere Möglichkeit, seine kognitive Reserve zu stärken. Eine 2023 von einem Team um Matthew Walker von der University of California in Berkeley veröffentlichte Studie legt nahe, dass es dabei vor allem auf eine Schlafphase ankommt: den Non-REM-Schlaf (NREM), in dem kaum schnelle Augenbewegungen auftreten. Vielleicht, weil er entscheidend für die Bildung dauerhafter Erinnerungen ist und weil während dieser Phase Giftstoffe aus dem Gehirn entfernt werden, die die normale Funktion stören würden.

Ähnlich verhält es sich mit körperlicher Aktivität. Im Jahr 2020 untersuchte eine Arbeitsgruppe um Susan Carlson von den Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta knapp 130 000 Erwachsene in den USA. Körperlich inaktive Personen, so stellte sie fest, berichteten fast doppelt so häufig von kognitiven Einbußen wie aktive Teilnehmer. Bewegung tut dem Gehirn – ähnlich wie sozialer Austausch – auf diverse Arten gut. Sie fördert die Herz-Kreislauf-Gesundheit sowie die Durchblutung, reduziert Entzündungen und erhöht die Konzentration des neuronalen Wachstumsfaktors BDNF. Dieser vergrößert nachweislich den Hippocampus, der eine wichtige Rolle bei Gedächtnisprozessen spielt. Körperliche Betätigung hilft dem Gedächtnis zudem auch deshalb auf die Sprünge, weil sie den Tiefschlaf fördert.

Ein Sprachkurs hilft – ist aber kein Muss

Wenig überraschend beeinflussen geistig anspruchsvolle Aktivitäten die Reserve. Wer etwa mehr als eine Sprache spricht, stimuliert sein Gehirn damit nachweislich stark. Und obwohl zweisprachig und einsprachig lebende Menschen letztlich gleich häufig an Alzheimer erkranken, »können Zweisprachige die Symptome oft länger hinauszögern«, erklärt der Psychologe John Grundy von der Iowa State University.

Um sich zu schützen, muss man allerdings nicht zwingend Französisch oder Italienisch pauken. Wichtig scheint vor allem zu sein, sich mental zu fordern – ganz gleich, womit. Das veranschaulicht unter anderem eine 2015 publizierte Untersuchung von Fachleuten um Denise Park von der University of Texas at Dallas. Mit Hilfe funktioneller MRT-Scans verglichen sie die Hirnaktivität von Personen im Alter von 60 bis 90 Jahren, und zwar bevor und nachdem diese sich 14 Wochen lang konzentriert mit dem Nähen von Steppdecken oder mit digitaler Fotografie beschäftigt hatten. Die neuronalen Netzwerke im Gehirn der Teilnehmer arbeiteten anschließend effizienter und ähnelten in ihrer Aktivität eher dem Gehirn jüngerer Menschen als Hirnnetzwerke von Kontrollpersonen, die sich keinem neuen Hobby gewidmet hatten. Der Effekt hielt mindestens ein Jahr lang an.

»Wer sein ganzes Leben lang liest und sich intellektuell und sozial betätigt, stimuliert seinen Geist ähnlich, wie Sport den Körper stärkt«Jeremy Herskowitz, Neurowissenschaftler

Andere Studien deuten ebenfalls darauf hin, dass engagiertes Lernen dazu beiträgt, das Hirnvolumen zu erhalten und die Gedächtniszentren am Schrumpfen zu hindern. Für eine Studie aus dem Jahr 2023, die ein Team um Clara James von der Haute école de musique de Genève durchführte, nahmen Menschen zwischen Anfang 60 und Ende 70 sechs Monate lang an einer Musikintervention teil, in deren Rahmen sie zum Beispiel lernten, Klavier zu spielen. Das Training verbesserte ihr Gedächtnis, und außerdem nahm sowohl die Neuroplastizität als auch das Volumen der grauen Substanz in ihrem Gehirn zu.

Der Begriff Neuroplastizität bezeichnet die angeborene Fähigkeit des Gehirns, sich neu zu organisieren, um Aufgaben möglichst gut bewältigen zu können. Je geübter man in einer Sache sei, desto effizienter könne man sie erledigen und desto feiner seien die neuronalen Netzwerke darauf abgestimmt, berichtet die Psychologin Pamela Almeida Meza vom University College London. Kognitiv anspruchsvolle Aufgaben stärken die Nervenbahnen, die für ihre Ausführung benötigt werden. Daneben entstehen alternative Wege, die einen Funktionsverlust verzögern können, wenn Nervenzellen im Verlauf von neurodegenerativen Erkrankungen absterben.

