Konnektom: Erste Karte eines Taufliegen-Gehirns ist komplett
Eine Taufliege mag nicht das klügste Lebewesen sein, dennoch lässt sich von seinem Gehirn eine Menge lernen. In einem jahrelangen Projekt hat ein internationales Team von Fachleuten nun die bislang detaillierteste Karte des Gehirns einer Drosophila erstellt. Das so genannte Konnektom, also das Schaltbild der Nervenzellen, umfasst annähernd 140 000 Neurone und mehr als 54,5 Millionen Synapsen.
»Das ist wirklich bedeutend«, sagt Clay Reid, Neurobiologe am Allen Institute for Brain Science in Seattle, Washington, der nicht direkt an der Studie beteiligt war. »Auf so etwas haben wir lange gewartet.«
Die Ergebnisse der Unternehmung wurden als Paket von neun Artikeln im Fachmagazin »Nature« veröffentlicht. Die Autoren gehören einem Forschungsverbund namens FlyWire an, der von den Neurowissenschaftlern Mala Murthy und Sebastian Seung von der Princeton University geleitet wird.
Laut Seung und Murthy dauerte es mehr als vier Jahre, die Karte von Drosophila melanogaster zu erstellen. Sie entstand auf Basis elektronenmikroskopischer Aufnahmen von hauchdünnen Gewebsschnitten. Diese setzten die Forscher mit Hilfe von künstlicher Intelligenz zu einer vollständigen 3-D-Karte des Gehirns zusammen.
Doch die automatischen Analysewerkzeuge sind nicht fehlerfrei, weshalb der Schaltplan in einem aufwändigen Prozess anschließend manuell überprüft werden musste. Die Wissenschaftler haben dazu auch auf die Mitarbeit von Freiwilligen gesetzt, so genannten Citizen Scientists. Insgesamt wurden so über drei Millionen manuelle Korrekturen durchgeführt, berichtet Gregory Jefferis, Neurowissenschaftler an der University of Cambridge. Viele dieser Arbeiten fanden 2020 während der Corona-Pandemie statt, als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ebenso wie ein Großteil der übrigen Bevölkerung nur von zu Hause aus arbeiten konnten.
Automatisierung – und enorm viel Handarbeit
Selbst damit war das Werk allerdings noch nicht vollbracht: Jede Nervenzelle musste nun einem von mehreren tausend unterschiedlichen Zelltypen zugeordnet werden. Jefferis vergleicht das Vorgehen mit der Auswertung von Satellitenbildern: KI kann zwar Seen oder Straßen erkennen, aber eine brauchbare Karte wird erst dann daraus, wenn Menschen daneben die richtigen Namen schreiben. Die Fachleute von FlyWire identifizierten 8453 verschiedene Neuronentypen – bekannt waren nicht einmal halb so viele. Die 4581 neuen Typen werfen laut Seung nun genügend Stoff für Nachfolgestudien auf: »Jeder dieser Zelltypen liefert seine eigene neue Fragestellung.«
Die Verbindungen zwischen den Nervenzellen überraschten das Team ebenfalls. So erhielten beispielsweise Neurone, die man zuvor als exklusiv einem bestimmten Sinnessystem zugehörig glaubte, auch Signale von anderen Sinnesorganen – wie dem Gehör oder dem Tastsinn. »Es ist erstaunlich, wie stark das Gehirn vernetzt ist«, sagt Murthy.
Die Daten des FlyWire-Projekts sind schon seit einigen Jahren verfügbar. Das hat Fachleuten bereits die Möglichkeit gegeben, mehr über das Gehirn und das Verhalten von Taufliegen zu erfahren. Einige ihrer Ergebnisse werden in der aktuellen »Nature«-Veröffentlichungsreihe mit vorgestellt.
Ein Fliegengehirn im Computer
Zum Beispiel geht es in einer davon um ein Computermodell des gesamten Taufliegen-Gehirns. Es enthält nicht nur alle Neurone, sondern zudem sämtliche Verbindungen zwischen den Zellen. Mit Hilfe dieses Modells lässt sich dann etwa testen, was geschieht, wenn man Neurone aktiviert, die auf süße oder bittere Geschmacksreize ansprechen. In ihrer Simulation konnten die Wissenschaftler nachvollziehen, wie sich die Erregung der Geschmacksrezeptoren über Signalketten im kompletten Gehirn der Fliege ausbreitete und schließlich bei den Bewegungsneuronen des Rüssels landete, dem Äquivalent zur Zunge bei Säugetieren. Bei einem süßen Reiz bereitete sich die simulierte Fliege auf das Fressen vor, bei einem bitteren wurde diese Reaktion unterdrückt. Um die Aussagekraft ihres Computermodells zu überprüfen, führten die Forscher das Experiment auch an echten Fliegen durch. Die Simulation stimmte in mehr als 90 Prozent der Fälle mit dem Verhalten der echten Fliegen überein.
In einer anderen Studie beschrieb ein Team zwei neuronale Schaltkreise, mit denen die Fliege beim Vorwärtslaufen stoppt. Ein Schaltkreis enthält zwei Neurone, die das »Lauf«-Signal aus dem Gehirn unterbrechen, sobald die Fliege stehen bleibt, um Nahrung aufzunehmen. Der andere Schaltkreis umfasst Nervenzellen im Körper der Fliege, die Widerstand in den Beingelenken erzeugen, wodurch die Fliege stillhalten kann, wenn sie sich putzt.
Auch ein Männchen wäre wünschenswert
Eine Einschränkung der neuen Karte ist, dass sie lediglich auf dem Nervensystem einer einzigen weiblichen Drosophila basiert. Zwar sind die Gehirne von Taufliegen untereinander ähnlich, aber nicht identisch. Bislang war das beste verfügbare Konnektom die Karte eines »Hemibrains« – eines Teils des Gehirns, der etwa 25 000 Neurone enthält. In einer der »Nature«-Veröffentlichungen vergleichen Forscher die neue Karte mit dem Hemibrain und finden einige auffällige Unterschiede. So hatte die FlyWire-Fliege fast doppelt so viele Neurone im Pilzkörper, der am Geruchssinn beteiligt ist, wie die Fliege aus dem Hemibrain-Projekt. Die Ursache dafür könnte im Nahrungsmangel liegen, unter dem die Hemibrain-Fliege während ihrer Entwicklung litt, erläutert Davi Bock von der University of Vermont in Burlington, der Teil dieser Arbeitsgruppe war.
Mit der Arbeit sei man noch lange nicht fertig, heißt es dementsprechend auch von den Mitgliedern des FlyWire-Konsortiums, man habe das Gehirn der Taufliege bisher nicht zur Gänze verstanden. Zumal es auf der neuen Hirnkarte weiterhin weiße Flecken gibt: Sie zeigt nur diejenigen Synapsen, die über chemische Neurotransmitter funktionieren. Die rein elektrischen Verbindungsstellen fehlen. Auch die chemische Kommunikation außerhalb der Synapsen ist nicht erfasst.
Und nicht zuletzt handelt es sich eben um die Karte des Gehirns eines Weibchens. Schön wäre es, eines Tages auch das Konnektom eines Fliegenmännchens zu haben, sagt Murthy. Dann ließen sich geschlechtsspezifische Verhaltensweisen untersuchen.
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