Landwirtschaft: Ackern gegen das Artensterben
Die Hoffnung liegt im Südosten von England: In der Nähe der Universitätsstadt Cambridge hat die Naturschutzorganisation Royal Society for the Protection of Birds (RSPB) im Jahr 2000 ein ungewöhnliches Stück Land gekauft. Es war kein artenreiches Tier- und Pflanzenparadies, wie es Naturschützer sonst gern unter ihre Fittiche nehmen. Sondern ein konventionell bewirtschafteter Ackerbaubetrieb, der vor allem Weizen und Raps produzierte. Kein wirklich attraktives Schnäppchen, so schien es. Doch mittlerweile ist diese Hope Farm zu einem auch international viel beachteten Vorzeigeprojekt für eine gelungene Verbindung von Landwirtschaft und Naturschutz geworden.
»Der Name der Farm steht für die Hoffnung, dass die biologische Vielfalt auch auf den Äckern eine Zukunft hat«, erklärt Derek Gruar vom Zentrum für Naturschutzforschung des RSPB. Das aber wäre eine wirklich gute Nachricht. Denn gerade aus den Agrarlandschaften Europas hatten Ökologen in den letzten Jahren wenig Erfreuliches zu berichten. Erst kürzlich dokumentierte ein Forscherteam aus Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien zum Beispiel einen drastischen Insektenschwund in 63 deutschen Schutzgebieten, zum dem die Landwirtschaft wahrscheinlich einiges beigetragen hat.
Ähnliche Hiobsbotschaften kommen auch aus anderen Regionen Europas. So beobachten britische Ornithologen seit Jahrzehnten, wie sich die Bestände von 19 typischen Vögeln der Agrarlandschaft entwickeln. Aus der Zu- oder Abnahme der einzelnen Arten lässt sich ein artenübergreifender Trend berechnen. Und dieser UK Farmland Bird Indicator verheißt nichts Gutes. Demnach sind die Bestände der Agrarvögel im Königreich seit 1970 um mehr als die Hälfte zurückgegangen (pdf). Ähnlich düster sieht es auch bei den Schmetterlingen dieser Lebensräume aus, deren Bestände seit 1976 um 41 Prozent geschrumpft sind.
Konventionell kann auch »gut« sein
Was aber lässt sich tun, um diesen Negativtrend zu stoppen? Und kann man ihn für einige Arten vielleicht sogar wieder umkehren? Genau diesen Fragen wollten die frischgebackenen Landbesitzer von der RSPB nachgehen. Dabei ging es ihnen ausdrücklich nicht darum, die gut 180 Hektar große Farm in einen Ökobetrieb zu verwandeln. Denn sie wollten nicht nur zum Vorbild für die wenigen Biobauern werden, die in Großbritannien gerade einmal drei Prozent der Felder, Wiesen und Weiden bewirtschaften. Vielmehr ging es ihnen darum, praktikable Ideen und Methoden für möglichst viele Betriebe zu entwickeln. Also produziert die Hope Farm auch heute noch konventionell – allerdings mit ein paar Neuerungen. »Wir wollten zeigen, dass man durch kleine Veränderungen viel für die Natur erreichen und trotzdem noch profitabel arbeiten kann«, sagt Derek Gruar.
Als die RSPB einen Landwirt aus der Umgebung mit der Bewirtschaftung der Flächen beauftragte, blieb es daher zunächst bei der herkömmlichen Fruchtfolge von zwei Jahren Weizen und einem Jahr Raps. Gesät wurde jeweils im Herbst, weil das zu verlässlicheren und profitableren Ernten führt als die Frühjahrseinsaat. Allerdings setzte die Farm nun auf eine andere Weizensorte, die resistent gegen die Orangerote Weizengallmücke ist. Gegen diesen Schädling, dessen Larven die Getreideähren befallen und die Körner verkümmern lassen, mussten nun also in der Brutzeit der Vögel keine Pestizide mehr eingesetzt werden.
