Konflikte unter Geschwistern: Meins!
Eltern kennen das: Die Kinder lachen und spielen fröhlich miteinander. Dann schlägt von einer Sekunde auf die nächste die Stimmung um. Es folgt Geschrei. »Mamaaa, Simon hat mich an den Haaren gezogen!«, brüllt die Tochter. »Aber nur, weil du mir das Auto weggenommen hast«, kontert ihr Bruder. »Gar nicht wahr, du hast es mir doch zuerst weggenommen!« Schon stehen die Eltern mitten in einem Konflikt, dessen Beginn sie nicht gesehen haben, der ihnen halb so wild erscheint und mit dem sie dennoch irgendwie umgehen müssen. Eine schwierige Situation, denn was die Erwachsenen tun, prägt den künftigen Umgang der Kinder mit Streit.
Ein mögliches Szenario: Die Eltern machen kurzen Prozess und bestrafen Simon. Es ist zwar unklar, wer den Konflikt ausgelöst hat. Aber jemanden an den Haaren zu ziehen – das geht nun wirklich nicht. Der Streit ist dann zwar beendet, doch Simon findet das sicher ungerecht. Mit seiner Schwester Lina will er dann wahrscheinlich erst einmal nicht mehr spielen. »Es ist ungünstig, wenn die Eltern als Problemlöser auftreten und die Situation auf ihre Weise beenden«, sagt Tanja Legenbauer, klinische Psychologin an der Ruhr-Universität Bochum. »Dann gibt es meist einen Gewinner und einen Verlierer. Gerade bei Geschwistern ist das eine schwierige Dynamik.« Kinder lernten außerdem selbstwirksamer, wenn sie allein zu einer Kompromisslösung kommen. Wäre es also besser, gar nicht einzuschreiten?
Theoretisch könnte es funktionieren: Simon erkennt, dass er seiner Schwester weh getan hat, und entschuldigt sich. Lina geht darauf ein und vergibt ihm. Sie spielen daraufhin abwechselnd mit dem Auto. Wahrscheinlicher ist es allerdings, dass der Konflikt eskaliert. Schließlich sind die Gemüter bereits erhitzt, beide sehen sich im Recht und niemand möchte nachgeben. Wenn Erwachsene nicht eingreifen, orientieren sich Mädchen und Jungen häufig aneinander: Reagiert ein Streitender trotzig und aggressiv, zieht der andere nach und sie schaukeln sich gegenseitig hoch. Macht ein Kind aber einen konstruktiven Vorschlag, ist die Chance groß, dass sich das andere darauf einlässt.
Interessanterweise gibt dabei nicht unbedingt das ältere Kind den Ton an. Das beobachtete ein Team um die Entwicklungspsychologin Jennifer Jenkins in einer Studie von 2022. Die Wissenschaftler von der University of Toronto besuchten über 200 Familien mit zwei Kindern zu Hause. Die jüngeren Geschwister waren zwischen 5 und 9, die älteren zwischen 7 und 13 Jahre alt. Jenkins bat die Mädchen und Jungen, einen kürzlich aufgetretenen Streit zu besprechen und ihn innerhalb von fünf Minuten zu lösen. Ob das gelang, spielte letztlich jedoch keine Rolle, denn es zählte nicht das Ergebnis. Vielmehr ging es darum, wie konstruktiv oder destruktiv sich die Kinder verhielten und wie sie aufeinander reagierten. Dabei fiel auf: Die Kontrahenten beeinflussten sich gegenseitig zu etwa gleichen Teilen. Mit einer Ausnahme: Bei einem größeren Altersunterschied beharrten die Älteren eher auf ihrer Meinung.
