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Anthropologie: Kopfsache

Ahnenforschung ist ein schwieriges Feld - erst recht, wenn es sich um die steinzeitlichen Wurzeln der modernen Europäer handelt. Sind wir in unserem tiefsten Inneren nun Nachfahren von Jägern, Bauern oder doch von beiden? Eine neue Ahnentafel gibt Auskunft.
Steinzeitschädel
Stammbaumforscher aus Leidenschaft können ein Lied davon singen: Vor der Einführung des modernen Beamtentums um den Beginn des 17. Jahrhunderts in Preußen und andernorts führten nur die Kirchen einigermaßen Buch über die Geburten, Hochzeiten und Sterbefälle ihrer Gemeinden und Bistümer. Wer also Bescheid wissen will über seine familiären Wurzeln, muss sich durch teils kaum leserliche Aufzeichnungen wühlen und mitunter von Kirchensprengel zu Kirchenarchiv reisen, um die Lücken in den Reihen seiner Vorfahren zu schließen.

Vielen Privathistorikern gelingt es immerhin, ihre Familiengeschichte bis zum Dreißigjährigen Krieg zu rekonstruieren. Dann reißt der Faden aber meist ab: Die damaligen Umbrüche und Verheerungen vernichteten viele Aufzeichnungen. Doch selbst wenn engagierte Chronisten in Einzelfällen über diese Epoche hinaus ins tiefere Mittelalter vorstoßen, so verliert sich die Spur der Ahnen irgendwann im Rauschen der Geschichte.

Fast noch schwieriger als diese Hürde für Amateure ist für Anthropologieprofis überhaupt die Stunde Null der "modernen" Europäer zu finden. Stammen wir nun von einheimischen Jägern und Sammlern ab? Oder liegen unsere Wurzeln eher in den bäuerlichen Kulturen des Vorderen Orients, die sich auch hierzulande durchsetzten? Oder sind wir gar ein genetisches Mischprodukt aus beiden Volksgruppen? Es gibt zur Entwicklungsgeschichte der Europäer fast so viele Theorien wie Gelehrte, denn auch die archäologischen und genetischen Funde zeigen kein eindeutiges Bild.

Erst vor kurzem etwa gaben Forscher um Wolfgang Haak von der Universität Mainz bekannt, dass die vor drei- bis fünftausend Jahren in der Jungsteinzeit einwandernden Bauernvölker aus dem Nahen Osten praktisch keine Spuren im Erbgut der Europäer hinterlassen hätten – die modernen Briten, Deutschen, Spanier oder Skandinavier wären also alle in ihrem Kern zu Landwirten konvertierte Jäger und Sammler. Dies stellt nun aber eine Gruppe von Wissenschaftlern um Loring Brace von der Universität von Michigan neuerlich komplett in Frage.

Sie verglichen den berechneten Schädel- und Gesichtsindex von knapp 1300 steinzeitlichen und modernen Schädelknochen aus 52 Fundorten und Populationen Europas, Afrikas, des Nahen Ostens und sogar der Mongolei. Dieser Index gilt als gute Möglichkeit, Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Völkern zu ermitteln: Je größer die durchschnittliche Übereinstimmung zwischen verschiedenen Messpunkten ist – etwa Höhe und Lage des Nasenbeins oder Breite des Schädelknochens –, desto größer scheinen die genetischen Verbindungen zwischen den einzelnen Volksgruppen zu sein. Mit dieser Methode wurde beispielsweise auch die Wanderungsbewegung asiatischer Stämme gen Nord- und Südamerika nachvollzogen und ihre Richtigkeit durch den Vergleich der entsprechenden Haplotypen der Völker bestätigt.

In Europa waren Brace und seine Kollegen nun wenig überrascht, dass alle heutigen Bewohner des alten Kontinents sich kaum voneinander unterscheiden – vom Norden Skandinaviens bis rund ums Mittelmeer, vom Atlantik bis zum Ural liegen sie in ihren Indexwerten eng zusammen. Ganz anders sieht es dagegen mit den jungstein- und bronzezeitlichen Schädeln aus, die von den Forschern vermessen wurden. Sie stehen beide praktisch in keinerlei Verbindung zu den Köpfen der heutigen Zeit: Ihre jeweiligen spezifischen Eigenschaften sind demnach mehr oder weniger völlig verloren gegangen – etwa weil sie miteinander verschmolzen.

Folglich wären die heutigen Europäer doch nicht die Fortsetzung altsteinzeitlicher Nimrode, die einzig die Landwirtschaft von den Einwanderern übernommen hatten, sich aber mit diesen nicht vermischt hätten, wie es Haak und seine Kollegen darstellen. Vielmehr betont die Konkurrenz um Brace, dass es tatsächlich zu gemeinsamen Nachwuchs zwischen den altsteinzeitlichen Jäger- und den sich wellenartig von Südost nach Nordwest ausbreitenden neusteinzeitlichen Bauernvölkern kam. Beide Gruppen verschmolzen derart miteinander, dass sie in der Folge die nun eigenständige Schädel- und Gesichtsform des "modernen" Europäers bildeten.

Während dieses Prozesses verloren sich zudem die allerletzten Knochenmerkmale, die eine Verbindung zu afrikanischen Völkern südlich der Sahara nahe legten. Die so genannte Natufien-Kultur der Levante wies diese Charakteristika noch auf, ihr Schädel- und Gesichtsindex liegt in relativer Nähe zu jenen Indices von Bewohnern aus dem Niger- und Kongo-Becken. Vom Natufien ging allerdings die neolithische Revolution aus, in der Ackerbau und Viehzucht entwickelt und Keramikgefäße zum Standard wurden – hier liegen also auch unsere bäuerlichen Wurzeln.

Auf der anderen Seite konnte sich aber auch der altsteinzeitliche Cro-Magnon-Mensch nirgendwo in Europa halten. Bislang galten die Ureinwohner der Kanarischen Inseln – die Guanchen – sowie die Basken mit ihrer sehr eigentümlichen und eigenständigen Sprache als direkte Nachfahren dieser ältesten Linie des Homo sapiens in Europa. Die Indices widerlegen dies nun jedoch. Außerdem gibt es zumindest von den Schädelmerkmalen bei beiden Völkern keine Verbindung zu den Berberstämmen des nördlichen Afrikas – eine Herkunftstheorie, die ebenfalls immer wieder vertreten wurde. Vielmehr müssen Basken und die mittlerweile ausgestorbenen Guanchen eindeutig zu den Neo-Europäern gestellt werden.

Allzu verwunderlich ist dies alles aber nicht, denn die Natufien-Kultur und ihre Protagonisten eroberten selbst noch die Mongolei, wie Brace und sein Team ermittelten. Bronzezeitliche Schädel aus dieser Region stimmen danach mehr mit europäischen und amerikanischen Köpfen dieser Zeit überein als mit jenen der heutigen Mongolen. Unsere gemeinsame europäische Ahnentafel erfährt damit eine Einengung und Weitung zugleich: Wir verlieren den Cro-Magnon-Menschen und gewinnen Verwandte in Fernost. Aber das letzte Wort in der Stammbaumforschung dürfte auch damit wohl noch lange nicht gesprochen sein.

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