Zudem ist im Jahr 2006 eine vierte Feldfrucht dazugekommen, so dass nun auf ein Jahr Weizen ein Jahr Raps, dann ein weiteres Jahr Weizen und schließlich ein Jahr Ackerbohnen folgt. Letztere fixieren nicht nur Stickstoff aus der Luft und sparen dadurch Dünger ein. Man kann sie auch sehr gut im Frühjahr säen, so dass sie erst später im Jahr eine üppige Pflanzendecke bilden. Solche Bedingungen kommen zum Beispiel dem Kiebitz zugute, der erst auf dem noch kahlen Boden der Bohnenfelder brüten und dann in der noch niedrigen Vegetation seine Jungen aufziehen kann. Tatsächlich verzeichnet die Hope Farm seit 2006 fast jedes Jahr besetzte Kiebitzreviere, im Jahr 2017 waren es immerhin zwei.
Wintergetreide wird zum Problem für Bodenbrüter
Auch für die speziellen Bedürfnisse anderer Bodenbrüter ist nun besser gesorgt. So haben Feldlerchen ebenfalls ein Problem mit dem im Herbst gesäten Wintergetreide, das ihnen im Frühjahr schon bald zu hoch und zu dicht wird. Für eine erfolgreiche Nahrungssuche sollten die Pflanzen möglichst nicht höher als 35 Zentimeter sein, bei der Brut nicht höher als 50 Zentimeter. Im Wintergetreide ist die Brutsaison für Feldlerchen daher spätestens Ende Mai vorbei. Das ist nach Einschätzung von Experten ein wichtiger Grund dafür, dass die Bestände dieser Art in Großbritannien seit den 1970er Jahren um mehr als die Hälfte geschrumpft sind. Und auch in vielen anderen Ländern einschließlich Deutschland sind diese einst häufigen Ackerbewohner auf dem Rückzug.
Allerdings können es sich viele Betriebe einfach nicht leisten, auf das weniger profitable Sommergetreide umzustellen. Also bleiben auf den Wintergetreidefeldern der Hope Farm kleine, vegetationsfreie Flächen als mögliche Brutplätze ausgespart. Schon zwei dieser vier mal vier Meter großen »Lerchenfenster« pro Hektar führten dazu, dass die dortigen Vögel 50 Prozent mehr Küken aufzogen als ihre Artgenossen in komplett bewachsenen Äckern. Und während bei der Übernahme durch die RSPB im Jahr 2000 noch 10 Lerchenpaare auf dem Farmgelände brüteten, waren es 2017 schon 35.
Auch für andere Vogelarten hat sich auf dem Hof einiges zum Positiven verändert. So haben sich Naturschützer und Vertragsfarmer das Land gemeinsam angesehen und entschieden, welche Flächen weiterhin der Produktion dienen sollten und welche sich besonders gut für Hecken und andere wertvolle Lebensräume eigneten. Letztere entstanden oft auf weniger ertragreichen oder schlecht zu bewirtschaftenden Standorten und wurden über staatliche Förderprogramme finanziert. Und auch über die richtige Größe und Pflege solcher Strukturen haben sich die Experten Gedanken gemacht. »Wir schneiden jedes Jahr zum Beispiel nur einen Teil unserer Hecken und dabei kommt jede nur alle drei Jahre an die Reihe«, erklärt Derek Gruar. Das lässt die Gehölze zum einen dichter wachsen, so dass sie mehr Schutz vor gefräßigen Nesträubern bieten. Zum anderen liefern sie so mehr Beeren als Futter für den Spätsommer, Herbst und Winter.