Den Eltern von Simon und Lina bleibt aber noch eine weitere Möglichkeit, um mit der Situation umzugehen. Anstatt Lösungen vorzuschreiben oder sich komplett aus dem Streit herauszuhalten, könnten sie moderieren und ihre Kinder dabei unterstützen, einen konstruktiven Weg durch Perspektivenwechsel zu finden. Dadurch kann ihr Nachwuchs eine Menge nützlicher Fähigkeiten erwerben. »Das Verständnis dafür, was ein gutes Argument ist, entwickelt sich ab dem späten Vorschulalter und differenziert sich dann weiter aus«, sagt Hannes Rakoczy, kognitiver Entwicklungspsychologe an der Universität Göttingen. »Die Kinder erkennen die verschiedenen Perspektiven in einer Situation immer besser und lernen, wie sie ihre Seite sinnvoll vertreten.«
Lösungen finden durch Empathie
Gleichzeitig verinnerlichen sie soziale Regeln, finden heraus, wie sie ihre Emotionen regulieren und anderen zuhören. Empathie spielt eine große Rolle: Ein Kind muss die Sichtweise der Schwester oder des Bruders nicht nur rein logisch nachvollziehen können, sondern auch emotional. Wie gut es sich in die Gefühlslage des Gegenübers hineinversetzen kann, steuert die Reaktionen im Streit, wie die Psychologinnen Holly Recchia und Nina Howe von der Concordia University im kanadischen Montreal herausfanden.
Die Psychologinnen befragten 58 Geschwisterpaare zu einem aktuellen Konflikt. Unter anderem ließen sie sich die Emotionen der Beteiligten beschreiben. Das Ergebnis: Die Kinder fanden seltener eine Lösung, wenn sie glaubten, wütender als ihr Bruder oder ihre Schwester zu sein. Verstanden sie hingegen, dass ihr Geschwister ebenso verärgert war, ließen sie sich eher auf einen Kompromiss ein. Auch wenn sie beim anderen Traurigkeit feststellten, bewegte sie das zum Einlenken.
Geschwisterkinder sind für die Entwicklung einer Streitkultur ideal
Welche Lösungswege streitende Kinder wählen, beschrieb die amerikanische Psychologin Shireen Abuhatoum in ihren Publikationen. 2020 legte sie vier wesentliche Strategien fest: (1) Belohnung, (2) Überreden, (3) Zwang durch Drohungen sowie (4) Rechtmäßigkeit, eine auf moralischen Prinzipien beruhende Strategie. Abuhatoum wollte verstehen, welche dieser Strategien Kinder besonders häufig anwenden. Dazu besuchten sie und ihre Kolleginnen 46 Geschwisterpaare in deren Zuhause und ließen sie 15 Minuten lang mit Spielzeug spielen. Später analysierten sie Videoaufnahmen der Interaktionen. Sie konzentrierten sich dabei auf Kinder, die entweder vier oder sieben Jahre alt waren. Die Auswertung zeigte: Physischer Zwang und moralische Argumente waren die bevorzugten Mittel. Die Älteren setzten dabei eher auf Informationen, diskutierten ihre Standpunkte also differenzierter. Schließlich können Siebenjährige bereits die Perspektive wechseln und besser argumentieren. »Damit beginnt die kognitiv anspruchsvolle Art zu streiten«, sagt Hannes Rakoczy. »Solange nur jeder etwas haben will, ohne den anderen zu verstehen, gibt es Gerangel. Das können wir auch bei Tieren beobachten. Dazu braucht es wenig kognitive Fähigkeiten.«
Geschwisterkinder sind für die Entwicklung einer Streitkultur ideal. Denn sie haben gegenüber Freunden einen großen Vorteil: Sie können die Beziehung nicht aufkündigen, zumindest nicht, solange sie bei den Eltern wohnen. Gibt ein Kind im Streit mit einem Freund nicht nach und versucht sich vielleicht gar mit Drohungen durchzusetzen, kann die Freundschaft daran zerbrechen. »Geschwister müssen jedoch miteinander auskommen und gleichzeitig um die Ressourcen in der Familie konkurrieren – um Aufmerksamkeit, Geschenke, das größere Zimmer«, sagt Tanja Legenbauer. »Das ist ein Übungsfeld für das gesamte soziale Leben.«
Explosive Emotionen
Dass Kinder mit Geschwistern anders streiten als mit ihren Freundinnen und Freunden, legt die Untersuchung von Shireen Abuhatoum nahe. Sie beobachtete die 46 Kinder aus ihrer Untersuchung auch bei Interaktionen mit gleichaltrigen und gut bekannten Spielkameraden. Hier nutzten die Streitenden seltener physischen Zwang. Stattdessen setzten sie von Anfang an mehr auf Erklärungen. Diese Beobachtung passt zu früheren Studien, die zeigten, dass Jungen und Mädchen ihren Geschwistern eher auch mal Schmerzen zufügen und häufiger in Kauf nehmen, die Beziehung zumindest vorübergehend zu beschädigen. Auch kochen die Gefühle im Geschwisterstreit häufiger hoch als zwischen Freunden.