Lange habe man gedacht, Neuroplastizität sei ein Privileg der Jugend, erklärt Meza. »Aber in den vergangenen Jahren haben Untersuchungen gezeigt, dass im Erwachsenenalter und selbst im hohen Alter noch neue Nervenzellen entstehen. Nur nicht mehr im selben Maß.«

Training für die Synapsen

Was die Widerstandsfähigkeit des Gehirns gegen Demenzerkrankungen auf neuronaler Ebene ausmacht, wirft allerdings noch viele Fragen auf. Letztlich kommt es wahrscheinlich vor allem auf eine bestimmte Nervenzellstruktur an: die Synapsen, die Kontaktstellen zwischen einzelnen Neuronen.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass die Alzheimerkrankheit mit einem Verlust von Synapsen einhergeht: Die Dornenfortsätze auf den Dendriten von Neuronen, die es ihnen erlauben, sich mit anderen Nervenzellen zu verbinden, werden im Lauf der Erkrankung abgebaut. Ihre Dichte wirkt sich auf die Informationsverarbeitung, das Gedächtnis und das Lernen aus. Bei Menschen, deren kognitive Leistung im Normalbereich liegt, obwohl ihr Gehirn bereits alzheimertypische Ablagerungen aufweist, ist die Dichte der Dornenfortsätze meist unverändert. »Der Erhalt von Synapsen hängt stark mit der kognitiven Widerstandsfähigkeit gegenüber Morbus Alzheimer zusammen«, erklärt der Neurowissenschaftler Patricio Opazo von der University of Edinburgh. »Wie genau Synapsen bei betroffenen Personen erhalten bleiben, müssen wir aber noch herausfinden.«

Kurz erklärt: Synapsen

Synapsen sind die Kontaktstellen zwischen Nervenzellen. Hier findet die Übertragung eines chemischen oder elektrischen Signals auf eine andere Nerven- oder Zielzelle statt. Im Gehirn eines erwachsenen Menschen befinden sich rund 100 Billionen Synapsen, eine einzelne Nervenzelle verfügt über bis zu 10 000.

Kurz erklärt: Dornenfortsätze

Die Dornenfortsätze oder kurz Dornen – im Englischen: spines – sind kleine Ausstülpungen an den Dendriten von Nervenzellen, an die andere Neurone andocken können, um Signale weiterzuleiten. Dendriten sind jene Ausläufer von Nervenzellen, die hauptsächlich der Aufnahme von Reizen dienen. Inzwischen sind mehrere Arten von Dornenfortsätzen bekannt, die nach ihrer Form unterschieden werden. Dazu zählen die »dünnen Dornen« (»thin spines«), die einen schmalen, langen Hals und einen abgesenkten Kopf haben und vor allem für Lernvorgänge wichtig zu sein scheinen. Die »pilzförmigen Dornen« (»mushroom spines«) mit einem kurzen Hals und einem kugelförmigen Kopf sind wahrscheinlich für die Bildung des Langzeitgedächtnisses entscheidend.

Womöglich haben manche Menschen von vornherein einfach mehr Synapsen und sind deshalb besser vor Demenz geschützt. Der Neurowissenschaftler Jeremy Herskowitz von der University of Alabama im US-amerikanischen Birmingham vertritt jedoch eine andere Sichtweise. Er geht davon aus, dass die kognitive Widerstandsfähigkeit eher ein dynamischer Prozess ist: »Das Gehirn regeneriert sich aktiv. Wenn etwas Schlimmes passiert und sich zum Beispiel Alzheimer-Plaques anhäufen, baut es sich so um, dass es normal weiterarbeiten kann. Es geht nicht nur darum, wer die bessere Ausgangsbasis hat. Das Gehirn hat seinen eigene Bewältigungsstrategie.«

Neuere Untersuchungen liefern Hinweise darauf, wie dieser Regenerationsprozess funktioniert. Dornenfortsätze kommen in unterschiedlicher Gestalt vor: Die dünnen Formen sind vermutlich am plastischsten und ermöglichen es uns, Neues zu lernen. Stabiler sind hingegen die pilzförmigen Dornen, die wohl an der Bildung des Langzeitgedächtnisses beteiligt sind. Menschen mit alzheimerbedingten kognitiven Einschränkungen besitzen Studien zufolge vor allem weniger dünne Dornen im Vergleich zu Personen, die ebenfalls alzheimertypische Ablagerungen im Gehirn aufweisen, jedoch eine normale Gedächtnisleistung zeigen.

Weit verzweigt | Mit ihren verästelten Fortsätzen – den Dendriten – können Neurone Signale aufnehmen. Die kleinen Ausstülpungen – die Dornen – dienen dabei als Kontaktstellen für andere Nervenzellen. Das Bild zeigt die lichtmikroskopische Aufnahme einer Purkinjezelle, einer speziellen Art von Nervenzelle, die nachträglich eingefärbt wurde.