Rekorde für Vögel und Schmetterlinge
Andere Maßnahmen zielen ebenfalls darauf, den Tisch für Vögel reicher zu decken. So haben die Farmmanager das Netzwerk der Feldraine mit Hilfe staatlicher Fördermittel massiv ausgeweitet. Während früher die Nutzpflanzen oft bis direkt an den Rand des Ackers gesät wurden, sind die meisten Felder nun von einem sechs Meter breiten Saumen umgeben, auf dem Grasmischungen oder blütenreiche Nektarlieferanten wie Gewöhnlicher Hornklee, Flockenblumen, Wicken und Malven wachsen. Das soll im Frühjahr und Sommer für ein reicheres Insektenleben sorgen, von dem dann auch die hungrigen Küken der Feldvögel profitieren. Für die kalte Jahreszeit säen die Mitarbeiter zudem auf kleinen Flächen Pflanzen aus, die im Winter reichlich nahrhafte Körner liefern. Die speziellen Saatgutmischungen, die dabei zum Einsatz kommen, enthalten neben Getreide wie Gerste und Triticale auch Ölsaaten wie Ölrettich und Senf.
Wie aber regiert die Vogelwelt auf all diese Maßnahmen? Um das herauszufinden, führt Derek Gruar jedes Jahr zwischen Ende März und Anfang Juli acht Bestandsaufnahmen der gefiederten Farmbewohner durch. Bei jeder davon beginnt er eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang damit, jede Hecke und jeden Feldrain abzulaufen und alle Vogelaktivitäten vom Gesang über Warnrufe bis hin zum Nestbau zu notieren. Bis er die ganze Farm durch hat, ist er damit zwei Tage beschäftigt. Aus seinen Beobachtungen erstellt er eine Karte aller Vogelterritorien und berechnet die Bestandsentwicklung der verschiedenen Arten.
Besonders interessieren ihn dabei jene 19 Arten, die im UK Farmland Bird Indicator zusammengefasst sind. Und da haben er und seine Kollegen beeindruckende Erfolge vorzuweisen. So kamen bei der Übernahme der Farm nur 10 der 19 typischen Agrarvögel auf dem Gelände vor, inzwischen sind es 16. Sogar Arten wie das Rebhuhn, der Kiebitz und die Grauammer sind dazugekommen, obwohl sie in Großbritannien weiterhin massive Probleme haben. Fast alle Indexvögel, die schon im Jahr 2000 auf dem Gelände zu Hause waren, sind zudem deutlich häufiger geworden. Die Goldammern zum Beispiel haben im vergangenen Frühjahr und Sommer 34 statt der ursprünglich 14 Territorien besetzt. Entsprechend weist der Hope Farm Bird Index, den die Forscher für die Bestände auf ihrem Land berechnen, für 2017 einen neuen Rekordwert auf. Derzeit gibt es demnach 226 Prozent mehr Farmvögel als im Jahr 2000.
Viele Schmetterlingsarten kehren zurück
Ähnliche Erfolge können die RSPB-Mitarbeiter auch bei den Schmetterlingen verbuchen. Um deren Vielfalt zu erfassen, läuft Derek Gruar zwischen Anfang April und Ende September einmal pro Woche drei festgelegte Strecken auf dem Farmgelände ab und zählt alle Falter, die er im Abstand von 2,5 Metern rechts und links davon entdeckt. Jeden Sommer ist er auf diese Weise rund 150 Kilometer unterwegs. »In diesem Jahr ist die Schmetterlingssaison wegen des kühlen Frühjahrs zwar langsam angelaufen«, erinnert sich der Forscher. Zunächst ließen sich nur ein paar Tagpfauenaugen, Kleine Füchse und Zitronenfalter blicken.
Ab Ende Juni aber stiegen mit den Temperaturen auch die Falterzahlen rasant an. Derek Gruar fand zum Beispiel sehr viele Braune Waldvögel und Ochsenaugen. Und auch Arten wie der Kleine Sonnenröschen-Bläuling, der Hauhechel-Bläuling und das Schachbrett, die in den letzten 17 Jahren neu auf der Farm aufgetaucht sind, flatterten dieses Jahr in Rekordzahlen über das Gelände. Mit dem Blauen Eichen-Zipfelfalter ist 2017 sogar wieder eine neue Art dazugekommen. Ähnlich wie bei den Vögeln arbeiten die Forscher auch bei den Schmetterlingen mit einem farmweiten Index, der die Bestandsentwicklung von 24 typischen Arten der strukturreichen Agrarlandschaft nachzeichnet. Diesen Wert haben sie im Jahr 2001 zum ersten Mal berechnet. Und 2017 liegt er um 213 Prozent höher als damals.