Vor allem in den ersten Lebensjahren dreht sich der Streit oft um Besitz. Das beginnt mit dem einfachen »Meine Schaufel!« im Sandkasten, was Hannes Rakoczy als »kognitiv anspruchslosen« Streit bezeichnet. Werden die Kinder älter, geht es bei Freunden häufig um andere Dinge: Wer darf mitspielen? Wie sind die Spielregeln? Wer hat Recht? Allerdings zanken Brüder und Schwestern auch später noch häufig um Ressourcen: Sie müssen sich behaupten und ihre Rolle in der Familie verteidigen. »Während der Pubertät ist das besonders kompliziert«, sagt Tanja Legenbauer. »Da sind die Heranwachsenden ohnehin überflutet mit Gefühlen, die es erschweren, anderen zuzuhören.« Gerade dann seien die Jugendlichen auf eine sinnvolle Unterstützung bei Konflikten angewiesen.
Interessiert und herzlich
Um soziales Miteinander zu üben, bedarf es einer gesunden Streitkultur in der Familie. Und die wiederum hängt vom Erziehungsstil ab. In einer Metaanalyse nahmen Mohd Nazri Abdul Rahman von der Universität von Malaya in Malaysia und seine Kollegin Cong Liu im Jahr 2022 verschiedene Stile unter die Lupe. Am besten schnitt dabei die so genannte autoritative Erziehung ab. Darunter versteht man interessiert herzliche und zugewandte Eltern, die gleichzeitig klare Regeln und Strukturen bieten. Gelingt das, streiten Geschwister weniger. Dagegen verlangen autoritäre Eltern von ihren Kindern Gehorsam und stellen harte Regeln auf, geben ihnen aber kaum Wärme und gehen selten auf ihre Bedürfnisse ein. Dieser Erziehungsstil sorgt für mehr Streit zwischen Geschwistern. Das ist auch der Fall bei permissiven Eltern. Solche verhalten sich zugewandt und warm, haben jedoch keine klaren Regeln.
»Auch aus ungünstigen Erziehungsstilen lernen die Kinder etwas, aber nicht gerade eine gute Streitkultur«, sagt Hannes Rakoczy. »Wenn die Eltern es beispielsweise tolerieren, dass sich immer die physisch Stärkeren durchsetzen, nehmen ihre Söhne und Töchter daraus andere Erfahrungen mit als in einem herrschaftsfreien Diskurs, wo es um die Koordination von Interessen geht.« Zugewandte Eltern können die kognitiven Fähigkeiten der Kinder fördern: »Je mehr sie über die mentalen Perspektiven anderer sprechen, desto schneller entwickelt ihr Nachwuchs diese Fähigkeiten.«
Streitschlichter »Keepon«
Kann beim Streit zwischen Jungen und Mädchen statt eines Erwachsenen womöglich auch ein Roboter intervenieren? Diese Frage stellten sich die Entwicklungspsychologin Solace Shen, die damals an der Cornell University in New York forschte, der Informationswissenschaftler Malte Jung (Cornell University) und Petr Slovak vom King's College London. Das Trio entwickelte einen kleinen gelben Roboter mit Kulleraugen und Knopfnase. Sie nannten ihn Keepon. Dann ließen sie 32 Paare von Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren unter Keepons Aufsicht für 50 Minuten miteinander spielen.
