Astronomie in der Tiefsee: Kosmisches Neutrino stellt neuen Energierekord auf

Es ist noch gar nicht fertig und stellt doch bereits Rekorde auf: Das Neutrinoobservatorium KM3NeT hat einen hochenergetischen Willkommensgruß aus den Tiefen des Alls empfangen. Die Detektoren, die derzeit vor der Küste Siziliens im Meer installiert werden, meldeten ein Neutrino mit einer Energie von rund 220 Petaelektronenvolt. Das ist ungefähr das 10 000-Fache der Energie, die der derzeit größte Teilchenbeschleuniger auf der Erde schafft, und ein neuer Rekord für die Neutrinoastronomie. Noch nie zuvor hat jemand ein derart hochenergetisches Neutrino beobachtet. Die Forscherinnen und Forscher der KM3NeT-Kollaboration beschreiben ihren Fund im Fachmagazin »Nature« und werten ihn erst einmal als Beleg dafür, dass überhaupt Neutrinos mit derart hohen Energien im Universum erzeugt werden können.
Nach den Photonen sind die nahezu masselosen Neutrinos die zweithäufigste Teilchenart im Universum. Sie entstehen in Kernreaktionen wie beispielsweise dem Zerfall von radioaktiven Elementen und bei Kernfusionsprozessen in Sternen. Besonders hochenergetische Neutrinos stammen aber aus den spektakulärsten astrophysikalischen Prozessen, die unser Weltall zu bieten hat. Zum Beispiel wenn ein Schwarzes Loch einen Stern zerreißt, in Supernova-Explosionen oder in aktiven galaktischen Kernen, die von einem supermassereichen Schwarzen Loch angetrieben werden. Solche kosmischen Neutrinos ermöglichen, so die Hoffnung, einzigartige Einblicke in diese hochenergetischen kosmischen Teilchenbeschleuniger.
Dazu muss aber erst einmal ein Teleskop her, das sie beobachten kann. Noch nämlich ist der ARCA-Detektor des neuen Neutrinoobservatoriums KM3NeT im Bau, er entsteht rund 80 Kilometer vor der Küste Siziliens am Meeresgrund in 3450 Meter Tiefe. Die Neutrinos haben ihren Spitznamen »Geisterteilchen« mehr als verdient. Sie wechselwirken kaum mit gewöhnlicher Materie und sind deshalb nur sehr schwer nachzuweisen. Deswegen wird ARCA nach seiner Fertigstellung ein Beobachtungsvolumen von rund einem Kubikkilometer Meerwasser haben. Das sind eine Billion Liter. Der Detektor besteht aus am Meeresboden verankerten Strängen, an denen Kugeln mit optischen Sensoren angebracht sind. Insgesamt sind 230 solcher Stränge geplant, jeder von ihnen 700 Meter lang.
Ereignis wurde bereits am 13. Februar 2023 registriert
Tritt ein Neutrino in der Umgebung des Detektors mit den Atomkernen des Meerwassers in Wechselwirkung, können dabei ultraschnelle, geladene Teilchen entstehen. Diese rasen durch das Meerwasser und erzeugen dabei Tscherenkow-Licht, das von den optischen Sensoren aufgefangen wird und so Rückschlüsse auf die Energie und Richtung des ursprünglichen Neutrinos erlaubt. Am 13. Februar 2023 waren erst 21 Stränge des ARCA-Detektors in Betrieb, als sie ein außergewöhnliches Ereignis registrierten: Ein ultraschnelles Myon mit einer Energie von rund 120 Petalektronenvolt war durch den Detektor gerast.
Auf Grund der außergewöhnlich hohen Energie und dem flachen Einfallswinkel schlossen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus, dass das Muon bei Teilchenreaktionen in der Erdatmosphäre erzeugt worden ist. Ihre Analyse ergab stattdessen, dass das Muon erst in der Nähe des Detektors entstanden ist; dort nämlich wo ein hochenergetisches kosmisches Neutrino mit einer Energie von rund 220 Petalektronenvolt mit den Wassermolekülen wechselwirkte – und die Reise abrupt endete.
Doch wo kam es her? In Frage kommen beispielsweise Blazare. Im Jahr 2018 konnte das antarktische Neutrinoobservatorium IceCube erstmals diese aktiven galaktischen Kerne als Quelle für hochenergetische kosmische Neutrinos bestätigen. Allerdings war es der KM3NeT-Kollaboration nicht möglich, unter zwölf möglichen Blazar-Kandidaten eine eindeutige Quelle für ihr Rekordneutrino ausfindig zu machen. Die relativ große Unsicherheit bei der Richtungsbestimmung mit 1,5 Grad ist vor allem dadurch bedingt, dass die genaue Ausrichtung der Detektorstränge am Meeresboden noch nicht bekannt ist. Wie die Forschenden schreiben, könne diese Unsicherheit durch künftige Messkampagnen am ARCA-Detektor auf 0,12 Grad reduziert werden.
Da auch andere kosmische Neutrinos oftmals nicht mit einer bestimmten Quelle in Verbindung gebracht werden können und die Energie dieses nun entdeckten Neutrinos so außergewöhnlich hoch ist, schlagen die Forschenden eine weitere Möglichkeit vor: Vielleicht wurde das Neutrino nicht in einem kosmischen Teilchenbeschleuniger erzeugt, sondern bei der Wechselwirkung von hochenergetischer kosmischer Strahlung mit den Photonen der kosmischen Mikrowellenhintergrundstrahlung. Der Willkommensgruß mit der offiziellen Bezeichnung KM3-230213A wird die Wissenschaftler auch weiterhin beschäftigen. Erst im regulären Betrieb des ARCA-Detektors können sie die großen Unsicherheiten bei den errechneten Teilchenenergien und der Richtungsbestimmung reduzieren und somit weitere Erkenntnisse zur Herkunft des Rekordneutrinos gewinnen.
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