»Auch auf konventionellen Höfen kann man für die Artenvielfalt eine ganze Menge erreichen«
Josef Settele
Für Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle ist das ein beeindruckendes Ergebnis. »Der Index zeigt auf der Farm eine viel positivere Entwicklung als in Großbritannien insgesamt«, konstatiert der Schmetterlingsexperte. Zwar sind die massiven Bestandseinbrüche früherer Jahrzehnte im Königreich offenbar vorbei. Derzeit bleiben die Populationen der Agrarfalter dort weitgehend stabil oder gehen nur noch leicht zurück. Von einer massiven Zunahme ist landesweit allerdings nichts zu sehen.
Zu dem positiven Trend auf der Hope Farm hat nach Einschätzung von Josef Settele vor allem das größere Blütenangebot beigetragen. Zudem können die Larven vieler Arten von den Hecken profitieren. Und auch die Reduktion des Pestizideinsatzes dürfte sich günstig ausgewirkt haben. »Auch auf konventionellen Höfen kann man für die Artenvielfalt also eine ganze Menge erreichen«, resümiert der Agrarökologe. Für ihn ist die Hope Farm ein wichtiges Beispiel, an dem sich das demonstrieren lässt. »Und es ist viel besser, wenn man solche Erfolge zeigen kann, statt nur theoretisch darüber zu reden.«
Konventionelle Landwirtschaft nicht verteufeln
Andreas von Lindeiner vom Landesbund für Vogelschutz (LBV) im bayerischen Hilpoltstein sieht das ähnlich. »Man sollte die konventionelle Landwirtschaft nicht prinzipiell verteufeln«, betont der Ornithologe. »Die Bewirtschaftung lässt sich durchaus auf die Bedürfnisse von Vogelarten abstimmen, die man erhalten will.« Das Problem sieht er allerdings darin, dass das bisher nicht im großen Stil passiert. Zwar gebe es dazu inzwischen etliche viel versprechende Ansätze und auch erfolgreiche Modellprojekte wie die Hope Farm. Doch um den Schwund auf Äckern und Wiesen wirklich zu stoppen, müsse man nicht einzelne Höfe, sondern ganze Landschaften naturverträglicher bewirtschaften. »Damit das gelingt, müssten die Förderprogramme auf EU-Ebene anders gestaltet werden«, meint der Experte. »Und zwar so, dass die Landwirte attraktive und konkurrenzfähige Förderprämien erhalten, wenn sie etwas zum Schutz der Artenvielfalt tun.«
Auch Derek Gruar und seine Kollegen vom RSPB blicken über die Grenzen ihrer eigenen Farm hinaus. »Wir glauben, dass man unsere Erfahrungen auch auf andere Regionen in Großbritannien und Europa übertragen kann«, sagt der Forscher. Allerdings müsse dann jeder Landwirtschaftszweig seine eigenen Maßnahmen entwickeln, um die Grundbedürfnisse von Tieren und Pflanzen zu erfüllen.
Wie das in Deutschland aussehen kann, untersucht seit Anfang 2017 ein Projekt namens F.R.A.N.Z. (»Für Ressourcen, Agrarwirtschaft & Naturschutz mit Zukunft«), das von der Michael Otto Stiftung für Umweltschutz und vom Deutschen Bauernverband koordiniert wird. Wissenschaftlich begleitet von den Thünen-Instituten für Betriebswirtschaft, Biodiversität und Ländliche Räume sowie der Universität Göttingen und dem Michael-Otto-Institut im Naturschutzbund Deutschland (NABU) sollen bundesweit in zehn Demonstrationsbetrieben effektive Naturschutzmaßnahmen umgesetzt werden – mit zum Teil ganz ähnlichen Ansätzen wie auf der Hope Farm. Die Hoffnung liegt eben nicht nur in England.
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