Der Roboter stellte sich zunächst vor, fragte die Kinder nach ihrer Lieblingsfarbe und alberte ein wenig mit ihnen herum. Anschließend ging es um fünf verschiedene Spielzeuge: ein Lego-Duplo-Eiscreme-Set, Magnetspielzeug, ein Spielhaus, ein ferngesteuertes Auto und eine Geburtstagskarte mit Stiften und Aufklebern. Keepon schlug den Kindern eine Aktivität nach der anderen vor. Wenn es Zeit fürs nächste Spiel war, gab er ein Geräusch von sich. Zwischendurch mischte sich Keepon immer wieder ein, machte den Kindern Komplimente und ermutigte sie.
Bei manchen Paaren griff Keepon ein, wenn sich ein Streit anbahnte: »Stopp. Ich sehe einen Konflikt aufkommen.« Keepon benannte daraufhin das Problem und fragte die Kinder, ob sie eine hilfreiche Lösung kennen. Klappte das nicht, schlug der Roboter ihnen etwas vor, zum Beispiel: »Könntet ihr vielleicht nacheinander mit dem Spielzeug spielen?« Erfolgreiche Konfliktlösungen kommentierte Keepon mit Begeisterung. Kamen die Kinder zu keinem Ergebnis, lenkte Keepon ihre Aufmerksamkeit ganz einfach in eine andere Richtung.
Das Experiment funktionierte gut: Mit der Unterstützung des Roboters lösten die Kinder Streit häufiger konstruktiv. In einigen Fällen musste Keepon überhaupt nicht intervenieren.
Die Wissenschaftler vermuten, dass die Jungen und Mädchen den Roboter als Autorität ansahen und sich deshalb unterm Strich »anständiger« verhielten. Shen und ihre Kollegen schlagen vor, das Konzept eines »Roboter-Streitschlichters« weiterzuentwickeln. Keepon könne Kindern zum Beispiel helfen, ihre zwischenmenschlichen Fähigkeiten auszubauen. Eine Frage, die in der Publikation nicht auftaucht: Weshalb sollte ein Roboter überhaupt die Rolle der menschlichen Vorbilder übernehmen? So gut entwickelt Keepon auch sein mag – individuelle Gefühle und Eigenheiten der Kinder sowie spezielle Hintergründe im Streitfall lassen sich sicherlich nur schwer programmieren.
Shen, S. et al.: »Stop. I see a conflict happening.« A robot mediator for young children's interpersonal conflict resolution. 13th ACM/IEEE International Conference on Human-Robot Interaction (HRI), 2018
Kinder beobachten auch, wie ihre Eltern sich in Konflikten verhalten. »Unterstützen die Bezugspersonen ihre Argumente regelmäßig mit dem Knüppel, wird es den Söhnen und Töchtern ebenfalls schwerfallen, mit guten Argumenten zu streiten«, so Rakoczy. Väter und Mütter sind Vorbilder, die ihr Nachwuchs nachahmt. Braust die Mutter von Simon und Lina bei Konflikten mit anderen Erwachsenen sofort auf, reagieren die Kinder im Streit vermutlich ähnlich. Sehen sie jedoch, wie ihre Eltern ihren Standpunkt ruhig und nachvollziehbar verteidigen, sind sie eher dazu bereit, ihre Gedanken zu reflektieren und zu erklären.
Jungen sind eher aggressiv
Kinder sind aber kein unbeschriebenes Blatt, auf das Eltern alle ihre eigenen Verhaltensmuster projizieren. Die Charaktereigenschaften der beteiligten Individuen spielen in Streitsituationen ebenfalls eine Rolle und bestimmen das Verhältnis zwischen den Geschwistern mit. Jennifer Jenkins fasste 2022 die Ergebnisse verschiedener Studien zusammen, die sich mit geschlechtsspezifischen Unterschieden beschäftigten. Demnach verhalten sich Mädchen häufig wärmer ihren Geschwistern gegenüber, während Jungen eher zu Aggressionen neigen. Die meisten Konflikte gibt es zwischen zwei Jungen, am besten kommen Mädchenpaare miteinander aus.