Außerdem scheinen Menschen, die besser gegen Demenz gefeit sind, längere Dornen zu haben. Inzwischen gebe es eine Menge Hinweise darauf, dass dieses Merkmal die Widerstandsfähigkeit gegenüber Alzheimer verbessere, erklärt Herskowitz.

Einer der Faktoren, die die Dichte und Länge der Dornen bei Menschen regulieren, ist Neuritin (NRN1). Das Protein wird in Neuronen hergestellt und ist überall im Gehirn zu finden. Studien zufolge scheint es Menschen resilienter gegen Alzheimer zu machen. Darauf deutet etwa eine Untersuchung mit katholischen Mönchen, Nonnen und Priestern im fortgeschrittenen Alter hin, die jährlich an kognitiven Tests teilnahmen und sich außerdem dazu bereit erklärten, nach dem Tod ihr Gehirn für Forschungszwecke zu spenden. Als Herskowitz und seine Kollegen 250 Personen aus der Studie untersuchten, stellten sie fest, dass höhere NRN1-Werte im Alter offenbar mit besseren kognitiven Fähigkeiten und einer höheren Dichte an Dornenfortsätzen einhergehen. »Dieses Protein scheint fast so etwas wie ein Vitamin für Neurone zu sein«, sagt er. Anfang 2023 identifizierten die Forscher außerdem ein weiteres Protein namens Twinfilin-2, das die Länge der Dornen beeinflusst.

Funk mich an! | Die Dornenfortsätze auf den Dendriten einer Purkinjezelle in Großaufnahme unter dem Lichtmikroskop.

Laut Fachleuten erhöhen Aktivitäten, die kognitive Prozesse im Gehirn ankurbeln, vermutlich den Spiegel von Proteinen wie NRN1, wodurch sich neue Synapsen bilden und bestehende erhalten bleiben. »Das funktioniert wahrscheinlich ähnlich wie bei Muskeln und körperlichem Training: Wer sein ganzes Leben lang liest und sich intellektuell und sozial betätigt, stimuliert seinen Geist ähnlich, wie Sport den Körper stärkt«, sagt Herskowitz. Wer sein Gehirn und seine Neurone nicht anrege, verliere seine Synapsen hingegen – auch ganz ohne Alzheimererkrankung.

Noch steckt die Forschung zur kognitiven Reserve in den Kinderschuhen. Doch es sei denkbar, dass Menschen eines Tages NRN1 als Nahrungsergänzungsmittel einnähmen, um ihre Hirnfunktion zu unterstützen, meint der Neurowissenschaftler. Solche vorbeugenden Maßnahmen könnten eine Alternative zu bisherigen Ansätzen darstellen, die sich hauptsächlich auf die Beseitigung von Plaques und fehlgefalteten Proteinen in den Nervenzellen konzentrieren.

Andere teilen Herskowitz’ Ansicht: »Anstatt uns auf die Beseitigung der Schäden oder deren Ursachen zu konzentrieren – was bislang, gelinde gesagt, ziemlich erfolglos verlaufen ist –, sollten wir die natürlichen Schutzmechanismen des Gehirns stärken: synaptische Kompensation, Reparatur und Regeneration«, sagt etwa Opazo.

Eine Schattenseite hat die kognitive Reserve allerdings. Sie scheint zwar das Einsetzen von geistigen Beeinträchtigungen zu verzögern. Treten dann aber doch die ersten Krankheitssymptome auf, bauen die Betroffenen im Anschluss oft schneller als andere ab, berichtet Stern. So erging es auch meiner Mutter, die sich bis zu ihrem Schlaganfall in einer exzellenten körperlichen Verfassung befand, Englisch und Französisch sprach und regelmäßig schwierige Kreuzworträtsel löste.

Ich selbst werde trotzdem versuchen, meine Reserve Tag für Tag ein wenig zu vergrößern – sei es durch Sport, soziale Kontakte oder indem ich Artikel wie diesen hier schreibe. Aber ich hoffe auch, dass die Forschung im Lauf der Zeit neue Wege aufdecken wird, den geistigen Puffer zu stärken.

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  • Quellen

Almeida-Meza, P. et al: Markers of cognitive reserve and dementia incidence in the English Longitudinal Study of Ageing. The British Journal of Psychiatry 218, 2021

Marie, D. et al.: Music interventions in 132 healthy older adults enhance cerebellar grey matter and auditory working memory, despite general brain atrophy. Neuroimage: Reports 3, 2023

Walker, C. K., Herskowit, J. H.: Dendritic Spines: Mediators of Cognitive Resilience in Aging and Alzheimer’s Disease. The Neuroscientist 27, 2020

Zavecz, Z. et al.: NREM sleep as a novel protective cognitive reserve factor in the face of Alzheimer's disease pathology. BMC Medicine 21, 2023

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