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News: Kontrolle von oben

Kleine Inseln in einem venezolanischen Stausee geben Antwort auf eine der großen Fragen in der Ökologie: Wer bestimmt, wie sich eine Lebensgemeinschaft in einem Ökosystem zusammensetzt? Die Pflanzen an der Basis der Nahrungspyramide? Oder die Räuber an der Spitze? Wie es aussieht, kommt die Kontrolle von oben.
Das Zusammenleben der verschiedenen Lebewesen in einem Ökosystem ist fein aufeinander abgestimmt: Pflanzen produzieren Biomasse, die Pflanzenfressern (Herbivoren) als Nahrung dient. Diese wiederum werden von Räubern vertilgt, und der Tod führt schließlich alle zusammen den Zersetzern (Destruenten) zu, die das organische Material abbauen und unter anderem als Nährstoffe wieder in den Kreislauf einschleusen.

Doch wer reguliert diese allgemeine Struktur? Hier treffen zwei grundlegend verschiedene Anschauungen aufeinander. Die eine Seite geht davon aus, dass die Primärproduktion – also vor allem die verfügbare pflanzliche Biomasse – bestimmt, wieviele Pflanzenfresser und – daraus abgeleitet – wieviele Räuber in dem System überleben können. Diese Nahrungspyramide wird also von unten (bottom-up) kontrolliert.

Die andere Seite stellt das Ganze auf den Kopf. Ihrer Ansicht nach ist die Zahl der Räuber in dem System ausschlaggebend: Indem sie die Herbivoren reduzieren, halten sie den Druck auf die Pflanzendecke in der Waage. Die Kontrolle erfolgt also von oben (top-down).

John Terborgh von der Duke University und seine Kollegen hatten nun die besondere Gelegenheit, diesen theoretischen Streit in der Praxis zu untersuchen. Im Rahmen des Staudammprojekts Lago Guri in Venezuela wurden 1986 weite Gebiete überschwemmt, und nur die Gipfel von Hügeln ragen nun noch als Inseln von 0,1 bis 150 Hektar Größe heraus. Innerhalb kürzester Zeit starben auf allen Landflecken die Top-Räuber aus – Jaguar, Puma, Harpyie, sie alle konnten in diesen kleinen Habitaten nicht überleben.

Ohne die Kontrolle von oben ging es jedoch drunter und drüber, denn der Bestand der Beutetiere explodierte: Die Häufigkeit von Vögeln verdoppelte sich, die Zahl an Echsen und Kapuzineraffen wuchs um den Faktor zehn und die von Brüllaffen sogar um den Faktor 30. Den Rekord halten Blattschneiderameisen, die ihre Individuenzahl verhundertfachten. Für die Pflanzendecke sind die Folgen verheerend. Obwohl die Tiere in der Not sogar auf andere, sonst gemiedene pflanzliche Nahrung ausweichen, sterben die Bäume auf den Inseln schneller aus als vor der Überflutung. Und auch der Nachwuchs hat kaum eine Chance, jeder winzige Keimling wird schnell Opfer einer hungrigen Schnauze. "Die Vegetation steht vor dem Kollaps", beschreibt Terborgh die Situation. Überleben werden nur Pflanzen, die sich vor Herbivoren entsprechend schützen können.

Doch auch die Kontrolle von unten ist noch da, indem sie an der Nachwuchsschraube dreht. So haben zwei Brüllaffenweibchen auf einer kleinen Insel deutlich weniger Jungtiere zur Welt gebracht als ihre Artgenossinnen auf einer größeren Insel.

Auch wenn die Ergebnisse sich nur auf einige kleine Inseln in einem venezolanischen Stausee beziehen, sind sie doch auch für unsere gemäßigten Breiten relevant. Denn wie Terborgh bemerkt, fehlen auch in unseren Wäldern die Top-Räuber wie Wolf, Luchs oder Adler. Dadurch ist der Bestand an Rot- und Niederwild nach Ansicht vieler Ökologen zu hoch, um eine natürliche Waldentwicklung zu gewährleisten.

  • Quellen
Science 294: 1923–1926 (2001)
Science 294: 1847–1848 (2001)

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