Daneben beeinflussen individuelle Eigenschaften wie Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus – bekannt als die »Big Five« – den Umgang zwischen Geschwistern. »Gibt es viel Streit, kann das daran liegen, dass sie vom Charakter schlicht nicht zusammenpassen«, sagt Tanja Legenbauer. Ob man nun verwandt sei oder nicht, manche Menschen könnten sich einfach nicht leiden. Das gilt auch für den Umgang der Eltern mit den Kindern: »Wenn ein Vater sehr regelorientiert ist, wird er nicht so gut mit einem sehr temperamentvollen, impulsiven Kind zurechtkommen.« Passe man nicht zusammen, käme man viel schneller an seine Grenzen.
Manche Kinder werden eher aggressiv als andere. Das könne daran liegen, dass sie noch zu jung sind, um das Konzept »Streit« zu verstehen, erklärt Hannes Rakoczy. »Oft verstehen sie es allerdings sehr wohl, fallen aber zurück auf einfachere, weniger ausgefeilte Muster.« Das sei eine Frage der Handlungssteuerung und Inhibition und zudem situativ bedingt: »Das kennen wir als Erwachsene auch. An manchen Tagen sind wir emotional angespannter und streiten deshalb weniger kompetent. Warum sollte es Kindern anders gehen?«
Streit ist gesund
Streit ist zunächst einmal etwas ganz Normales. Eskalieren die Streitigkeiten und Aggressionen unter Geschwistern allerdings häufig, kann das die psychische Gesundheit und das Sozialverhalten der Kinder langfristig beeinträchtigen. Zu wenig Streit ist aber auch nicht gut. In einer Befragung von 59 Viertklässlern und 47 Achtklässlern wollten US-amerikanische Forscher um Durell Johnson von der Pennsylvania State University wissen, wie sich Konfliktvermeidung anfühlte. Sie stellten den Kindern offene Fragen wie »Mit wem streitest du?« oder »Welche Themen vermeidest du?«. Zusätzlich bestimmten sie deren Einsamkeit und soziale Ängste.
Dabei kam heraus, dass sich die Kinder besonders einsam fühlten, wenn sie Konflikte vermieden. Ebenso entstanden soziale Ängste, wenn die Mädchen und Jungen Streitereien nicht austrugen – jedoch nur, wenn sie es aus Furcht vor Bestrafung taten, also um ihr emotionales oder physisches Wohlergehen fürchteten. »Streit bedeutet, für die eigenen Interessen einzutreten«, sagt Tanja Legenbauer. »Wer das nicht tut, hat möglicherweise Ängste, damit die Beziehung zu beschädigen. Eine gesunde und sichere Bindung zu Eltern und Geschwistern ist deshalb eine wichtige Voraussetzung. Die Erfahrung, trotz Auseinandersetzungen geliebt zu werden, trägt auf jeden Fall zur Ausbildung sicherer Bindungserfahrungen bei.«
Nicht jede Familie benötigt Streitregeln oder einen Familienrat
Demnach ist es wichtig, einen Mittelweg zu finden zwischen zu viel Streit und kompletter Vermeidung. Keine leichte Aufgabe für Eltern und andere Bezugspersonen. Legenbauer erklärt, wie es klappen kann: »Vor allem, wenn es häufig zu Konflikten kommt, sind Streitregeln hilfreich.« Dazu gehöre etwa, dass jede beteiligte Person ausreden darf. Oder dass ein Streit unterbrochen wird, wenn er sich zu sehr aufheizt, damit sich alle erst einmal beruhigen. Danach könne man das Problem meist konstruktiver lösen. »Die Familie kann sich beispielsweise zusammensetzen, die Regeln besprechen und festlegen, wie lange sie es ausprobieren möchte«, sagt die Psychologin. »Nach einer Weile gibt es dann ein Reflexionsgespräch, um zu sehen, was gut funktioniert und wo man nachjustieren muss.« So ließe sich verhindern, dass Streitereien in Verletzungen, Abwertungen, Demütigungen oder Gemeinheiten münden. Eine wichtige Voraussetzung: Die Streitregeln gelten für alle Familienmitglieder, nicht nur für die Kinder.
Die Mutter von Lina und Simon könnte die beiden bitten, das Auto erst einmal wegzulegen und tief durchzuatmen. Dann erinnert sie die Geschwister an vorher festgelegte Regeln: Beide dürfen ihre Sichtweise des Konflikts erzählen. Aber natürlich will jeder zuerst dran sein. Also holt die Mutter einen Würfel, der entscheidet. Lina darf bei einer geraden Zahl anfangen, Simon bei einer ungeraden. Beide akzeptieren die Entscheidung des Würfels als fair und bindend, das haben sie im Familienrat so besprochen. Sie hören sich gegenseitig zu und können sich mit ein wenig Abstand zu der ursprünglichen Wut besser ineinander hineinversetzen. Simon schlägt vor, dass er dieses Auto nimmt, er Lina dafür jedoch ein anderes gibt, das sie sonst nie haben darf. Dann will er ein Wettrennen veranstalten. Lina ist einverstanden und sie legen sofort los.
Kinder dürfen auch mal beleidigt sein
So einfach und harmonisch wird es auch mit Streitregeln nicht jedes Mal ablaufen. Vielleicht stapft eines der Kinder beleidigt davon und möchte erst einmal niemanden sehen. Gerade bei Geschwistern kann ein Streit manchmal sogar ungeklärt bleiben. Wenn Lina und Simon eine Weile getrennt voneinander spielen, haben sie den Konflikt möglicherweise einfach vergessen. Oder er ist nicht mehr wichtig, weil die Kinder nun etwas ganz anderes machen möchten. Nicht jede Familie benötigt Streitregeln oder einen Familienrat. »Solange Konflikte ohne Aggressionen ausgetragen und Lösungen gefunden werden, funktioniert das soziale Lernen«, sagt Legenbauer.
Teils können Kinder auch untereinander Regeln vereinbaren. Der Erziehungswissenschaftler Sebastian Grüneisen von der Universität Leipzig beobachtete gemeinsam mit dem Anthropologen Michael Tomasello von der Duke University in North Carolina, wie Kinder mit unterschiedlichen Motiven bei einem Spiel zusammenarbeiteten. Die Spielregeln und den grundsätzlichen Ablauf durften sie sich selbst überlegen. Das funktionierte bei Achtjährigen gut: Auf Grund der eigenen Regeln spielten sie effizient und stritten wenig. Fünfjährige Kinder waren jedoch noch zu jung, um das Spiel mit eigenen Ideen zu verändern.
Stoßen Familien an ihre Grenzen und finden sie trotz Regeln und Bemühungen keinen konstruktiven Umgang miteinander, sollten sie sich Hilfe holen, rät Tanja Legenbauer. Dafür gibt es Beratungsstellen und Familientherapeuten. »Manchmal merken Eltern gar nicht, dass sie sich einem Kind stärker verbunden fühlen, weil es ihnen ähnlicher ist.« Die Kinder hingegen spürten das schnell, was sich in ihrem Verhalten widerspiegelte. Eine neutrale Person könne blinde Flecken im Umgang miteinander identifizieren.
Zuletzt noch eine gute Nachricht für Einzelkinder: Auch ohne Geschwister lernt man, sich in andere hineinzuversetzen und angemessen miteinander umzugehen. »Die Kinder brauchen im Durchschnitt etwas länger für die Entwicklung, holen aber früher oder später auf«, sagt Hannes Rakoczy. »Sie schleppen nicht ihr Leben lang ein Defizit mit sich herum, nur weil sie keine Geschwister zum Streitenüben haben.«
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